Meine Reise in die Concorde

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concordeuser

Erfahrenes Mitglied
01.11.2011
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Hamburg
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Vorbemerkung fürs Forum

Vor einigen Jahren hatte ich hier im Forum über meine Concorde-Flüge erzählt. Nach einer langen und unangenehmen Krankheit war ich auf dem Weg der Erholung und wollte die Zeit nutzen, um den Reisebericht noch einmal zu überarbeiten und thematisch sehr viel breiter aufzustellen.

Zwar bin ich längst wieder gesund, doch es kam anders und es blieb bei nur einigen Textteilen. Dann verging mehr als ein Jahr. Sorry.:cry:

Der Gedanke meine Concorde-Erinnerungen mit Zeitgeschichte und einigen meiner persönlichen Erinnerungen zu verbinden und in ein umfangreicheres Manuskript zu bringen hat mich nicht losgelassen. Mittlerweile haben wir 2019. Meine Erzählung wird mehr eine zeitgeschichtliche Reise werden als ein üblicher Tripreport mit „Essen on Board und Flugzeiten“.

Nun, ein Jahr später, mache ich also einen neuen Anlauf und habe mir vorgenommen, hier unter einem neuen Titel alle 1-2 Wochen ein neues Kapitel einzustellen. Dabei nutze ich Teile des einen oder anderen meiner früheren Reiseberichte hier im Forum sowie meinen alten Concorde Tripreport. Also bitte nicht wundern, wenn das ein oder andere hier bereits bekannt vorkommt.

Es ist das Rohmanuskript, das ich hier einstelle, noch ist nicht jedes Wort auskorrigiert. Ganz sicherlich nicht die endgültige Erzählung, die vielleicht einmal bei Kindle und im Apple Book Store landen wird oder auch nicht. Im Moment habe ich einfach Lust, mein Material zusammenzustellen. Wer mitlesen mag ist willkommen. Wem mein Ansatz nicht gefällt, mag woanders lesen.

Ich freue ich mich auf Anmerkungen, Lob, Kritik und anderes Feedback. Möglicherweise werden einige der zeitgeschichtlichen Textstellen Kritik und Widerspruch hervorrufen. Manches werde ich kommentieren, Trolle ignorieren.

Auch für mich ist es ein Experiment.:)


VORWORT


Längst ist die Concorde Geschichte. Es war ja nur ein Flugzeug, das 2003 zum letzten Mal unterwegs gewesen ist. Doch viele meiner Generation haben davon geträumt einmal mit einer Concorde zu fliegen. Es war etwas ganz besonderes. Supersonic, zweimal schneller als der Schall. In dreieinhalb Stunden von Paris oder London nach New York, am Rande des Weltraums. In Schönheit und Stil. Etwas, das sonst nur Testpiloten mit Sauerstoffmasken vergönnt war, konnte nun jedermann und jede Frau erleben, in Alltagskleidung bei Champagner und Kaviar. Ein unglaubliches Erlebnis, dass, weil es so teuer war, nur einem sehr kleinen Teil der Menschheit vergönnt war.

Mir ist es gelungen, fünf Mal in diesem technischen Wundervogel den Atlantik zu überqueren dem bisher einzigen zivilen Überschallflugzeug. Nie wäre ich auf den Gedanken gekommen, dass mir die Erinnerungen an diese Flüge einmal so wichtig sein würden, noch weniger hätte ich mir vorstellen können, dass einige dieser Maschinen später einmal über den Globus verteilt in Museen stehen könnten. Doch vieles unserer heutigen Realität war jenseits meiner Fantasie, etwa Verarmung und Wohnungsnot oder einmal in einer Welt zu leben, in der Schüler mit Fridays for Future gegen Untätigkeit und Politikerversagen beim Klimawandel demonstrieren würden. Sie haben ja recht, dass die es nicht richten werden.:)




Fragt mich jemand nach den großen Erlebnissen meines Lebens oder denke ich selbst in einer ruhigen Stunde darüber nach, so komme ich immer wieder zu diesen Flügen mit der Concorde zurück. Noch vor meinem ersten Marathonlauf. Für mich gehören meine Überschallflüge zu den großen Erlebnissen meines Lebens. Nicht wegen der Eitelkeit es hinein geschafft zu haben, nicht wegen der Super First Class, dem VIP-Effekt, den VIPs, die man unterwegs traf oder dem elitären Concorde Room am Flughafen London-Heathrow, sondern wegen der technischen Faszination der doppelten Schallgeschwindigkeit, wegen des Kratzens am Rande des Weltraums, wenn man so viel höher als gewöhnliche Flugzeuge unterwegs war, wegen des begeisternden Ausblicks auf die Erdkrümmung und in das Dunkel des Weltraums, wenn man die Zeit überholen konnte und von London nach New York vor seinem Abflug ankam, gemessen an der Ortszeit. Wegen des Glaubens an menschlichen Fortschritt. Sondern wegen des unglaublichen Erlebnisses, den ein Flug mit der Concorde darstellte. .:)

