Tour d‘ex-USSR: Zum Ende und ins Herz der Welt

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Hene

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27.03.2013
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Nachdem ich meinen ersten Reisebericht (nach Eritrea) hier im Forum vor Jahren nie zu Ende geführt habe (Asche auf mein Haupt) werde ich nun einen zweiten Versuch starten. Es ging vor Kurzem an einige der eindrucksvollsten Orte der ehemaligen Sowjetunion. Lasst Euch überraschen. Leider kein live Report, aber hoffentlich dafür vollständig. Mehr in Kürze...
 

Hene

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27.03.2013
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Prolog:

Eine Reise in den russischen Fernen Osten, genauer nach Kamtschatka, rangierte lange Jahre ganz oben auf meiner Wunschliste. Zehn Zeitzonen von Mitteleuropa entfernt erstreckt sich zwischen Ochotskischem Meer und Beringsee diese größte russische Halbinsel entlang des Pazifischen Feuerrings. Als nordöstliche Fortsetzung der japanischen Inseln ist auch Kamtschatka reich an Vulkanen (nach russischer Einordnung sind es ca. 30 aktive, auch der höchste Vulkan Asiens ist hier zu finden), Geysiren, Fumarolen und seismischer Aktivität jeglicher Art. Kamtschatka ist auch für viele Russen ein Sehnsuchtsziel, nicht nur aber vor allem aufgrund der gemeinhin als besonders wild geltenden Natur: Die Halbinsel hat die stabilste Braunbärenpopulation der Erde (ca. 30.000), damit kommt grob auf 10 menschliche Bewohner ein bäriger.

Hohe Flugpreise und ebenso hohe Lebenshaltungskosten hielten mich bisher von einer Reise ab. Im Oktober nutzte ich jedoch die Chance eines Angebots bei Aeroflot. Zum absoluten Minimalpreis auf der Strecke von ca. 330 Euro (immerhin ein 8,5h Flug) buchte ich ein Returnticket SVO-PKC für Ende Juli bis Anfang August 2018. Die +1 (trotz verwandtschaftlicher Beziehung ins ehemalige Riesenreich) hatte leider nicht soviel Lust auf großes Abenteuer, Moskitowolken, Nieselregen im Hochsommer und Bären-Rabatz ums Zelt herum, deshalb blieb es bei einer Solounternehmen. Über das russische soziale Netzwerk VK organisierte ich mir jedoch eine Platz in einer russischen Wandergruppe, mit der es für eine Woche in den tiefen Süden der Halbinsel zum Kurilensee gehen sollte. Damit war auch die sich sorgende +1 beruhigt. Zur Positionierung nach MOW buchte ich im Februar TXL-SVO auf MIAT hinzu.

Direkt im Anschluss an die geplanten Kamtschatka-Reisedaten ergab sich dann noch eine Konferenzteilnahme in Bischkek, Kirgistan, die ich mit Freuden in mein Itinerary einbaute. Um nicht nur dienstlich nach Zentralasien zu 'müssen', gönnte ich mir im Anschluss an Bischkek noch ein paar Urlaubstage in Usbekistan. Genauer gesagt, sollte es in die Autonome Republik Karakalpakstan gehen, einigen hier sicher als trostlose und vom ausgetrockneten Aralsee besonders gebeutelte Region ein Begriff. Ich hatte im Westen Usbekistans allerdings andere Pläne, aber dazu später mehr. Morgen geht's hier los mit dem Bericht...
 

mainz2013

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18.09.2013
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Bin sehr gespannt auf deinen Bericht. Da werde ich in Persona nie hinkommen. Aber virtuell mit dir! Danke!! :)
 
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Hene

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27.03.2013
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1.Tag

Am letzten Freitag im Juli ging es endlich los auf die lang erwartete Reise in den Fernen Osten. Als Freund von Mehrtagestouren durch unzugängliches Terrain hatte ich sämtliche Ausrüstung für Kamtschatka bereits im Schrank incl. leichtem Expeditionszelt, Trekkingküche und nochmal mit neuen Daunen nachgefüllten Schlafsacks. Da es im Anschluss an mein Kamtschatka-Abenteuer gleich am nächsten Tag ex-SVO gen FRU und von dort weiter gen Taschkent und Nukus gehen sollte, war neben warmen Sachen, Wanderstiefeln samt Gamaschen usw. Auch leichte Sommerkleidung angesagt. Ich entschied mich für eine Kombi aus Koffer (in meinem Fall ein uralter Rimowa Silver Integral) und 50l Trekkingrucksack sowie einem klein zusammenfaltbaren Daypack, die ich jeweils wahlweise als Handgepäck nutzte.

Abflug ex-TXL von OM136 war für 14.55 gescheduled, ich fand mich pünktlich zwei h vorher im Terminal C ein. An den zwei offenen Schaltern vor mir hatten sich bereits lange Schlangen aus in die Heimat fliegenden Mongolen und auch einigen Russen mit reichlich Gepäck gebildet. Glücklicherweise wurde spontan ein weiterer Schalter geöffnet und ich war schnell genug dort. Dem Gedränge entwischt, stellte ich fest, dass der Flieger aufgrund später Ankunft mit 90min. Verspätung rausgehen sollte. Ich machte es mir am Gate C89 mit einem Buch bequem. Um ca. 16.30 begann das Boarding für die B767.



Gebucht auf Exit Row konnte der Flug beginnen. Obwohl ich öfter schon in der Mongolei war mein erster MIAT Flug. Eine ganz vernünftige Y muss ich sagen, ganz genießbares Essen, Wein und Bier, klitzekleine Bildschirme mit minimaler Filmauswahl. Was braucht es mehr auf einem 2,5h Flug?

