Fly with me to the North, Teil 2: Notizen über den Zaren

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west-crushing

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03.08.2010
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0. Prolog

Ein kleiner, nur 24-stündiger Teil einer Reise, ließ mich kürzlich an ein älteres Projekt meinerseits zurückdenken, den Norden zu besuchen, auch wenn dem geneigten Leser der geographische Zusammenhang etwas weit hergeholt scheinen mag. Immerhin - auch die Hauptstadt der alten und des neuen Zaren liegt von vielen Punkten Europas aus gesehen nördlich und bitterkalt ist es im Winter auch, wie damals schon ein kleiner, größenwahnsinniger Franzose feststellen durfte. Der Berichterstatter, so möge der geneigte Leser vernehmen, sehnte sich schon lange danach, das Zarenreich einmal persönlich zu sehen - und so reifte der Entschluss, die bürokratischen Mühen nicht zu scheuen und bei der Zarenvertretung um Einlass zu ersuchen.

Bevor wir voranschreiten, der Berichterstatter tatsächlich, der Leser hoffentlich möglichst plastisch, sei noch auf den Prolog vorerwähnten älteren Reiseberichts verwiesen. Er weist aus, was diese Notizen bieten können, vor allem aber auch, was nicht. So möge sich niemand seiner Zeit beraubt und in seinem Geschmack verwirrt sehen.




Inhaltsverzeichnis

1. Schweizer Hitze
2. Irgendetwas mit Ih Ha Ge
3. Rein in den Trubel
4. Zarenvorplatz
5. Die Rechte des Herrn ist erhöht, die Rechte des Herrn behält den Sieg
6. Der Zar
7. Ein letzter Abstecher
8. Abschied
 
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west-crushing

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1. Schweizer Hitze

Es ist warm, ja heiß geradezu - und das Einkaufszentrum mit angeschlossenem Bereich für Metallröhren der schweizer Möchtegern und manchmal auch de facto Hauptstadt präsentiert sich einmal wieder in seinem neuen Gewand. Lang vergangenen sind die effizienten Zeiten vergangener Tage.

So verharre ich mit vielen anderen Erd- und Weltbürgern lange Zeit vor einer Absperrung, kommt es doch für die Schweizer Grenzer - in bester bundesdeutscher Manier - völlig überraschend, dass für die im Non-Schengen Bereich stehenden Metallröhren auch Passagiere vorhanden sind.

LX1326
operated by Swiss International Airlines
Flughafen Zürich Kloten - Moscow Domodedovo Airport
12:20 - 16:45 (actual: 12:36 - 16:49)
A320-200 | HB-IJM "Richterswil"

Eine Weile später, der Eidgenosse tischt auf:

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Gar nicht mal so übel. Hätte ich eine ebenfalls kurzzeitig in Betracht gezogene Metallröhrenbetreiberin namens Sabena, oder so ähnlich, gewählt, wäre dieser Tisch jetzt leer.

Wir landen an einem Abstellplatz für Metallröhren mit angeschlossenem Flughafen - das Herz des Metallröhrenfans schlägt höher.

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Die vom Zaren gestellte Grenzanlagenbewachungsbeamtin schaut mit ihren strahlenden Augen streng: Auf die von ihr vorgetragene Erkundigung: „Where are you from?“ war ein - ob des gerade übergebenen Reisedokuments - fragend stirnrunzelnder Blick des Berichterstatters und ein dahingenuscheltes „äh … Germany“ nicht die richtige Antwort auf die 100 € Frage. Antwort B „Zürich“ wäre es gewesen, wie ich sofort belehrt wurde. Nach der folgenden, ausführlichen Betrachtung jedes Eintrages meines Reisedokumentes durfte ich das Zarenreich betreten - und stellte fest: der beworbene Aeroexpress fährt pünktlich und bequem wie angepriesen. Kann der Eidgenosse nun etwa schon vom Zaren lernen?
 
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2. Irgendetwas mit Ih Ha Ge

Irgendwie führen alle Wege immer mal wieder nach Rom oder wie es der werte Mitinsasse Mr. Hard einmal plastisch rheinisch formulierte: „Wo willste denn sonst hingehen?“ Ein überzeugend vorgetragenes Angebot namens „Beschleunigung Q2“ tat sein Übriges – Holiday Inn Express Moskau Paveletskaya:

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Neu, modern, freundlich - und Gäste mit Statusweihen kommen hier wohl kaum vorbei. So ist schon der Berichterstatter als unbedeutender goldener Edelmetall-Kunde ein Star: später auschecken, vielleicht erst um 3? „Of Course, Sir!“
 
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3. Rein in den Trubel

Ein Hotel ist ein Hotel ist ein Hotel, wie golden oder modern es auch glänzen mag. Also hinaus, hinein in den Trubel des Zarenreichs - welcher Trubel? Weite, prächtige Alleen erwarten einen, Abgase der Modernität wabern über ihnen. Gemächlich und nur Beischmuck die Fußgänger am Straßenrand; die Weite der Straßen, die Dichte der Bebauung verschluckt sie.

