Übel wie das Gericht hier argumentiert: "hätte wissen müssen" ist völlig nichtssagend und wird der maßgeblichen konkreten Situation und der sich darin befindlichen konkreten Person und ihrem "Wissensstand" nicht gerecht.
Ich versuche mal zu erklären, wie sowas vom juristischen Standpunkt aus gesehen wird (womit ich nicht sagen will, dass ich das Urteil richtig finde).
"Hätte wissen müssen" kennzeichnet Fahrlässigkeit. Das ist bis hierhin aus Sicht des Gerichts folgerichtig, da der Fluglotse wegen fahrlässiger Störung des öffentlichen Verkehrs verurteilt worden ist.
Art. 12 des schweizerischen StGB lautet insoweit:
Fahrlässig begeht ein Verbrechen oder Vergehen, wer die Folge seines Verhaltens aus pflichtwidriger Unvorsichtigkeit nicht bedenkt oder darauf nicht Rücksicht nimmt. Pflichtwidrig ist die Unvorsichtigkeit, wenn der Täter die Vorsicht nicht beachtet, zu der er nach den Umständen und nach seinen persönlichen Verhältnissen verpflichtet ist.
Quelle:
https://www.admin.ch/opc/de/classified-compilation/19370083/index.html#a12
Ich (als juristischer Laie) bin erschrocken, ob der zitierten Aussagen des schweizer Oberrichters:
Der Taterfolg wäre der Unfall gewesen.
Das ist in der Tat nicht nachvollziehbar, jedenfalls aus Sicht des deutschen Rechts.
Art. 237 des schweizerischen StGB besagt:
1. Wer vorsätzlich den öffentlichen Verkehr, namentlich den Verkehr auf der Strasse, auf dem Wasser oder in der Luft hindert, stört oder gefährdet und dadurch wissentlich Leib und Leben von Menschen in Gefahr bringt, wird mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder Geldstrafe bestraft.
Bringt der Täter dadurch wissentlich Leib und Leben vieler Menschen in Gefahr, so kann auf Freiheitsstrafe von einem Jahr bis zu zehn Jahren erkannt werden.
2. Handelt der Täter fahrlässig, so ist die Strafe Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder Geldstrafe.
Quelle:
https://www.admin.ch/opc/de/classified-compilation/19370083/index.html#a237
Die vergleichbare Vorschrift im deutschen Strafrecht ist § 315 StGB (Gefährliche Eingriffe in den Bahn-, Schiffs- und Luftverkehr):
(1) Wer die Sicherheit des Schienenbahn-, Schwebebahn-, Schiffs- oder Luftverkehrs dadurch beeinträchtigt, daß er
1. Anlagen oder Beförderungsmittel zerstört, beschädigt oder beseitigt,
2. Hindernisse bereitet,
3. falsche Zeichen oder Signale gibt oder
4. einen ähnlichen, ebenso gefährlichen Eingriff vornimmt,
und dadurch Leib oder Leben eines anderen Menschen oder fremde Sachen von bedeutendem Wert gefährdet, wird mit Freiheitsstrafe von sechs Monaten bis zu zehn Jahren bestraft.
(2) Der Versuch ist strafbar.
(3) Auf Freiheitsstrafe nicht unter einem Jahr ist zu erkennen, wenn der Täter [...]
(4) In minder schweren Fällen des Absatzes 1 ist auf Freiheitsstrafe von drei Monaten bis zu fünf Jahren, in minder schweren Fällen des Absatzes 3 auf Freiheitsstrafe von sechs Monaten bis zu fünf Jahren zu erkennen.
(5) Wer in den Fällen des Absatzes 1 die Gefahr fahrlässig verursacht, wird mit Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren oder mit Geldstrafe bestraft.
(6) Wer in den Fällen des Absatzes 1 fahrlässig handelt und die Gefahr fahrlässig verursacht, wird mit Freiheitsstrafe bis zu zwei Jahren oder mit Geldstrafe bestraft.
Quelle:
https://www.gesetze-im-internet.de/stgb/__315.html
Dabei handelt es sich um ein sogenanntes konkretes Gefährdungsdelikt, für dessen Verwirklichung bereits die Gefahr eines Unfalls ausreichend ist.
Nach diesem Artikel aus der NZZ
https://www.nzz.ch/zuerich/9-dramat...tartabbruchbefehl-der-zu-spaet-kam-ld.1444357
wurde der Fluglotse nicht wegen der Startfreigaben verurteilt, sondern wegen erst mehrere Sekunden nach dem Aufscheinen von Warnungen angeordneten Startabbruchs. Sofern nach schweizerischem Recht für Gefährdungsdelikte ähnliche oder gleiche Grundsätze wie in Deutschland gelten, ist es aus Sicht des Gerichts konsequent gewesen, dass der zwei Sekunden vorher von einer Crew eingeleitete Startabbruch als unbeachtlich angesehen worden ist, da vorher für mehrere Sekunden wegen der gleichzeitigen Startfreigaben die Gefahr eines Unfalls bestanden hat.
Der Lotse kannte die Möglichkeit des Taterfolgs nicht - ergo kein "Vorsatz". Jetzt bleibt nach höchstrichterlicher Rechtssprechung eigentlich nur noch "unbewusste" Fahrlässigkeit.
Nur wenn der Lotse gewusst haette, dass ein Schaden eintreten kann, wäre die Frage nach seinem Willen, nämlich billigen oder nicht-billigen zu stellen.
Das ist bei Gefährdungsdelikten etwas komplizierter. Es ist zu unterscheiden zwischen schuldhaftem (= fahrlässigem oder vorsätzlichem) Handeln in Bezug auf die Tathandlung einerseits und hinsichtlich der Herbeiführung der Gefahr andererseits. Wie an dem obigen Beispiel zum deutschen Recht zu erkennen ist, gibt es die Kombinationen Vorsatz/Vorsatz, Vorsatz/Fahrlässigkeit und Fahrlässigkeit/Fahrlässigkeit.
Für das schweizerische StGB stellt sich die Frage, die ich nicht beantworten kann, worauf sich "Handelt der Täter fahrlässig, ..." bezieht. Nach deutschem Recht würde sich diese Formulierung nur auf die Tathandlung, aber nicht auf die Herbeiführung der Gefahr erstrecken, was zu dem Ergebnis führen würde, dass nur die Kombinationen Vorsatz/Vorsatz und - denklogisch kaum vorstellbar - Fahrlässigkeit/Vorsatz strafbar wären.
Weil es wichtig ist, das solche Vorfälle ohne Angst vor Strafe aufgearbeitet werden können. Unter der Vorraussetzung, dass niemand zu Schaden gekommen ist und kein Vorsatz bestand - wie hier. [...]
Dieser Ansatz scheitert allerdings daran, dass in diesem Bereich auch fahrlässiges Handeln ohne Schadenseintritt strafbar sein kann, so dass die Staatsanwaltschaft keine andere Wahl als die Einleitung eines Ermittlungsverfahrens bei Erlangung der Kenntnis vom Sachverhalt hat.