Bei jedem Flug erhielt ich eine Urkunde, dass ich supersonic geflogen sei. Wenn man wollte, konnte man sie von den Piloten unterschreiben lassen. So sahen die Urkunden aus:


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Bereits vor längerer Zeit habe ich meinen dreißigsten Geburtstag gefeiert, also werde ich in absehbarer Zeit altersbedingt sterben. Kein Grund zum jammern, ich bin damit im reinen. So ist es eben, alles andere wäre eine riesige Überraschung. Selbstverständlich gäbe es vieles, was ich gerne erleben würde und einiges, bei dem ich weniger gerne dabei wäre: Die erste Landung von Menschen auf dem Mars, ein alles vernichtender Meteor, Radiokontakt zu Außerirdischen, ein feindlicher Angriff der Frogs oder gar der Erstbesuch von Aliens werden wohl in meiner Lebenszeit nicht passieren. Nicht grundsätzlich auszuschließen, aber statistisch doch extremst unwahrscheinlich.

Auch die eher wahrscheinlichen Ereignisse der Selbstzerstörung von Erde und Menschheit, durch menschengemachten Klimawandel, Überbevölkerung, Raubbau, Atomkrieg oder soziale Probleme, Failing States und zerbrechende Gesellschaften durch dumme und versagende Politiker, werden mich wohl nicht mehr betreffen. Wir leben in einer Zeit sinkenden Vertrauens in unsere Lebensweise, in unsere Regierungen und unsere Zukunft. Man müsste schon sehr optimistisch oder ein wenig verblendet sein, um die Welt in grundsätzlich Ordnung zu finden, um "Donald, Viktor, Theresa oder Angela" als Erfolgsmodelle problemlösender und zukunftsweisender Staatsführung anzusehen. Selbstverständlich bin ich neugierig wie es mit der Menschheit weitergeht, auch wenn ich es nicht erfahren werde.

Alles Begann in den Sechziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts. Ähnlich wie die Anfänge der Raumfahrt und die Mondlandungen Amerikas stand auch die Concorde nicht nur für die rasanten technischen Entwicklungen jener Zeit, sondern war ebenso Ausdruck des damaligen Zeitgeist, der sehr viel stärker als in der Gegenwart vom Glauben an den Fortschritt und eine bessere Zukunft der Menschheit geprägt war. Die Sechziger des vergangenen Jahrhunderts waren eine Dekade des turbulenten gesellschaftlichen Umbruchs, in der es für Heranwachsende wie mich viele gute Gründe gab, sich Sorgen zu machen, unzufrieden zu sein und gegen das Bestehende zu rebellieren. Demokratie und Demokratisierung galten als fortschrittlich, die Menschen dachten ihnen und ihren Kindern würde es einmal besser gehen. Die Entwicklung der Concorde war ein Kind dieser Zeit, dem großen Jahrzehnt von sozialer Veränderungen. Es war die Dekade eines Kulturkampfes zwischen Jung und Alt, eines „Kriegs der Generationen über die Zukunft und gegen "die Welt so wie sie war"“, Beatles und Rolling Stones, Mondlandung und Vietnamkrieg. Sexuelle Revolution. Polemisch und zugespitzt gesagt, hätte es die 1960er nicht gegeben, hätten die meisten Jüngeren heute noch Sex im Dunkeln.

Obwohl ich noch immer viel unterwegs bin fasziniert mich schon seit langem nur noch wenig an so gewöhnlichen Flügen wie von Hamburg nach Stockholm. Meine Begeisterung für Fliegen und mein Interesse an Luftfahrt sind am verschwinden. Doch je älter ich werde, desto öfter denke ich an meine erlebten Flüge mit der Concorde. Davon werde ich schwerpunktmäßig in dieser Erzählung berichten, eingebettet in Zeitgeschichtliches und ein wenig Biografisches. Auch werde ich beschreiben wie ich mich zu einem Vielflieger entwickelte und was mich an der Luftfahrt interessierte. Ich verfüge über ein ausnehmend gutes Gedächtnis und kann weite Teile meines Lebens wie einen Kinofilm abrufen. Es sind meine persönlichen Erinnerungen und mein Blick auf die Welt, andere mögen die Dinge anders sehen. Ist auch in Ordnung.