Gegen 19.30h Ortszeit flogen wir in SVO ein. Die Passkontrolle verlief rasant, mein Koffer war nach fünf min. auf dem Band und ich machte mich auf dem Weg zum Aeroexpress, der SVO in 45min. effizient und pünktlich für 500 RUB (420 bei Buchung über die App) mit dem Weißrussischen Bahnhof verbindet. Dort traf ich meine Gastgeber, ein befreundetes Pärchen von der +1 und mir, typische Mittelstands-Moskauer mit Managementpositionen in einem Telekommunikationskonzern. Wer sich von dieser Reise Hotelrezensionen erwartet, wird leider enttäuscht werden. Ich kam fast überall privat bei Freunden unter.

Nach einigem leckeren georgischen Abendessen ging es noch für eine Runde zu Fuss durchs nächtliche Moskauer Zentrum. Ich war über die Jahre (vor allem kurz nach Jahrtausendwende) ca. 20-25mal in der russischen Hauptstadt und was soll ich sagen: Sie hat sich vor allem in den letzten Jahren sehr zum positiven gewandelt, ist eine richtig freundliche Großstadt geworden mit teilweise (natürlich vor allem im Sommer) fast südländischem Charme und auch weit nach Mitternacht noch viel jugendlichem Leben. Die Hipsterisierung ist weit fortgeschritten: Craft Beer fliesst an jeder Ecke aus dem Hahn und Burger/Steak-Restaurants dominieren, hier das Fleischrestaurant mit der klaren Ansage "kein Fisch" im Namen:



Dennoch ist und bleibt es Moskau: Mir kam dieses nette Lied dereinst hochpopulären Beatmusikband Bravo in den Sinn:

 
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Hene

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27.03.2013
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2.Tag

Nach dem Ausschlafen und Eierkuchenfrühstück ging es per Taxi (u.a. bieten die App YandexTaxi recht vernünftige Tarife) mit kurzem Abstecher in meinen Lieblingsbuchladen Biblio-Globus an der Lubljanka zum neuen, erst Ende 2017 eröffneten Park Zayardye.



Der gut besuchte Park nur wenige Schritte vom Roten Platz entfernt, ersetzt das Hotel Rossija, bis zu seinem Abriss das größte Hotel Europas mit mehr als 3000 Zimmern. Ich war selbst noch im Jahr 2002 zu einem großen Showkonzert im kolossalen Konzertsaal des Rossija. Sehr erfreulich zu sehen, dass die riesige Freifläche nicht zum Spekulationsobjekt geworden ist!





Herzstück des Parks ist die über der Moskva schwebende Aussichtsplattform mit atemberaubenden Blick auf den Kreml auf der einen Seite und eine der 'Sieben Schwestern', die markanten stalinistischen Hochhäuser Moskaus, auf der anderen.





Daneben gibt es ein Amphittheater mit ebenfalls tollem Blick, ein Konzertsaal und verschiedene andere Rekreationseinrichtungen. Man kann aber auch einfach auf der Wiese liegen und dem Treiben zuschauen. Ich war begeistert.



Nach mehreren Stunden im Park war es Zeit für ein spätes Mittagessen am Neuen Arbat. Dann ging es für mich zum Park Life Festival im Gorkij-Park. Die isländische Band Kaleo spielte im leichten Sommerregen ein Konzert. Headliner waren jedoch die Gorillaz. Jäh beendet von einem Gewitterregen epischen Ausmaßes, der die Bühne flutete:


Nass bis ins Knochenmark trat auch ich den Heimweg an.
 

Hene

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27.03.2013
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3. Tag

Wieder ewig gepennt. Nach der heftigen Gewitterdusche auf dem Festival hatte ich mich nachts zuvor doch nochmal in Schale geworfen und war mit meinem Gastgeber und drei Freunden ins Moskauer Nachtleben aufgebrochen. Zunächst ging es in die Noor Bar auf der Ulitsa Tverskaya. Sehr hipper Laden mit äußerst sehenswertem Publikum. Reisen ‚ohne seinen Samowar‘ (-1 sozusagen) haben ja den Vorteil, dass man sich mal etwas gründlicher umsehen kann. Selten einen Laden mit soviel umwerfend schönen Frauen gesehen, wenn man das heutzutage überhaupt noch ungestraft so sagen darf. Weiter ging es dann in den ehemaligen Stammsitz der Schokoladenfabrik ‚Roter Oktober‘ direkt an der Moskva. Bis vor wenigen Jahren verbreitete diese süssen Geruch im Zentrum der Stadt, 2007 wurde sie stillgelegt und in einen schicken Wohn- und Erholungskomplex mit einigen ganz netten Bars und Klubs umgewandelt. Auch hier konnte man es gut aushalten.

Nun stand die Sonne aber wieder hoch am Himmel und wir fuhren zum Brunch in das (Garten-) Restaurant Syrovarnya, ebenfalls im Gebäude einer ehemaligen Fabrik aus rotem Backstein am Kutusovskij Prospekt.



Das Restaurant spezialisiert sich wie inzwischen viele andere in Moskau auf handwerklich gemachte Produkte aus der Region, in diesem Fall Käseprodukte wie Mozzarella, Burratina, Camembert etc. Ein sehr nettes Etablissement und das Lachs-Focaccia mit Mozzarella und Rucola war schon mal ein guter Vorgeschmack auf die Unmengen an frischem Fisch, der gut 6700km entfernt auf mich wartete.

