Retro: Bielefeld, San Francisco und Woodstock

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concordeuser

Erfahrenes Mitglied
01.11.2011
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Hamburg
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Ein wenig Inspiration für diejenigen, die vielleicht gerade in San Francisco und der Bay Area auf den Spuren von Hippies und Flower-Power sind.

(Auszug aus einem Buchtext an dem ich gerade schreibe - Achtung Entwurf - work in progress!!!)

Der Sommer der Liebe


Im Herbst 1966, gerade fünfzehn Jahre alt geworden, sollte ich die ersten Hippies treffen. Mit der Schachgruppe der Schule war ich nach Bielefeld gefahren. Dort angekommen, sassen am Bahnhof einige Blumenkinder in bunter Kleidung und Gitarren herum. Frühe Avantgarde. Jungs mit langen Haaren und lächelnde Mädchen. Umschwärmt von aufgeregten Erwachsenen, die nur mühsam ihr Mißbehagen und ihre Aggression verbergen konnten. Sie beschimpften die Gruppe als nutzlose Gammler und verbreiteten das deutsche Mantra des das tut man doch nicht. Der übliche Mist, mit dem die Jugend der Sechziger beworfen wurde.

Immer stärker bildeten sich im Gefolge von Beatmusik und Zeitgeist eigenständige jugendliche Lebensweisen heraus, die vor allem von Distanz und Ablehnung der Welt der Elterngeneration bestimmt wurden. Schon Mitte der Sechziger, bereits vor der politischen Revolte der nachfolgenden Jahre, hatten sich soziale Bindung und Kommunikation zwischen Erwachsenen und ihren Kindern verringert. Es gab uns und sie, es passte nicht mehr zusammen. Schnell bürgerte sich für alles, das nicht mehr dem spießigen Leben der Fünziger entsprach, die Bezeichnung als jugendliche Gegenkultur ein.

Das Wort Hippie ist damals wie heute eine höchst unscharfe Beschreibung. Im engeren Sinne bezeichnet es die idealistische Lebensweise der Blumenkinder im Sommer 1967 in der Bay Area von San Francisco mit ihrer alternativen Lebensweise aus Musik, Kultur, der Verweigerung der Teilnahme am Vietnamkrieg und dem was im Internetzeitalter in anderer Form als shared economy am wiederkommen ist. Das was Toristen heute im Reiseführer lesen. Im weiteren Sinne beschrieb es die Flower-Power-Bewegung, entstanden nach einer Metapher von Bob Dylans Dichterfreund Allen Ginsberg im Jahr 1965. Und manchmal galten einfach alle dienigen als Hippies, die so aussahen, die jung waren und ihre Fesseln ein wenig abgestreift hatten.

Hippie-Sein war eine Daseinsform und eine Ideologie zugleich. Es stellte das sinnentleerte Wohlstandsdenken der Mittelschicht in Frage und versuchte die Träume einer gemeinschaftlichen Welt ohne Zwänge und Tabus zu realisieren. Hippies standen für humanere Lebensweisen und freundlichere soziale Umgangsformen untereinander. Ihr Dasein entsprach mehr einem Gefühl als der Umsetzung eines konkreten gesellschaftspolitischen Konzepts. Liebe und Blumen eben. Hippies versuchten sich an einem neuen, menschlichen Leben in San Franciscos Bezirk Haight-Ashbury und auch in Kommunen, oft in den ländlichen Gebieten Californiens.


Gebräuchlich wurde die Bezeichnung Hippies als Scott MacKenzie 1967 seinen großen Hit San Francisco (Be Sure To Wear Flowers In Your Hair) hatte, ursprünglich als ein Werbesong für das Montery Festival mit Jimi Hendrix, The Who, Simon and Garfunkel, The Mamas and the Papas und vielen anderen gedacht. Wochenlang stand dieser Song weltweit auf Platz 1 der Hitparaden. Er beschrieb das Hippieleben in San Francisco und forderte alle auf, dorthin zu kommen. Ein Megahit, der zur Hymne der Generation love and peace wurde. Hundertausende Jugendliche sollen damals nach Californien geströmt sein. For those who come to San Francisco. Summertime will be a love-in there. In the streets of San Francisco. Gentle people with flowers in their hair. Ein anderer erfolgreicher Hit, der Sogwirkung des Hippielebens verstärkte, wurde von den Flower Pot Men in die Charts gebracht. Er verkündete: Let's Go to San Francisco. Eric Burdon sang 1967 San Franciscan Nights auf seiner LP Winds of Change, eine Liebeserklärung an das San Francisco der späten sechziger Jahre.