Am 20. November 1962 schlossen Briten und Franzosen einen Vertrag zur Entwicklung eines Überschallschallflugzeugs. Zwanzig dieser Flugzeuge wurden gebaut, sechzehn davon im Linienverkehr eingesetzt. Vier Maschinen waren Prototypen und Vorserien für Testversuche und dienten der Flugerprobung. Vom 21. Januar 1976 bis zum 24.3. 2003 führten die Fluggesellschaften Air France und British Airways Passagierflüge mit diesem Flugzeug durch, das mehr als doppelte Schallgeschwindigkeit erreichen konnte. Für mich war, ich gebe es gern zu, das Reisen mit der Concorde ein Erlebnis mit Suchtfaktor, ein außergewöhnliches Erlebnis, das nur einer kleinen Minderheit vergönnt war. In einem kleinen Hamburger Reisebüro in der Grindelallee, stadtauswärts auf der rechten Seite, kurz vor der Hallerstraße, nahe der Universität, steht schon seit vielen Jahrzehnten ein richtig großes Modell der Concorde im Schaufenster. Jedes Mal wenn ich daran vorbeikomme werde ich wehmütig. Fünf Mal habe ich es geschafft, in einer Concorde unterwegs zu sein.


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Copyright: Foto und Copyright beim Autor

Meine Flüge in einem der Speedbirds, wie das Callsign der British Airways lautet:

19.11.1995 BA 004 Concorde JFK - LHR
31. 8.1998 BA 001 Concorde LHR - JFK
01. 9.1998 BA 002 Concorde JFK - LHR
18.11.2001 BA 001 Concorde LHR - JFK
11.05.2002 BA 001 Concorde LHR - JFK

Erinnerungen vergisst man, wenn man nicht darüber spricht. In der Gegenwart ist das Reisen mit einem Flugzeug zu einem freudlosen Viehtransport geworden, jedenfalls in meinen Augen. Es ist zwar manchmal relativ günstig, aber man sitzt menschenverachtend eng, wird der Gefahr einer Trombose ausgesetzt, Fraß und Service sind meist unerträglich, und manchmal werde ich mit mit Menschen konfrontiert, auf deren Gegenwart ich absolut keinen Wert lege. Selbstverständlich kann das Reisen im Flugzeug sehr viel angenehmer sein, wenn man bereit ist, für die ganz teuren Klassen viel Geld auszugeben, oder über eine der vielen Goldkärtchen verfügt, deren Privilegien das Reisen angenehmer machen oder einige der dirty Tricks kennt, die zum selben Ziel führen. Doch auch für Normalsterbliche war das Reisen durch die Lüfte einmal sehr viel angenehmer, in der Zeit, bevor ich zu den bevorzugten Reisenden gehörte.

Fortsetzung folgt
 

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concordeuser

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01.11.2011
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Fortsetzung 1

KAPITEL 1



Vielleicht beginne ich mit meinem allerersten Flug. Ich war ein zwölfjähriger Junge, der in Hamburg lebte, geboren wenige Jahre nach dem Krieg. Meine Familie war bitterarm, erst mit großer Verspätung traf bei uns ein klein wenig vom deutschen Wirtschaftswunder ein. Meine Kindheit verbrachte ich in in materieller Not und menschlicher Dürre. Deutschland war ein Friedhof der verletzten Seelen. Wer die Hölle suchte, fand sie in den traumatisierten Familien Nachkriegsdeutschlands, so wie ich in meiner. Mein Vater hatte als Soldat in Hitlers Wehrmacht gekämpft und war als Kriegsverlierer psychisch krank. Fast alle Nachkriegskinder kämpften mit ihren Eltern, wenn auch auf unterschiedliche Weise und wenn manchen dieses nicht einmal bewusst war. Die Generation vor uns war schuldig geworden, weil sie Hitler gefolgt war und schlimmes erlebt hatte. Wir waren die Kinder der Verlierer.

Frieden hatte Hitlers Tod nicht gebracht, sondern nur den Kalten Krieg, die Fortsetzung des Kriegs um die Weltherrschaft mit anderen Mitteln. Verrückte in Uniform hatten ihre Finger am roten Knopf und drohten mit dem Weltuntergang im Atomkrieg. Auch wenn kaum geschossen wurde, lebten wir wieder im Kriegszustand. Die Front lag gut 30 km hinter Hamburg, an der Zonengrenze zur DDR. Auf vielen Schulgebäuden gab es Sirenen und von Zeit zu Zeit wurde Alarm geprobt, auch wenn es vor dem drohenden Atomkrieg keinen wirklichen Schutz gab. Mit jedem Tag, den ich lebe, erscheint es mir als ein Wunder, dass die Welt nicht während meiner Lebenszeit im Kalten Krieg untergegangen ist.