Um 14.30h ging es wieder auf den Aeroexpress vom Weissrussischen Bahnhof nach SVO, wo ich eine gute halbe Stunde später ankam. SU1730 geht von dort um 16.45h, so dass es angesichts der Baggage Drop-off-Situation (alle Flüge auf fünf offene Schalter) und ewiger Schlangen schon fast etwas eng wurde. Der Flug wurde jedoch ausgerufen und die verbleibenden Passagiere bevorzugt abgefertigt. Ein Status auf Skyteam wäre manchmal echt hilfreich! Normalerweise reise ich mit Handgepäck, wegen Zeltstangen und Wanderstöcken im Gepäck musste ich den Rucksack leider einchecken...

Schnell durch die Security gespurtet und direkt geboardet. Boeing 777-300R, ziemlich gut gebucht, neben regelmäßigen Flügen nach Novosibirsk und nach Vladivostok Kamtschatkas einzige reguläre Verbindung zur Außenwelt.


24A: Guter Sitz mit viel Beinfreiheit, nur leider ohne Fenster, aber egal. Der aktuell längste Inlandslinienflug der Erde (ohne Überseegebiete) konnte dann also beginnen. Mit dem ganz netten Filmprogramm von SU (ich schaute Isle of Dogs und Blade Runner) und einigen h Schlaf unterbrochen von zwei Essen und sehr regelmäßigen Getränkerunden schlug ich die gut 8h Flugzeit tot. Nettes Gimmick auf dem Bordessentablett: Ein Glückskeks.





"Fürchte dich nie, das zu tun, was du nicht kannst. Denk daran: Die Arche wurde von Liebhabern gebaut, die Titanic aber bauten Spezialisten" - Sehr beruhigend!
 
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Hene

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27.03.2013
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4. Tag

Um 10h am Montagmorgen landeten wir pünktlich in PKC. Dichte Bevölkung am Himmel und leichter Sprühregen. Von den umliegenden Vulkankegeln nichts zu sehen. Naja, man hatte mich gewarnt. Immerhin weit und breit auch keine Mückenschwärme.

Es dauerte fast eine h bis endlich mein Rucksack auf dem Band lang. Außerhalb des Flugzeugtors warteten meine Couchsurfing-Gastgeber auf mich, ein nettes junges Pärchen, das einen Pizzaservice betreibt und Kamtschatka über alles liebt (kann ich inzwischen gut verstehen). Es ging die 20km vom Städtchen Jelizovo nach Petropavlovsk-Kamtschatskij, mit ca. 180.000 Einwohnern die Haupt- und mit weitem Abstand größte Stadt der Halbinsel, gelegen in der Awatscha-Bucht. Vorbei an diesem Denkmal „Hier beginnt Russland“, das ein beliebtes Fotomotiv für ankommende (russische) Touristen vom ‚Kontinent‘, wie die Einheimischen sagen, darstellt.



Bis zum Ende der Sowjetunion im Jahr 1991 war Kamtschatka militärisches Sperrgebiet und nur mit Sondergenehmigung zugänglich, für Ausländer komplett geschlossen. Auch heute noch sind viele Gebiete nur mit speziellen Genehmigungen zugänglich, da nach wie vor viel Militär dort beschäftigt ist. Die Kleinstadt Viljutschinsk etwa ist Stützpunkt zahlreicher U-Boote der russischen Pazifikflotte.

Über ein lokales Reisebüro hatte ich mir für meine Reise in den Süden der Halbinsel alle nötigen Permits besorgt incl. Registrierung beim Inlandsgeheimdienst FSB und Zutrittsgenehmigung für den Kronotskij-Naturpark. Lediglich meine Registrierung am Aufenthaltsort musste ich mit meinen Gastgebern noch in einer Postfiliale erledigen, was glücklicherweise recht schnell und unbürokratisch geschafft war.

Nach sämtlichen Erledigungen blieb genug Zeit für eine Fahrt zum Aussichtspunkt über Stadt, Hafen und Bucht. Petropavlovsk - eine Ansammlung recht unansehnlicher Plattenbauriegel, zum Teil immerhin gefertigt aus Vulkanschlacke, was sie nicht weniger grau aussehen lässt.







Und dann ging es heim in die Platte für ein fürstliches Räucherfischmahl (Man bemerke die doch recht hohen, mit dem Moskauer Preisniveau vergleichbaren Preise sogar für lokal produzierte Waren wie Fisch). (Fast) alles andere muss teuer übers Meer oder per Flugzeug herantransportiert werden, was die isolierte Insellage verstärkt. Fast jedem auf Kamtschatka muss das "Russland beginnt hier"-Denkmal wie blosser Hohn vorkommen.





Ich war nach dem langen Flug und durch die Zeitverschiebung k.o. Morgen sollte es in der Frühe in die Wildnis gehen.
 
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Hene

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27.03.2013
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5. Tag