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Statuen, Statuen mögen die Herrscher Moskaus besonders:

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4. Zarenvorplatz

Die Weite der Straßen, die Pracht, sie fesselt, sie scheint - manchmal auch mehr vorzugeben, als sie beinhaltet -, sie lässt den Spaziergänger aber auch wandern, versinken und schließlich vom Weg abkommen. So fand ich mich etwas ungeplant schon am Abend am berühmten Platz ein, der getauft nach der Farbe einiger ihn umringenden Mauern und Gebäude, ein roter ist.

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Am Rande lässt sich Platz nehmen, die Schönheit, die Furcht, auch die mit einem „Ehr-“ vorangestellt, die Leichtigkeit und auch die Schwere, die Langmut, alle sind sie gemeinsam hier versammelt.

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Leicht sind die Menschen, sie staunen, sie toben, sie lassen die Atmosphäre entstehen und sich treiben. Ich beobachte sie alle, die ausgelassenen Kinder, die geschäftigen Verkäufer, die eilenden Anzugträger, die Trinker, die Träumer, das verliebte Paar. In die untergehende Abendsonne getaucht erstrahlt der ganze Platz in seinem eigenen Licht, in seiner eigenen Art.

Die Schwere, die Erinnerung an die Last und die Unbarmherzigkeit, die Entmenschlichung - auch sie ist hier präsent. Entlang der roten Kremlmauer sind sie aufgereiht: die Ehrenmäler für gescheiterte Ideen und Mörder. In einem Moment des schwermütigen Langmuts und der vernünftigen Erkenntnis, den nur der Zar als westliche Überlegenheitsvorstellung charakterisieren würde, denke ich bei mir: Kein Wunder, dass die aufklärerische Idee des Fortschritts, der Verbesserung menschlichen Lebens durch Vernunft und Wissenschaft, humanistisch dem Individuum zugewandt, den Sieg davongetragen hat.

So sitze ich noch eine Weile, sehe die Basilika wie eine dekorierte Süßware vor mir - und der Tag klingt aus.

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5. Die Rechte des Herrn ist erhöht, die Rechte des Herrn behält den Sieg

Unweigerlich muss ich denken, an die wortgewaltige Prophezeiung des 118. Psalms, als ich sie gewaltig vor mir sehe, dem tristen, fast nieseligen Grau trotzend, das die Sonnenstrahlen des gestrigen Abends abgelöst hat: Alles überragend, die wieder erbaute Christi-Erlöser Kathedrale. Bis an die Spitzen verziert und dekoriert ist der kreuzförmig angelegte Innenraum.

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Drinnen herrscht Gottesdienst in seiner orthodoxen Form, also dem endgültigen Sieg der Form über den Inhalt. Bänke sucht man vergeblich, die Gläubigen stehen und huldigen andächtig dem Vortrag ihrer Geistlichen. Ein neumodischer Wahnsinn wie Fotografie ist im Inneren nicht gestattet - doch dem geneigten Leser sei versichert, er würde, so er das Wagnis des Betretens des Kolosses in Kauf nimmt, vom Prunk und Golde erschlagen. Die russische Orthodoxie - sie feiert sich und nur sich selbst als einzig wahrer Ritter des Christentums, hält man doch nicht nur, gleich den Katholiken, Protestanten für Ketzer, nein, auch Herr Bergoglio hat in Russland Einreiseverbot und seinen bischöflichen und priesterlichen Mitstreitern lässt die orthodoxe Kirche, eng mit der Staatsmacht verbandelt, regelmäßig die Einreise verweigern.


Erschlagen und doch beeindruckt mache ich mich auf zu einem kleinen Spaziergang am Flussufer entlang, im trüben Grau, auf dem Weg zum Zaren.

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6. Der Zar

500 Rubel Eintritt verlangt der Zar vom Ausländer, um sein Prachtstück zu sehen. Und monumental ist es wahrlich. Man erwartet geradezu, dass der Zar selbst, oder doch wenigstens einer seiner Spione, aus einem der vielen Fenster auf ein herunterblickt.

Ob der fehlenden Einheimischen sucht man die Atmosphäre des roten Platzes etwas vergeblich, ich bin umringt von alles ergreifenden – meist chinesischen – Horden. Das touristische Moskau, hier ist es vollkommen.