In Deutschland und Westeuropa waren gruselige konservative Gesellschaften entstanden, die unter ihren seelischen Verletzungen litten. Deutschland war das Land 
der Kriegsverlierer und international geächtet. Bis 
1989 waren „Deutschland 
Ost und West“ besetzte Länder 
und wurden von den Siegermächten des 2. Weltkriegs mehr oder minder fremdbestimmt, im Osten offensichtlich, im Westen weniger. Schuld 
und Trauma der Nazizeit überlagerten alles.
 Devote Unterordnung unter gesellschaftliche Autoritäten, soziale Kontrolle und umfassende Sexualfeindlichkeit bestimmten den Alltag. Bis weit in die 1960er lag über Deutschland ein fürchterlicher Mief. Gesellschaft, Kultur und Politik waren altmodisch, das tägliche Leben verlief in einem Ausmaß spießig und geordnet, dass es einen heute gruseln kann. Der Alltag verlief nach zwanghaften Regeln. Bevor man sich anfassen durfte, musste man verlobt sein und das Licht ausmachen.

Lehrbücher der Psychiatrie nannten grundloses Lachen, Widerworte oder Aufsässigkeit zweifelsfreie Krankheitssymptome. Ein- und Unterordnung galten als die zentralen deutschen Bürgerpflichten. Nichts taten die Deutschen in jener Zeit lieber, als Regeln und Vorschriften zu erlassen, bevorzugt in Befehlsform: Lass das. Gib keine Widerworte. Du hast zu gehorchen. Fass das nicht an. Das tut man nicht. Toleranz, Lebensfreude und Entspanntheit gehörten nicht zu unserem Nationalcharakter. Nacktheit gab es nicht.

Studenten gingen im Anzug zu ihren Vorlesungen und siezten sich. Jeans und T-Shirts gab es noch nicht. Über Lust und Liebe wurde geschwiegen, voreheliche Sexualität existierte offiziell nicht. Homosexualität von Männern galt als psychiatrische Erkrankung und stand unter staatlicher Strafe. Dagegen war eine Vergewaltigung in der Ehe nicht strafbar. Das Hinhalten des Unterleibs ohne Lust nannte sich eheliche Pflicht. Die Durchführung einer Abtreibung wiederum war eine Straftat. Ein Kuppeleiparagraph im Strafgesetzbuch verbot es bei Strafe, unverheirateten Personen ein Hotelzimmer zu vermieten. Ein Zusammenleben ohne Trauschein galt als unvorstellbar. Uneheliche Kinder und alleinerziehende Mütter wurden diskriminiert und geächtet. Die Jahrzehnte nach dem Krieg waren keine schöne Umgebung für Heranwachsende.

Nichts und niemand wurde so diskriminiert wie Frauen. Sie hatten weniger Rechte in Familie, Beruf und Gesellschaft. Die Ausstellung eines Führerscheins für eine Frau erforderte die Zustimmung des Ehemanns. Noch Ende der fünfziger Jahre konnte ein Ehemann den Arbeitsvertrag seiner Frau fristlos kündigen, wenn er nicht wollte, dass sie berufstätig war, oder ihr die Führung eines eigenen Bankkontos untersagen. Das Gesetz, das ein Arbeitsverhältnis einer Frau von der Zustimmung des Ehemanns abhängig machte, wurde erst 1977 abgeschafft, obwohl es schon lange nicht mehr angewandt wurde. Unverheiratete Frauen wurden als Fräulein angesprochen, waren sie dann gar noch älter galten sie als alte Jungfern und etwas fürchterlich schräges. Verheiratete Frauen hatten in der Ehe weniger Rechte als Männer zementiert in den Gesetzbüchern. Vergewaltigung hieß Notzucht, ohne zu sagen, wer in Not war. Bis 1969 war Ehebruch eine juristische Straftat. Wer als Frau in einer Bank arbeitete, musste in einem Rock erscheinen. Hosen waren verboten. Wie in den Regeln der Scharia stand in Benimmbüchern, dass Frauen sich am besten nicht allein mit einem fremden Mann im Zimmer aufhalten sollten. Sie hatten gerade zu sitzen, das züchtige Kreuzen der Knie nicht zu vergessen. Die schlimmen Zustände in den Kinderheimen und die vieltausendfachen Fälle von sexuellem Missbrauch in der katholischen Kirche waren noch nicht aufgedeckt.