Den Abend zuvor hatte ich bei Unmengen an getrockneten und geräucherten Fisch, Bier sowie Gurken, Tomaten und Dill/Estragon von der Datscha noch sehr interessante Gespräche mit meinen Gastgebern. Lena und Maxim erzählten mir viel über die Besonderheiten des Lebens auf Kamtschatka, Vulkanbesteigungen im Sommer, Schneemobiltouren im Winter, hohe Lebenshaltungskosten und die Spezifika für Kleinunternehmertum im russischen Fernen Osten. Maxim, der hier aufgewachsen ist, berichtete über den Wandel, der sich in Petropavlovsk über die Jahre vollzogen hat. Viele junge Menschen verlassen zwar die abgelegene Halbinsel nach der Schule auf der Suche nach Bildung und Arbeit, viele bleiben jedoch auch, beginnen ein Studium an der nach dem dänischen (im Auftrag des Zaren tätigen) Forscher Vitus Bering benannten Universität, die seit den 1990er Jahren nicht mehr nur ‚marine‘ Studiengänge anbietet, sondern auch z.B. Jura und Wirtschaftswissenschaften und damit für weibliche Studierende zugänglich wurde. Maxim schätzt, dass rund 30% der erwerbstätigen männlichen Bevölkerung der Stadt im Militär angestellt sind, was neben der Fischerei der wichtigste Wirtschaftsfaktor ist. Lena’s Lebensgeschichte ist ebenfalls bemerkenswert: Geboren in Kasachstan, war sie noch als Kind mit ihren Eltern in die Ukraine gezogen, hatte zwei Jahre in Stuttgart gelebt und war erst vor drei Jahren über ihren damaligen Mann aus Donetsk nach Kamtschatka gekommen, der als Freiwilliger für die Aufständischen in der Ostukraine gekämpft hatte. Kurzum, ich erfuhr seeeehr viel. Und war wieder einmal glücklich, kein Hotelzimmer gebucht zu haben.

Nachdem ich die Nacht in der Wohnung mit Lena’s Hund überlebt hatte -



Ein 70kg schwerer napoletanischer Mastiff - hiess es den Rucksack für die kommende Woche in der Wildnis zu packen. Maxim brachte mich zum Treffpunkt, wo bereits das Gefährt für die kommenden Tage stand, ein 6wd KAMAZ mit Busaufbau, ein nur schwer kaputtbares Gefährt wie geschaffen für die z.T. fehlenden Straßen der Halbinsel



Und günstigere Alternative zum auf Kamtschatka überwiegend eingesetzten Hubschrauber Mi-8 (ein Flugtag pro Nase kostet diese Saison 42.000 RUB, ca. 600 Euro).

Auf dem Weg sammelten wir noch alle Mitglieder meiner Reisegruppe samt Unmengen von Gepäck ein: Eine 10köpfige Gruppe von Outdoorfreunden aus Moskau und Umgebung, die sich in einem Heim für Schlittenhunde am Stadtrand einquartiert hatten:




sowie sechs Einheimische. Das Team war damit bunt gemischt: Ein Lehrerehepaar, eine Zahnärztin, eine Top-Anwältin aus Moskau mit 9jährigem Sohn, ein Veteran des zweiten Tschetschenienkriegs, eine Kleinunternehmerin mit Sportwarengeschäft, zwei Tänzerinnen am Petropavlovsker Theater usw. Interessante Tage voller Geschichten, russischen Humors und Wodka standen ins Haus! Unser Guide Nadeschda, eine zackige Endfünfzigerin und Direktorin des Petropavlovsker Puppentheaters, hat fast ihr ganzes Leben auf der Halbinsel verbracht und kennt die Wanderpfade und vulkanischen Besonderheiten wie ihre Westentasche.

Von Petropavlovsk ging es nach Jelisowo und auf der einzigen Asphaltüberlandstraße landeinwärts Richtung Milkovo. Im Dorf Sokotschi wurde an der Raststätte der obligatorische Zwischenstopp eingelegt. Bekannt ist Sokotschi nämlich für den Verkauf frittierter mit Kartoffeln, Fleisch, Pilzen, Quark oder Kamtschatka-Beeren gefüllter Hefeteigteile von der Größe einer Bärenpranke.



Köstlich! Mit einem Bier gibt es nichts besseres für einen noch immer nebligen und bei 18 Grad eher frischem Kamtschatka-Sommertag. Wir setzten unsere Fahrt fort und erreichten am Frühnachmittag das Thermalgebiet von Malki, wo wir auf einem überraschend gut frequentierten Zeltplatz unser Lager aufschlugen.



Nadeschda wies in einer Belehrung darauf hin, gerade bei einbrechender Dunkelheit sich wegen der zahlreichen Bären nicht allein vom Lager zu entfernen (auch nicht für den Toilettengang ins Gebüsch) und keinesfalls Lebensmittel im Zelt zu lagern, Nahrungsreste zudem in den nahegelegenen Fluss zu entsorgen.

Den Nachmittag verbrachte ich in einem der großen flachen durch heiße Quellen gespeisten Becken, die den Fluss säumen. Bei fast 50 Grad Wassertemperatur musste man allerdings häufiger zum Abkühlen nach draußen. Ein sehr gemütliches Plätzchen, um mit Leuten ins Gespräch zu kommen.



Nach drei h hatte ich dann genug Wasserkontakt. Im Lager unserer Gruppe köchelte inzwischen die Fischsuppe auf dem Feuer, die ersten Öken mit Hochprozentigem machten die Runde. Immer ein guter Eisbrecher! Es stellte sich heraus, dass die Moskauer Gruppe jedes Jahr zusammen Kajaktouren unternimmt, vor allem in Karelien und im Ural. Dieses Jahr waren alle zum ersten Mal in Kamtschatka.

Noch schwer gejetlaggt und nach einigen Runden Wodka zog ich mich bereits vor Einbruch der Nacht in mein Zelt zurück. Gegen drei Uhr morgens weckten mich detonierende Lärmgranaten und abgeschossene Leichtraketen ca. 100m entfernt am Rand des Zeltplatzes, offenbar waren mehrere Bären unterwegs. Kurz vorm Morgengrauen rannte dann ein Bär ziemlich geräuschvoll an meinem Zelt vorbei Richtung Fluss, 10m entfernt fand ich morgens diese Spur:



Die Bären von Malki gelten als besonders gefährlich, weil sie auf dem Zeltplatz immer genug zu fressen finden und sie sich an die Präsenz von Menschen gewöhnt haben. Wir brachen schon gegen 8h unser Lager ab, ein langer Reisetag in den fernen Süden der Halbinsel stand bevor.
 