Eine zentrale Rolle in den sozialen Umwälzungen der Sechziger spielte der Griff nach sexueller Selbstbestimmung. Ooh I need your love, babe [...] Eight days a week. Gimme some lovin. Let’s spend the night together. Songs, die Sexualität in bis dahin unbekannter Direktheit aufgriffen und ansprachen. Gab es in den fünfziger Jahren noch gruselige, einengende Regeln, die das menschliche Miteinander kontrollierten, steh auf wenn du mit einem Erwachsenen sprichst, und das Ziel verfolgten, sexuelle Aktivitäten außerhalb von Ehe, Missionarsstellung und dunkler Nacht zu unterbinden, so wurden diese Reglementierungen im Verlauf der Sechziger wie über Nacht hinweggefegt.

Heute erscheint es kaum noch vorstellbar, dass sich Neunzehnjährige sagen lassen mussten, ob sie Sex haben dürfen. Oder dass ernsthaft distutiert wurde, ob das Licht anbleiben dürfe. Oder an Unverheiratete kein Hotelzimmer vermietet werden durfte, weil dies als Straftat galt. Oder geschiedene Frauen geächtet wurden und Veganer, Homosexuelle oder Frauen nicht das Recht auf die von ihnen gewünschte eigene Lebensweise hätten. Mit der Kontrolle über den Unterleib entglitt der Elterngeneration und dem gesellschaftlichen Establishment ihr zentrales Herrschaftsinstrument über Heranwachsende. Eine wichtige Rolle spielte dabei die Erfindung der Antibabypille, die erstmals in der menschlichen Geschichte für die Freiheit stand, bewusst und unabhängig über Verhütung, Kinderwunsch und Lebensplanung selbst bestimmen zu können. Anfangs war die Pille gesellschaftlich höchst umstritten und durfte in Deutschland nur an verheiratete Frauen verschrieben werden. Pfaffen und Konservative feuerten aus allen Rohren, um sie zu verhinderten, weil es ihre gesellschaftliche Macht brach, mehr als alle anderen Veränderungendoch erfolglos. Doch schnell hatte sich herumgesprochen, welche Ärzte für Mädchen unter 21 Jahren, dem damals ofiziellen Alter für Volljährigkeit, auch ohne Erlaubnis der Eltern Rezepte ausstellten. Ende der Sechziger hatten die Mädchen um mich herum alle Zugang zu dieser Verhütungsmethode gefunden, wenn sie es dann wollten. Immer weniger ließ sich die Sexualität der Jüngeren unterdrücken und an die Ehe binden.


Das, was heute in Geschichtsbüchern die sexuelle Revolution genannt wird, zeigte den dramatischen Werte- und Verhaltenswandel in den Sechzigern und beschleunigte ihn wie Öl im lodernden Feuer. Zu dieser Zeit wanderte die Sexfront von Günter Amendt durch unsere Schülerhände, ein bekanntes fortschrittliches Aufklärungsbuch aus dem Untergrund. Es nahm die bürgerlichen Anstandsregeln aufs Korn, entlarvte die vielen Greuelmärchen, die von Erwachsenen über Sex erzählt wurden, wie von Onanie wirst du krank, und lieferte detailgenaue, mit hübschen Fotos illustrierte Handlungsanweisungen. Während herkömmliche Schriften meist aus Warnungen vor dem Bösen, vor Selbstbefriedigung, Geschlechtskrankheiten, und abschreckender Panikmache bestanden, schrieb Amendt in der Sexfront über Nähe, Zärtlichkeit, Lust und Gefühle.

Dreiundzwanzig Minuten vor Mitternacht hielt am 24. März 1969 ein weißer Rolls-Royce vor dem Amsterdamer Hilton-Hotel. Ein frisch verheiratetes Paar stieg aus, schritt erhobenen Hauptes in die Präsidentensuite und kam eine Woche lang nicht mehr heraus. Es war das Bed-in von John Lennon und seiner Frau Yoko Ono, Sex für den Weltfrieden. Das damals berühmteste Paar der Welt machte seine Flitterwochen zu einer politischen Aktion, indem es im Bett blieb und verkündete: Make love - not war! Protest gegen den Krieg, vor allem gegen den in Vietnam. Dem Reporter des kanadischen Senders verkündete Lennon, Wenn Hitler und Churchill im Bett geblieben wären, wären heute noch viele Menschen am Leben. Aus heutiger Sicht war es ein großer PR-Coup. John Lennon und Yoko Ono nutzten den Medienrummel um ihre Heirat für ihre Musik und für ihre politischen Botschaften.