Mit Beginn der 1960er begann die gefühlte Befreiung, mit lauter Beatmusik, mit den Songs der Beatles und Rolling Stones, mit längeren Haaren, kurzen Röcken und der sexuellen Revolution. Schnell ging dies in Ungehorsam und Rebellion über. Soziale Umwälzungen sind immer auch ein Schneeball, der sich zur unkontrollierbaren Lawine entwickelt. Irgendwann laufen alle mit und schreien. Mit dem Wirtschaftswunder war in Deutschland die größte materielle Nachkriegsnot überwunden, die seelische Not nach Nationalsozialismus und Konzentrationslagern aber geblieben. Auch Unternehmen wie die Lufthansa verdrängten ihre Vergangenheit im Dritten Reich. Fliegen heißt siegen über Zeiten und Weiten lautete im Dritten Reich die Werbung der damaligen Lufthansa, Die heutige ist nicht der Rechtsnachfolger der damaligen, muss aus juristischen Gründen gesagt werden, um nicht verklagt zu werden. Erstmals traten Jahrgänge ins Erwachsenenleben, die den Zweiten Weltkrieg nicht oder nur als kleine Kinder erlebt hatten. Es begann, nicht nur in Deutschland, eine Zeit des Aufbruchs, der Unruhe und Revolte der Jüngeren. Die Sprachpolizei der Political Correctness gab es noch nicht, wer fortschrittlich fühlte, sprach von der DDR und nicht von der Ostzone oder von Farbigen statt von Negern oder gar Niggern.




Die 1960er waren nicht nur das Jahrzehnt, in dem sich die Kubakrise ereignete und der Bau der Mauer stattfand, sondern eben auch das der Entwicklung der Mondrakete Apollo und der Concorde. Es war eine Zeit heftiger sozialer, politischer und gesellschaftlicher Umwälzungen. Ein Zeitalter ging zu ende, ein neues begann. Eine Zeit der Unruhe und Revolte der Jüngeren, nicht nur in Deutschland. Es war eine politische Bewegung von globaler Dimension, auch wenn der Schwerpunkt in den westlich orientierten Demokratien lag. Zum ersten Mal in der menschlichen Entwicklung rebellierte eine ganze Generation kollektiv gegen die Welt ihrer Eltern, ein Aufstand der Jüngeren gegen die Lebensweisen und Werte der Älteren. Wir alle träumten davon, in einer besseren Welt zu leben. In friedlichen und sozial gerechten Gesellschaften, wir waren gegen den Wahnsinn des Kalten Kriegs, Aufrüstung und die nukleare Bedrohung. Gegen den Krieg der amerikanischen Regierung in Vietnam. Für Bürgerrechte, für mehr persönliche Freiheit in Denken, Leben und Sexualität. Für Spaß und Lebensfreude, für Love and Peace. Wir wollten die Guten sein und träumten von gesellschaftlichem Fortschritt und einer umfassenden Demokratisierung aller Lebensbereiche. Gegen soziales Unrecht und Rassendiskriminierung. Gegen Ausbeutung. Für viele war zusätzlich die Vertuschung und Verdrängung von Nationalsozialismus, Krieg und deutscher Schuld ein wichtiges Thema. Die Auseinandersetzungen der 1960er waren ein Krieg der Generationen um unsere Zukunft, um die Welt, in der wir leben wollten.

Der Geist der Veränderung wurde nicht nur von den politisch aktiven Jugendlichen getragen, den Studenten an den Universitäten, von Schülern an Gymnasien wie mir. Das war nur eine Minderheit, aber sie beherrschte das gesellschaftliche Klima und durchdrang alle Lebensbereiche. Trau keinem über Dreißig, ein Slogan, der das damalige Lebensgefühl trifft. Selbst wer sich als Jugendlicher nicht aktiv an politischen Aktionen und Gruppen beteiligte, und dies war durchaus ein großer Anteil der entsprechenden Jahrgänge, war vom Zeitgeist der Veränderung erfasst und damit ein Teil der gesellschaftlichen Umgestaltung. Auch wer als Jugendlicher noch brav in der sozialen Kontrolle von Familie und Kleinstadt lebte, gegen den Willen seiner Eltern und Lehrer lange Haare trug, nur die Beatles oder Rolling Stones hörte und mit seinem Mädchen abends in die Dorfdisco zum Rumfummeln fuhr, statt zu Demonstrationen zu gehen, war Part of the gang. Allein mit diesen Äußerlichkeiten und diesem Verhalten verstieß er bereits heftig gegen die Regeln der Welt, wie sie bisher war und wurde zu einem Teil der Jugendrevolte.

Wer Ende der 1950er vorausgesagt hätte, es könne einmal die Ehe für Homosexuelle, Frauenhäuser, Gesetze zum Schutz der Umwelt und gegen Diskriminierung oder gar Bioläden und Rauchverbote geben, wäre zweifellos für verrückt gehalten worden. Warum laufen Mädchen in der Gegenwart mit Metall in den Lippen oder im Bauchnabel herum und können über ihre Lebensweise selbst entscheiden? Warum spricht man von Liebe und Sex und nicht mehr von ehelicher Pflicht? Warum können Unverheiratete heute problemlos ein Hotelzimmer bekommen und unehelich zusammenleben? Warum Frauen und Männer gleichgeschlechtlich heiraten? Warum werden uneheliche Kinder nicht mehr stigmatisiert und Vegetarier nicht ausgelacht? Warum existiert im Land der Wehrmacht keine Wehrpflicht mehr? Ohne den gesellschaftlichen Wandel mit allen seinen Widersprüchen und das Leben der Gegenwart allzu sehr vereinfachen zu wollen, lautet meine Antwort, weil es die 1960er gab.