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Hene

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27.03.2013
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6. Tag

Mindestens 8h Fahrt waren veranschlagt für die knapp 300 km von Malki durchs Innere Kamtschatkas bis an die Westküste der Halbinsel und dann über das Fischereistädtchen Oktjabrskij immer die Küste des Ochotskischen Meeres entlang gen Süden. Spätestens um 20h müssten wir am Fluss Koschegotschek sein, um diesen bei Niedrigwasser furten zu können (andernfalls wäre dies erst am nächsten Tag möglich). Kaum unterwegs, stellte sich am KAMAZ ein Schaden im Antrieb ein, ein Ersatzteil musste aus Petropavlovsk geliefert werden.



Drei Stunden Zwangspause am stark mückenverseuchten Straßenrand. Soviel zum Thema unkaputtbar. Glück im Unglück: Es gab noch Mobilfunkempfang, auf dem Land, wo zwischen Ortschaften häufig viele Dutzend km und mehr liegen, keine Selbstverständlichkeit.

Am späten Vormittag konnten wir unsere Fahrt fortsetzen und erreichten nach ca. 100 km über eine staubige Piste die Kreisstadt Ust-Bolscheretsk. Frisch aufgetankt



Ging es weiter nach Oktjabrskij, ein selbst in den Augen meiner Moskauer Mitreisenden äußerst traurigen Ort aus halbverlassenen Plattenbauten, klapprigen Garagenkonstruktionen und windschiefen Holzhäusern. Immerhin die Kirche sieht aus wie neugebaut.







Oktjabrskij ist eines der Zentren des Fischfangs an der Westküste Kamtschatkas, der allerdings stark unter der Überfischung der Fanggründe (durch russische, aber auch chinesische, japanische, süd- und nord-(!)koreanische Fangflotten) seit den 1970er Jahren gelitten hat. Das Fehlen staatlicher Subventionen ist freilich ein weiterer Grund für den Niedergang des Ortes und den Verfall der Infrastruktur. Interessanterweise ziehen die vergleichsweise hohen Gehälter in der Fischerei zahlreiche saisonale Arbeitskräfte aus Zentralrussland und aus Usbekistan an. Das ebenfalls von Usbeken geführte letzte Lebensmittelgeschäft für die kommenden 200 km wurde vor allem zum Auffüllen der Bier- und Wodkavorräte genutzt.

Nach Oktjabrskij geht die bisher ganz gute Schotterstraße in eine zwischen staubig und schlammig variierende Piste aus dunklem Vulkansand über. Am Wegesrand viel verrostender Schrott aus früheren Zeiten und vereinzelte Fischereibrigaden vor dem Hintergrund des Ochotskischen Meeres, das zugegeben ein wenig an die Ostsee erinnert.







Zwei Flussmündungen, eine davon bevorzugtes Revier von Robben (leider durch die Autoscheibe nur schwer zu erkennen), wurden per Fähre überwunden.





Weitere Stunden holpriger Fahrt durch menschenleeres Gebiet folgten, bevor wir den erwähnten Fluss gerade noch vor Anstieg der Flut erreichten. Im ruhigen Fahrttempo meisterte der KAMAZ die ca. 1m tiefe Furt mit Bravour. Kurz vor der Abenddämmerung bauten wir am Fluss unser Lager auf und sammelten am nahegelegenden Strand, auch dieser übersät mit Bärenspuren, einen Berg Treibholz für ein Lagerfeuer ein.





Aus der in Sichtweite gelegenen Fischereibrigade rannten uns zwei freundliche Deutsch-Drahthaar zu, die die ganze Nacht tollkühn auf sämtliche Bärengerüche mit Attacken reagierten und so unser Zeltcamp bärenfrei hielten.

 

Hene

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27.03.2013
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7. Tag


Der noch am Abend aus dem geangelten Lachs geschnittene und gesalzene Kaviar bildete unser Frühstück. Frischer geht es eigentlich nicht, lecker!





Während wir aßen legte die Fischerbrigade nebenan im Flussabschnitt vor unserem Lager die Netze aus und und zog binnen 30 min. gefühlt eine halbe Tonne Fisch aus dem Fluss.









Beim Anblick des Belarus-Traktors fernab der weißrussischen Heimat muss ich an diesen, schon etwas älteren Clip der Minsker Formation Lyapis Trubetskoy denken.


Am späten Morgen setzten wir unsere Fahrt gen Süden fort. Weiter immer der Küste des Ochotskischen Meeres folgend, mit Fischerbooten auf der einen Seite und den teils schneebedeckten Erhebungen der parallel verlaufenden westlichen Bergkette Kamtschatkas auf der anderen.





Eine Herde wilder Pferde mitten im Nirgendwo.



Vorbei auch am Denkmal für die Besatzung eines japanischen Kriegsschiffes, das hier in den frühen 1920er Jahren während eines Sturms auf Grund gelaufen war und später durch die Japaner selbst zerstört wurde, damit es nicht der russischen Armee in die Hände fiel.





Am frühen Nachmittag erreichten wir das Fischfangdorf Zaparozhie, Namesvetter der ukrainischen Stahlmetropole. Der örtliche Laden ruft angesichts der Versorgungssituation (alle Lebensmittel müssen über Hunderte km herangeschafft werden) enorme Preise auf. Diese usbekischen Honigmelonen sind z.B. für umgerechnet 25 Euro das Stück zu haben. Meinen Melonenhunger hob ich mir für später auf.