Zwar brach in den Sechzigern nicht das Paradies auf Erden aus, auch wenn viele Jüngere darauf gehofft hatten, und die Welt auch nie so gewesen war, wie sie die sexuelle Doppelmoral von Kirche und Konservativen darstellten, aber viele kleine Schritte von Einzelnen führten zu einem großen Sprung in Richtung Freiheit und Selbstbestimmung des Individuums.

Wohl kein Ereignis machte die Spaltung zwischen Jung und Alt so deutlich wie das Woodstock Music and Art Festival, einem großen Open-Air-Ereignis im August 1969, angekündigt als 3 Days of Peace and Music. Die Veranstaltung wurde auf einem Farmgelände im amerikanischen Bundesstaat New York ausgerichtet, etwa siebzig Kilometer entfernt von dem namensgebenden Ort Woodstock, nahe dem sich Bob Dylan zurückgezogen hatte. Auf dem Festival spielten Ritchie Heavens, Melanie, Arlo Guthrie (der Sohn von Bob Dylans großem Vorbild, Joan Baez, Santana, John B. Sebastian, Canned Heat, The Grateful Dead, Creedence Clearwater Revival, The Who, Jefferson Airplane, Joe Cocker, Janis Joplin, Ten Years After, Crosby Stills, Nash & Young, um einige der Musiker zu nennen.

Während die Veranstalter mit etwa 60.000 Besuchern rechneten, machten sich eine Million Jugendliche auf den Weg, von denen lediglich die Hälfte das Festivalgelände erreichen konnte. Dort herrschten chaotische Zustände, nach dem die Organisation wegen der großen Teilnehmerzahl zusammengebrochen war und wegen des schlechten Wetters. Dennoch blieb die Stimmung friedlich. Ein Kinofilm und ein Dreifachalbum verbreiteten den Mythos der Woodstock Nation über den Globus. Das vielleicht intensivste Stimmungsbild kreierte Jimi Hendrix, als er am Ende des Festivals mit dem allerletzten Song die amerikanische Nationalhymne auf seiner E-Gitarre zerhackte und ein Abbild der im andauernden Vietnamkrieg zerrissenen USA schuf.

1969 hatte sich die Kulturrevolution der Jüngeren in Deutschland weitgehend durchgesetzt, sogar an meiner Schule. Auch diese Festung der lebenden Toten war gefallen und hatte sich in weniger als einem Jahr vollständig verändert. Wir hatten gesiegt, anders kann es nicht beschrieben werden. Die Lehrer mit der Nazivergangenheit verschwanden nach und nach, während unser Aussehen nicht wiederzuerkennen war. Die Hitlerhaarschnitte gab es nicht mehr, kein Schüler musste sich mehr an den Nackenhaaren oder an Ohren rasieren lassen. Wie in den Klischees über die späten Sechziger und frühen Siebziger oft dargestellt dominierten richtig lange Haare und Bärte, dazu Jeans, Parka und Lammfelljacken. Viele trugen Peace-Ketten um den Hals und lebten die Buntheit dieser Zeit. Auf dem Schulhof gab es Haschisch zu kaufen, so wie vermutlich an jedem Hamburger Gymnasium.

Tief tauchte ich in die Jugendkultur ein. 1967/68 entstanden in Hamburg viele Treffpunkte für Jüngere wie der Republikanische Club in der Rothenbaumchaussee nahe der Universität. Dort lebten Gegenkultur und politische Aktivitäten. Mehr als eine Nacht habe ich dort verbracht und manchmal in meinen Klamotten auf einer Bank geschlafen. Am nächsten Morgen bin ich wieder zum Unterricht gefahren, schließlich sollte ich etwas werden. Ein weiterer lokal bekannter Treffpunkt war die Kneipe Gewinde im Karolinenviertel, lange Zeit berühmt und berüchtigt. Nach Anbruch der Dunkelheit wurden Normal-Acht-Filme von Laurel und Hardy, Micky Mouse, Charlie Chaplin oder alte Wochenschauen auf eine vergilbte Wand projiziert. Im Gewinde habe ich meine ersten Spaghetti Bolognese gegessen. Mit sechzehn entdeckte ich kulinarisch viel Neues wie eben Spaghetti Bolognese, Pizza oder Croque Monsieur. Derartiges kannte aus der engen Umgebung der deutschen braunen Soßen nicht. Verändert hatten sich nicht nur unsere Frisuren, sondern unsere gesamte Lebenskultur. Oft gehörte auch eine Flasche Valpolicella für 1,99 DM aus dem Supermarkt dazu.