Blicke ich heute zurück, so hat die Jugend jener Zeit zwar nicht die von manchen erhoffte politische Revolution erreicht, aber eine weitreichende soziale und gesellschaftliche Verbesserung der Lebensumstände herbeigeführt, welche unsere Werte und Lebensweisen bis in die Gegenwart bestimmen. Heute definieren ihre Gedanken und Werte das Zusammenleben in der westlichen Welt, auch wenn längst nicht alle Träume wahr wurden, und an einigen Fronten, etwa in der Gleichstellung von Frauen, bis heute gekämpft wird.

Wertvorstellungen, Denkmuster und Verhaltensweisen, die in den 1950ern von einer großen Mehrheit der Bevölkerung als radikal, unmoralisch und gar kommunistisch betrachtet wurden, sind heute in den westlich orientierten Ländern in der Mitte der Gesellschaft angekommen. Sichtweisen, die damals revolutionär klangen, wurden für große Teile der heutigen Mehrheitsgesellschaft zu kulturellen Leitbildern. Wer Ende der 1950er vorausgesagt hätte, es könne einmal die Ehe für Homosexuelle, Frauenhäuser, Gesetze zum Schutz der Umwelt und gegen Diskriminierung oder gar Bioläden und Rauchverbote geben, wäre zweifellos für verrückt gehalten worden. Warum können Mädchen in der Gegenwart mit Metall in den Lippen oder im Bauchnabel herumlaufen und können über ihre Lebensweise selbst entscheiden? Warum spricht man von Liebe und Sex und nicht mehr von ehelicher Pflicht? Warum können Unverheiratete heute problemlos ein Hotelzimmer bekommen und unehelich zusammenleben? Warum Frauen und Männer gleichgeschlechtlich heiraten? Warum werden uneheliche Kinder nicht mehr stigmatisiert und Vegetarier nicht ausgelacht? Warum existiert im Land der Wehrmacht keine Wehrpflicht mehr?

Ohne den gesellschaftlichen Wandel mit all seinen Widersprüchen und das Leben der Gegenwart allzu sehr vereinfachen zu wollen, lautet meine Antwort, weil es die 1960er gab. Die Concorde war ein Kind der 1960er. Damit ist der historische Rahmen für meine Erzählung aufgezogen.
 
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Argus

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30.01.2014
249
1
Toller Beitrag!

Und zuerst einmal dir alles Gute für deine Gesundheit!
Bin gespannt hier weiteres darüber zu lesen. Die Concorde löste bei mir auch viel Faszination aus und ich wäre zu gerne mal damit geflogen. „Leider“ bin ich doch zu jung gewesen um überhaupt mal damit fliegen zu können.
Unabhängig von Effizienz etc pp. ist für mich die Einstellung des Überschallflugzeugs einfach schade. Wie grandios, dass man innerhalb weniger Stunden nach Amerika fliegen konnte und das heute alles andere als schnell geht. Sonst ist der Mensch immer so „Move forward“, aber da irgendwie nicht. Gründe wird es geben, klar.

Kurzum: ich freue mich auf weitere Berichte und Bilder. Super spannend und vielen Dank schonmal!
 

concordeuser

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01.11.2011
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Hamburg
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divemaster

Erfahrenes Mitglied
25.03.2011
449
1.222
Hattest Du Dich vertippt oder bin ich blind und sehe nur Fortsetzung 3 statt 2 ?!?

und Danke für den Beitrag, ist super interessant zu lesen!
 

ben10

Reguläres Mitglied
12.07.2016
25
0
Freue mich auf die Fortsetzungen!

Auch wenn du vermutlich einige Semester mehr auf dem Buckel hast als ich, kann ich mir gut vorstellen, dass vieles was zum Zeitgeschichtlichen noch kommen wird genauso von mir stammen könnte!
 

sveli

Aktives Mitglied
01.08.2017
175
1
TXL
Ich freue mich auf's Lesen und bin gespannt, wie es weitergeht!
Vielen Dank für den tollen Bericht!
 

concordeuser

Erfahrenes Mitglied
01.11.2011
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Hamburg
Fortsetzung 3