Weiter ging es die letzten 40 km für heute in das Örtchen Pauzhetka inmitten eines Geothermalgebiets, auf drei Seiten von auch im August mit Schnee bedeckten Bergen umgeben. In den 1960er Jahren wurde ein Geothermalkraftwerk errichtet, dass die ganze Gegend mit Strom versorgt. Für die Mitarbeiter wurde der Ort gebaut, der heute ca. 30 Einwohner hat.





Zu Sowjetzeiten sehr zuvorkommend mit Lebensmitteln versorgt, mit Kindergarten und Schule, leben heute kaum noch Leute unter 50 hier, die sich überwiegend dank ihrer beheizten Gewächshäuser selbst versorgen. Eine geradezu atemberaubende Atmosphäre von Isolation und Verlassenheit liegt in der Luft. Ein Mobilfunksignal gibt es nicht, Festnetz und Internet ist allerdings vorhanden. Wenn im Winter der Schnee drei m hoch steht, ist der Hubschrauber die einzige Verbindung zur Außenwelt.



Wir quartierten uns in einer Hütte der seismologischen Station der Akademie der Wissenschaften ein. Bzw. der ehemaligen, denn sie wurde im vergangenen Jahr wegrationalisiert. Mit samt ihrer einzigen Mitarbeiterin, einer Physikerin fortgeschrittenen Alters, die in den 1970er Jahren direkt nach dem Studium in Lemberg/Lvov (der Handballplayer war grad dort, ca. 7.000 km westlich) hierhergekommen war und, nachdem ihr Mann vor einigen Jahren gestorben war, nun allein hier lebt. Bei fünf Zigarettenlängen hörte ich mir am Abend staunend ihre (Lebens-)Geschichte(n) an: Davon wie es früher zu Sowjetzeiten hier im „fernen Süden des russischen Nordens“ mal war, vom Lemberg ihrer Jugend, von ihrer Schwester, die in Dresden lebt und von Bären, die hier regelmäßig in der Dämmerung durch den Garten streichen. Unglaublich und faszinierend! Ein Wissenschaftlerschicksal, wie es so nur im größten Land der Erde geschrieben werden konnte. Ich war froh (nach den Erzählungen unserer Gastgeberin), dass ich mein Zelt auf einer Lichtung neben dem Haus nachmittags auf Bitten unseres Guides, ob der zahlreichen Bären hier, wieder abgebaut hatte und ins Haus gezogen war.
 
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27.03.2013
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8.Tag

Nach dem ganzen im KAMAZ Herumgesitze und Überlandherumgefahre der letzten Tage, war heute endlich mal Wandertag angesagt. Einer der schneebedeckten Gipfel im Hinterland von Pauzhetka stand auf dem Programm. Es ging erstmal eine Runde durch den Ort, der in seiner ganzen Abgelegenheit im Russischen buchstäblich als Bärenwinkel bezeichnet werden kann (medvezhiy ugl‘). Krähen gibt’s allerdings auch mehr als genug, aber dazu später mehr.
Hinterm Geothermalkraftwerk, diesem fauchenden Ding aus Altmetall, den Hang hoch durch den Wald.





Jeder hatte ein Bengalo in die Hand bekommen, Bären können hier jeden Augenblick aus dem Gebüsch kommen, und auf Feuer, noch dazu in Pink, stehen die überhaupt nicht.
Nach 10min Fussmarsch in eine Landschaft aus sattgrüner Vegetation, kochendheißen Rohren und Wasserdampf erreichten wir ein Fumarolenfeld am Wegesrand. Ein Schlammtopf, einige Meter im Durchmesser, spuckte unentwegt vor sich hin. Reinfallen möchte man da nicht.



5min. weiter wartet eine Kaskade aus heißen Becken, die auf dem Rückweg unsere müden Glieder wärmen sollte. Wir marschierten weiter bergan. Ringsum kochende Erde, Schneereste und jede Menge Sowjetschrott. Ich fühlte mich ein bisschen wie in einer kommunistischen Utopie von Island (wie aus einem Sender Jerewan-Witz).







Allmählich wurde der Pfad immer schmaler, wir gingen im Gänsemarsch tief ins Bärenrevier. Durch dichtes Buschwerk und übermannshohe Kräuter. Die 2.000 mm Jahresniederschlag gehen hier offenbar im nur zwei Monate (Schnee fällt bis Ende Juni, im September fällt oft schon der erste neue) währenden Sommer sofort in den Wuchs. Leider zog es sich rasant zu und es fing an zu regnen. Auf dem ersten Schneefeld lag die Sichtweite bei nur noch 50m.



Wir entschlossen uns, umzukehren und lieber länger der heißen Quellen zu frönen. Es gibt in der Tat nichts Besseres als bei eiskaltem Regen im 40 Grad warmen Wasser zu liegen.





Auf dem Rückweg nach Pauzhetka noch im einzigen Laden des Ortes ein Eis am Stiel (nach GOST-Standard) gekauft. Geile Öffnungszeiten auch.



Und dann ein wenig dieses absurde Dorf erkundet. Zu Sowjetzeiten wurde hier im großen Ziel Landwirtschaft in Gewächshäusern betrieben und auch heute noch gibt es intensiven Gartenbau. Bei meinem Spaziergang traf ich auf eine Bewohnerin, die ganz besonders ehrgeizig ist. In ihren drei mit Erdwärme beheizten Gewächshäusern wachsen Wein, Wassermelonen, ja sogar Zitronen, Papaya und Ananas. Von dreijährigen Tomatenbüschen hatte ich als Hobbygärtner auch noch nichts gehört. Diese vorbildliche Agronomin hatte welche, die rund ums Jahr Früchte tragen. Ich war baff.