Möge das beschränkte Wort, ob der Monumentalität, dem Amateurbilde auf das Kremlinnere weichen:

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Ob eines gehäuften Betretens verschiedener Metallröhren in den letzten Tagen konnte ich die beiden abschließenden Teile noch nicht ganz fertigstellen. Ich hoffe, diese kurzfristig hinzufügen zu können.
 
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27.03.2013
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Schöner Bericht, vielen Dank...

Der Rote Platz heisst übrigens nicht so wegen der roten Gebäude drumherum. Denn eigentlich waren die dortigen Häuser früher gar nicht rot, sondern überwiegend weiss. Krasny im russischen bedeutet rot, hat aber auch eine Konnotation zu schön/prachtvoll.
 
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Ein Bericht, geschrieben so leicht und fluffig wie die Sahne auf einem zaristischen Schokopudding ist immer ein Genuss.


Schöner Bericht, vielen Dank...

Merci, wie der schweizer sagen würde, für die überaus freundlichen Kommentare!

Der Rote Platz heisst übrigens nicht so wegen der roten Gebäude drumherum. Denn eigentlich waren die dortigen Häuser früher gar nicht rot, sondern überwiegend weiss. Krasny im russischen bedeutet rot, hat aber auch eine Konnotation zu schön/prachtvoll.

Interessant, dieser Fakt war an mir vorbeigegangen. Man lernt nie aus. Auch das von mir sonst über alle Maßen geschätzte Merian Heft wies hierauf nicht hin (auch wenn es im Falle Moskaus schon von 2002 ist, aber das sollte ja bei solch historischen Fakten egal sein.

Da mir die Formulierung aber noch gefällt und irren menschlich ist, lasse ich den Fehler mal so stehen, wie er ist. Immerhin bin ich im Moment des Auf-dem-Platz-Sitzens ja davon ausgegaangen, dass die Namensgebung auf die Farbe der Gebäude zurückzuführen ist ;)
 
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7. Ein letzter Abstecher

sollte es werden, kurz vor dem Rückweg. Im Areal um die Kirche der Ikone „Freude aller Leidtragenden“, deren Name mir so gut zu dieser Stadt zu passen scheint, herrscht mittags hektische Betriebsamkeit und Moskau zeigt sich von seiner bunten und menschlichen Seite. Geschäftsleute, Schüler, Hausfrauen, alte Männer mit Bierflaschen, Halbstarke und auch Touristen wuseln durcheinander:

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8. Abschied

Und schon war es wieder Zeit, diese monumentale, ansteckende, beängstigende und verwirrende Stadt zu verlassen.

Erneut funktioniert der Aeroexpress pünktlich wie beworben und nach einer weiteren, ausführlichsten Begutachtung meines Reisedokumentes nebst Ermittlung, ob ich trotz meiner erst gestrigen Anreise tatsächlich schon heute wieder flüchte, entließ mich die Beauftragte des Zaren in die Tristesse, die das internationale Terminal in Domodedovo ist.

BA235
operated by British Airways
Moscow Domodedovo Airport - London Heathrow Airport
18:10 - 20:20 (actual: 18:20 - 19:38)
B787-9 | G-ZBKL


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Der Brite bietet auf dem Weg nach Heathrow etwas an, was er Club Welt nennt. Erstaunt nimmt der Beobachter diese Namensgebung zur Kenntnis, hielt sich eine Vielzahl von Briten doch schon für den Club Europa für zu eigenbrötlerisch. Ich sinke in den Sitz, der bei niedriger Auslastung und ohne Nachbarn plötzlich auch für Alleinreisende geeignet ist und nehme als Metallröhrenfan befriedigt zur Kenntnis, dass der Brite mir für diese kleine Beförderung nicht nur ganze 140 irgendwelcher Punkte gutschreiben will, sondern auch etwas bietet, das wohl zur Befüllung des Magens gedacht ist.

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Und so denke ich noch einmal zurück an den Besuch in der Stadt, über die ein - wie der Zar ganz zu einer neuen Härte gehörender- Sänger schon einmal wusste: „Sie ist alt und trotzdem schön, ich kann ihr nicht widerstehen. Pudert sich die alte Haut, hat sich die Brüste neu gebaut. Sie macht mich geil, ich leide Qualen. Sie tanzt für mich, ich muss bezahlen, sie schläft mit mir, doch nur für Geld. Ist doch die schönste Stadt der Welt."
 
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Mit etwas Verspätung konnte ich nun die letzten Korrekturen vornehmen, das Inhaltsverzeichnis hinzufügen und den Bericht fertigstellen.