Andere Treffpunkte waren das Institut Toulouse-Lautrec, die Bambi Stuben am Hauptbahnhof und ein Kellerloch mit Namen Kanister am Rödingsmarkt, das La Paiz, dort wo heute am Dammtor-Bahnhof das bekannte Elyssee Hotel steht oder das Remter, in meine Freundin an einem Abend öffentlich Lieder zur Gitarre gesungen, allerdings ohne dauerhaften Erfolg. Es waren Orte, an denen wir uns wohl fühlen und ohne soziale Kontrolle oder Repressionen aufhalten konnten. Mit einem Schulfreund und seiner Schwester bin ich manchmal nachts zur Blockhütte gefahren, einer Folklore-Kneipe auf St. Pauli, umrahmt vom Rotlicht-Milieu, um Live-Musik zu hören, unweit des Star Clubs, wo die Karriere der Beatles begann. Jungs und Mädchen mit großen Augen in ernsthaften Gesichtern sangen Folklore aus Irland, England, Schottland, dazu coverten sie die Folksongs von Joan Baez, Bob Dylan und den vielen anderen. Und eines Nachts war ich den Gewölben der Discotheque Tagomago derart betrunken, dass ich den Ausgang nicht mehr finden konnte. So wie in Hamurg entstand in fast allen größeren Städten eine eigene Infrastruktur des jugendlichen Lebens.

Einen Sommer lang fuhren meine Eltern regelmäßig mit meiner Schwester an den Wochenenden nach Fehmarn, wo sie einen entfernten Verwandten entdeckt hatten. Ich hatte dann jedes Mal für zweieinhalb Tage unsere Wohnung für mich allein. Mehrfach lud ich meine Freunde aus der Basisgruppe ein, und wir sahen uns alte 8mm-Filme an. Sie hatten Titel wie Mit den Kindern an der Ostsee oder Italien-Urlaub 1958. Mein Freund Wolfgang stellte die filmischen Erinnerungen seiner Familie aus den Fünzigern und frühen Sechzigern zur Verfügung. Obwohl nur wenige Jahre vergangen waren, löste der Rückblick ungläubiges Lachen aus. Nächtelang saßen wir herum und hörten Bob Dylan, Leonard Cohen oder schmutzige Songs der Rolling Stones von Exile on main street, ihrem Meisterwerk. Dazu tranken wir Unmengen von billigem Rotwein und schossen uns ab.

Heute werden die früheren politischen Aktivisten in meinem Land 68er genannt. Nicht selten mit dem Hinweis versehen, sie seien doch nur eine zahlenmäßige Minderheit gewesen, doch dies führt zu einer irrelevanten Scheindebatte. Die Sechziger waren wir alle, jeder Einzelnen stand unter Einfluß. Wie einer der größten Songs der Sechziger verkündet hatte, die Zeiten hatten sich geändert. Als am 1.1.1970 das neue Jahrzehnt begann, war die Welt eine andere. For the countless confused, accused, misused, srung-out ones and worse, and for every hung-up person in the whole wide universe. We gazed upon the chimes of freedom flashing. (Bob Dylan - Literaturnobelpreis 2016))
 
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kingair9

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18.03.2009
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Unter TABUM und in BNJ
Jedes Jahrzehnt bzw. seine "Generation" hat seine Highlights. Ich bin offensichtlich circa 20 Jahre jünger, denn meine Zeit des "16 Jährigen Entdeckens" war Mitte der 80er.

Open Air Konzert von Spandau Ballet am Strand von Boulogne vor der untergehenden Sonne.
Samstag Abend letzter Flug nach Frankfurt, nachts im Dorian, Frühflug nach Hause.
Oberstufen-Klassenfahrten nach Freiburg und Berlin mit entsprechenden Streifzügen durch Bhagwan-Diskos

Wir profitierten von der geistigen Freiheit, die uns die Gleichalterigen Ende der 60er erkämpft hatten.
 
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rotanes

Erfahrenes Mitglied
01.06.2010
7.016
5
HAM
Ich habe ein "Danke" gegeben - trotzdem bleibt für mich die Frage offen, wie denn die weitere Entwicklung von einem Basisgruppen-Mitglied zu einem Concorde-Flieger funktioniert...
Ich kenne einige Menschen in meinem Umfeld, die solche 180-Grad Kehren vollbracht haben und wundere mich immer wieder erneut.
 
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