Und nach Stunden im heißen Wasser und an der frischen Luft auch einigermaßen platt.
 
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Hene

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9. Tag

Am heutigen Tag wartete der Höhepunkt unseres einwöchigen Ausflugs in den Süden der Halbinsel auf uns: Ein Abstecher zum Kurilensee. Dieser mit 77 km² zweitgrößte und mit über 300 m tiefste See Kamtschatkas war vor 8.500 Jahren durch eine gigantische Eruption entstanden, bei der über 150 km³ Asche und Gestein über dem Nordpazifik verteilt wurden. Geologische Superlative der letzten Eiszeit hin und her: Heute ist der See jeden Sommer das Ziel von Millionen von Lachsen, die zum Laichen den einzigen Abfluss, dem Osernaja, hinaufziehen. Er bildet nicht nur wegen der Bedeutung für die Fischpopulation der Halbinsel das Herzstück des Kronotskiy-Naturreservats und genauer des Totalreservats von Südkamtschatka, eines der ältesten Naturschutzgebiete Russlands. Auch für die übrige Tierwelt, allen voran für Hunderte Braunbären, die in Kamtschatka beheimatete Unterart ist gemeinsam mit dem Kodiakbären Alaskas die größte, ist der Fisch eine wichtige Nahrungsquelle.

Am frühen Morgen brachte uns der KAMAZ zum Ausgangspunkt unserer Wanderung zum See. 12 km Fussweg immer entlang des Osernaja-Flusses durchs mückenverseuchte Unterholz waren bis zum Ufer und der Schutzstation zu bewältigen. Begleitet wurden wir von zwei schweigsamen jungen Burschen Anfang 20 mit großkalibrigen Gewehren, die im Rahmen ihres Studiums in Irkutsk am Baikalsee ein mehrmonatiges Praktikum hier verbringen.







Zunächst musste eine wackelige Hängebrücke überquert werden, bevor es flotten Schrittes und möglichst geräuschvoll, Bären sehen schlecht, hören aber umso besser, losging. Der Pfad, man kann es nicht anders sagen, gepflastert mit Bärenkot. Mehr oder weniger dicht am Fluss nutzen sie diesen zur schnelleren Fortbewegung als das direkt durch die hohe Vegetation möglich wäre. Und so stießen wir auch praktisch mehrmals unmittelbar auf Meister/in Petz: Mehrere Männchen unterschiedlichen Alters, eine Bärin mit zweijährigen Jungen. Zum Glück machten sich die aufgeschreckten Gesellen sehr schnell von dannen, nur die Bärin richtete sich in sicherer Entfernung kurz auf ihre Hinterpranken und schaute uns hinterher.

Die Landschaft auch ohne Bären klasse. Eine schneebedeckte Bergkette am anderen Ufer des Flusses, reichlich Sommerblumen am Wegesrand.





Nach vier h Fussmarsch erreichten wir die mit einem Stromzaun (250 Volt) gesicherte Schutzstation. Da das Wetter (leider) zunehmend aufklarte, flogen bei unserer Ankunft bereits die ersten Mi-8 mit reichlich Touristengruppen ein. Bei gutem Flugwetter landen hier im Sommer 6-8 Mi-8 am Tag, spucken jeweils 20 mit schwerer Fototechnik bewaffnete Touristen aus und fliegen nach anderthalb h wieder zurück nach Petropavlovsk. Kostenpunkt für den Tagesausflug: ca. 600 Euro. Unser Guide Nadezhda hatte jedoch lange im Voraus eine der seltenen Übernachtungsgenehmigungen besorgt, was uns genug Zeit und Ruhe gab, die unzähligen Bären, die hier nur wenige Meter entfernt vorbeiziehen zu beobachten.







Nachdem wir unsere Zelte aufgestellt und gegessen hatten, machten wir noch eine Exkursion durch die Wildnis zur Nordbucht des Sees. Überqueren mussten wir dabei die Fischbrücke, die zur wissenschaftlichen Dokumentation der Lachsschwärme fungiert. Die Bären haben diese in ihre Fangstrategien eingebaut und nutzen sie entweder für Hechtsprünge oder geschicktes Ausspähen direkt vor dem einzigen Durchlass. Sooo nah und dennoch (dank Stromzaun) sicher kann man sie wohl nirgends auf der Welt beobachten.







Zur Nordbucht ging es wieder in bewaffneter Begleitung ca. 1,5 km durch hügeliges Gelände. Am Ufer des Sees kann man hier zuschauen, wie alle 30-50 m ein Bär in aller Ruhe sein Fischerglück probiert. Einfach atemberaubend!



Als wir da so standen, kam keine 10 m von uns entfernt völlig lautlos ein weiterer Bär (der offenbar zuvor unseren Wanderpfad genommen hatte) ans Ufer. Langsam legten wir den Rückwärtsgang ein, der Bär auf uns zu und dann in aller Seelenruhe kaum 2 m an uns vorbei. Wahnsinn!





Nach diesem Erlebnis traten wir mehr als euphorisch den Rückweg zum Lager an.

Bei einem abendlichen Ausflug per Katamaran sahen wir noch zwei Dutzend weitere Bären, ich hörte aber angesichts der puren Menge irgendwann zu zählen auf. Einfach klasse!

Nachdem auch die letzten beiden Hubschrauber abgehoben waren, blieben wir mit den Rangern und Biologen im stromzaungesicherten Lager zurück. Ich musste angesichts dieses Szenarios kurz an Jurassic Park denken, zum Glück sah es nicht nach Sturm aus, sogar die Spitze des Vulkans Ilinskij lugte in der Abenddämmerung noch kurz aus den Wolken.