Kapitel 2


Im Sommer 1962 schenkte mein Vater meiner Mutter und mir einen Ausflug nach Berlin. Eine dreitägige Pauschalreise veranstaltet vom Hamburger Abendblatt. Mit einer Vickers Viscount der British European Airways mit dem roten Kürzel BEA auf dem Rumpf, einem kleinen Flugzeug mit vier Propellern und fünfundsechzig Sitzen, flogen wir über die Ostzone nach Tempelhof. Die Sieger brachten uns in Hitlers Reichshauptstadt, denn nur die Alliierten Fluggesellschaften durften die Luftkorridore nach Berlin benutzen. In einer langen Stadtrundfahrt besuchten wir die geschichtsträchtigen Bauten deutscher Vergangenheit, die Siegessäule, das Brandenburger Tor, die Gedächtniskirche und das Kaufhaus des Westens. Auch die ein Jahr zuvor gebaute Mauer und das sowjetische Kriegsdenkmal sahen wir, dazu die Stacheldrahtgrenze und das allgegenwärtige Militär. Hitlers Hauptstadt blieb mir fremd.

Die Kuba-Krise um die von der UdSSR stationierten Atomraketen, welche die Menschheit fast ausgelöscht hat lag erst kurz zurück. Für einen Zwölfjährigen war es eine unverständliche Welt, doch mein erster Flug, ein tolles Erlebnis. Bei meiner ersten Reise durch die Luft fand ich besonders die großen Wagen am Check in in Hamburg und am Flughafen Tempelhof spannend ich war ein kleiner Junge, der außer den Fahrten zu seinen Verwandten in der Ostzone im Urlaub noch nie richtig aus den Hamburger Stadtteil herausgekommen war, in dem er lebte und der nun zum ersten Mal fliegen durfte. Berlin – Tempelhof war ein toller Flughafen, ein architektonisches und geschichtliches Monument. Aus dem ehemaligen Raketenschießplatz Tegel war der Airport Tegel wie wir ihn heute kennen gerade am entstehen, der ab Mitte der 1960 er zu Berlins zentralem Flughafen werden sollte. In meinen Augen ist es eine Schande, dass Tempelhof geschlossen wurde. Er ist großartig verewigt in der Flughafenszene mit dem Coca-Cola Manager aus der bekannten Screwball-Komödie EINS ZWEI DREI von Billy Wilder, die 1961 in Berlin gedreht wurde.


 
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concordeuser

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01.11.2011
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Hamburg
Fortsetzung 5


Reisen war in meiner Jugend sehr viel weniger selbstverständlich als heute, allein weil vielen Familien das nötige Geld fehlte. Den Teutonengrill an der Adria konnten sich nur diejenigen leisten, die im Wirtschaftswunder schon etwas mehr erreicht hatten, meine Familie also nicht. Erst 1968 sollte ich meine erste Auslandsreise antreten und Menschen kennenlernen, die ohne deutsche Schuld geboren waren. In den Sommerferien durften ein Schulfreund und ich mit der Eisenbahn nach Schweden fahren. Ich war 17. Unser Ziel war die Kleinstadt Älmhult in der Mitte des Landes, zwischen Wäldern und Wasser. Ein Bahnhof, eine Jugendherberge und ein großer See. Doch die Landschaft interessierte uns weniger. Diffus hofften wir auf Freiheit, Abenteuer und schwedische Mädchen. Wir wollten raus, möglichst weit weg sein. Wir träumten von Spaß und Mädchen. Doch die gab es in Älmhult nicht, nicht für uns. Erst später begriff ich, dass Skandinavien kein Paradies ist. Nicht alle Schwedinnen waren blond und schön. Schon gar nicht hatten sie darauf gewartet, pubertierenden Jungen aus Deutschland ihre Träume zu erfüllen. Meine Vorstellungen von Skandinavien als Land von freier Luft und freier Liebe hatten wenig mit der Realität zu tun. Make love not war, heulte zwar der Zeitgeist, wir aber waren noch ein wenig zu jung. Zumindest hatten wir uns aus Deutschland hinausgetraut.

Wenn ich als Schüler nicht gerade beim Fußball war baute ich nachmittags Radios und beschäftigte mich mit dem Wunder von Dioden und Transistoren. Oder schrieb Briefe an die NASA, ließ mir Raumfahrt Unterlagen zuschicken ließ und versuchte die Basics der Mondlandung zu verstehen. Als John Glenn, der erste Amerikaner im Weltraum mit der Kapsel Friendship 7, Alan B. Shephards kurzer Parabelflug zählte ja nicht so richtig, auf seiner Propagandatour um die Welt in Hamburg im Amerikahaus am Dammtor-Bahnhof einen Vortrag hielt, gelang es mir eine Eintrittskarte zu ergattern. Sogar ein Autogramm von John Glenn konnte ich bekommen. In den nächsten Jahren saß ich dann stundenlang bei den Raumflügen des Gemini Programms der NASA am Fernseher. Menschen sind Eroberer. Ich war sicher, dass Raumfahrt und die Erforschung des Weltraumes zu einem wichtigen Teil der Zeitgeschichte meines Lebens werden würden. Ich träumte zwar nicht davon Astronaut zu werden, doch ein Job bei der NASA hätte ich gerne gehabt.