Ein grandioser Tag ging bei Bärenstories und mitgebrachtem Wodka zu Ende.
 
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Hene

Erfahrenes Mitglied
27.03.2013
4.017
2.485
BER
10. Tag

Nach dem eindrucksvollen Tag am Kurilensee musste es heute leider schon wieder zurück Richtung Petropavlovsk gehen. Ich hätte noch eine Woche hier an diesem Naturwunder verbringen können. Leider war das nicht möglich und das Programm fix, denn es darf immer nur jeweils eine Gruppe in der Naturschutzstation übernachten.





Nach einer Katzenwäsche (die Nutzung der ebenfalls vorhandenen Sauna ist leider den Beschäftigten des Schutzgebiets vorbehalten) und dem üblichen Frühstück aus Buchweizengrütze (wahlweise gab es auch Hirse, Reis oder Hafer) bauten wir unsere Zelte ab. An der Raucherinsel neben dem wahrscheinlich entlegensten Lenindenkmal der Erde eine letzte Zigarette gezogen und los per pedes wieder durchs Bärengebiet. Apropos Katzen: Auch diese gibt es hier (s. Foto). An schwarze Katzen trauen sich wahrscheinlich auch Bären nicht heran.








Auf dem Rückweg zum Treffpunkt mit unserem KAMAZ, wieder in Begleitung unser beiden jugendlichen Ranger, machten wir einen Abstecher zu den „Götterfelsen“, zu Ehren der Gottheit Kutkh, der bei vielen indigenen Völkern des russischen Fernen Ostens, darunter der in diesem Teil Kamtschatkas beheimateten Itelmenen, große mystische Bedeutung hat. Gemeinhin gilt Kutkh als eine Gründergestalt und Vorvater der Menschen und tritt als Rabe bzw. Krähe in Erscheinung. Die tatsächlich sehr eindrucksvollen Felsen aus sehr weichem Bims und ihre Umgebung werden von vielen Raben bewohnt.







Nach diesem Abstecher wurden Alte, Lahme und anderweitig Fusskranke auf ein Boot verfrachtet. Die Fitten machten sich daran, die verbleibenden 8 km zu unserem Treffpunkt schnellen Schrittes zu durchmessen, denn es war inzwischen fast Mittag.





2 km vor unserem Ziel und nach zahlreichen Bärensichtungen trafen wir in der Einöde auf eine Wandergruppe, in deren Mitte Jewgenij Kasperskij, Gründer und CEO des gleichnamigen Softwareunternehmens (wie sich später herausstellte ein großer Freund Kamtschatkas). Schon geil, dass der nicht einfach den Privathubschrauber nimmt. Andererseits handelte es sich vielleicht auch um ein Teambuilding Challenge, denn die meisten seiner Begleiter trugen nur leichtes Schuhwerk und sahen schon einigermaßen mitgenommen aus und irgendwie so, als wären sie nicht freiwillig hier.

Zurück am KAMAZ war Eile angesagt. Wir verabschiedeten uns von unseren Rangern. Dass es sich bei deren Tätigkeit nicht nur um eine Praktikum an traumhafter Stelle, sondern auch um einen lebensgefährlichen Einsatz handelt, wurde uns keine zwei Wochen später deutlich gemacht. Ein Kollege der beiden, 23 Jahre jung, wurde von einem Bären getötet und gefressen, nachdem er sich ohne Rücksprache und allein aus dem stromumzäunten Areal entfernt hatte. Er war offenbar direkt in einen Bären gestolpert und hatte keine Zeit, abzudrücken. Traurige Geschichte, aber auch ein Zeichen, dass Bären Raubtiere und keineswegs die friedlich-lethargischen Gesellen sind, als die wir sie erlebt hatten.

Kaum saßen wir wieder in unserem Verkehrsmittel, schlug bei vielen die Müdigkeit zu. Trotz ruppiger Wegverhältnisse entschwand auch ich für drei h ins Reich der Träume und wachte erst auf, als es schon wieder am Ochotskischen Meer entlang gen Flussdurchquerung ging. Bei der Fährfahrt einige h später sangen wir (und vor allem die weiblichen Reisegruppenmitglieder) dem eloquenten Fährmann ein Ständchen. Dieser bedankte sich artig und informierte mich darüber, dass er heute bereits eine Gruppe deutscher Landsleute in entgegengesetzter Richtung übergesetzt hatte. Sie sind echt überall, die Studiosus-Deutschen.







Kurz vor Einbruch der Dunkelheit schlugen wir mitten im Nirgendwo direkt am Ochotskischen Meer unser Lager auf. Ein großes Lagerfeuer aus Treibholz liess den eisigen Meereswind nur halb so kalt erscheinen.



 
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HON/UA

Erfahrenes Mitglied
28.02.2011
3.825
6.340
Odessa/ODS/UA
Auch von uns vielen Dank für den Bericht, denn Kamtschatka stand, zusammen mit Lake Baikal und Altay auf der Wunschliste von Valentyna.

Während ich den Bericht lesen konnte, hat sie sich die Fotos angeschaut und mich nach einer Zusammenfassung gefragt. Sie fand das alles ganz toll - aber nicht ihr Ding, so mit Zelt, Stechmücken und viel Wandern. Somit ist, trotz Deines genialen Berichts, die Halbinsel erstmal von der Liste gestrichen worden.

Freue mich auf den Bericht aus Uzbekistan - denn da wollen wir wieder hin, hat uns zusammen mit Tadschikistan einfach sehr gut gefallen.
 
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