 
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01.11.2011
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Hamburg
Fortsetzung 6


Mein Leben ging weiter. Kurz nach dem Flug nach Berlin machte ich die Aufnahmeprüfung fürs Gymnasium. Ich muss ein höchst widersprüchlicher Jugendlicher gewesen, einerseits ein gelegentlich ein wenig autistischer Nerd, dem Mathematik, Physik, und Logik leichtfielen, der höheren Töchtern erfolgreich Mathematik Nachhilfe geben konnte, ein nicht zu unterschätzendes Asset, das gute Bezahlung, soziale Anerkennung und erotische Benefits brachte, andererseits war ich jemand, der trotz Verbot der Lehrer die wilden Songs der Rolling Stones hörte, der keine Demonstration gegen den schmutzigen Vietnamkrieg der Amerikaner und den Bundeskanzler mit der Nazi-Vergangenheit ausließ, lange ungewaschene Haare trug und in konspirativen Wohngemeinschaften verkehrte, wo die Weltrevolution vorbereitet wurde. Aber wer war als Schülerin oder Schüler nicht schräg? Nur ein einziger meiner Lehrer hat mitbekommen, wie sehr ich mich als Schüler gegen Ende der Mittelstufe in die Physik der Raumfahrt eingearbeitet hatte, naja, rückblickend war es sicherlich nicht viel mehr als ein klein wenig grundsätzliches Verständnis. Es war mein Physik-Lehrer, der vorher in Finkenwerder bei Messerschmitt-Bölkow-Blohm (MBB), einem der Vorläufer von Airbus, als Ingenieur gearbeitet hatte und dann in den Schuldienst wechselte, als dringend Lehrer für die naturwissenschaftlichen Fächer an Gymnasien gesucht wurden. Bis heute rechne ich es ihm hoch an, da seine Person und sein unnahbares Auftreten mit Worten wie schräg und bizarr noch wohlwollend und freundschaftlich beschrieben sind. Aber er war kein schlechter Kerl. Als Folge durfte ich eines schönen Tages in seinem Physik-Unterricht einen langen Vortrag über die physikalischen Grundlagen der Raumfahrt zum Mond halten. Welche Kräfte wirken und welche Geschwindigkeiten muss man haben, um den Erdboden und den Orbit verlassen zu können? Ich fand das nicht schwierig, es war ja nur Mechanik. Ich war wohl sehr überheblich. :rolleyes:

 
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01.11.2011
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Hamburg
Fortsetzung 7

Als Dankeschön hat mich dieser Lehrer beim Fernsehen angemeldet und ich wurde mit anderen Schülern zur geplanten dritten Mondlandung mit Apollo 13 in ein Fernsehstudio des ZDF eingeladen. Nach den ersten erfolgreichen Mondlandungen ging das öffentliche Interesse zurück, und es war eine Art Freak-Show mit mathematisch begabten Oberschülern geplant. Dann erklangen die berühmten Worte, Houston, wir haben ein Problem. Die Mondlandung mit Apollo 13 misslang, und die Astronauten konnten nur knapp ihr Leben retten. Also wurde ich wieder ausgeladen.

Raumfahrt war ein spannendes Thema, das mich einige Jahre intensiv interessierte. Sie stand für Fortschritt, Moderne und Visionen. Science Fiction wurde Realität, jeder konnte es in Echtzeit erleben. Wie sollte ich über meine Concorde Flüge erzählen ohne die Faszination des Weltraums zu erwähnen. Doch nach den Mondlandungen ging mein Interesse am Weltraum schnell wieder zurück. Als Jugendlicher hatte ich noch nicht verstanden, dass es nicht um kollektive Zukunftsträume der Menschheit ging, sondern der Weltraum war zum Spielfeld des technologischen Kampfs der politischen Systeme geworden. Es war die Fortsetzung des Kalten Kriegs, nicht die Erfüllung menschlicher Träume. Das Wettrennen im All, das amerikanische Programm zur Eroberung des Mondes verkörperte den Konflikt Ost gegen West um die Weltherrschaft und war in der Grundlagenforschung eine gigantische Förderungsmaßnahme der amerikanischen Wirtschaft zur Erlangung und Sicherung des westlichen Technologievorsprungs. Nachdem die Jahre mit Karl-May-Büchern vorbei waren, fing ich an, mich für Science-Fiction zu interessieren.

 
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Erfahrenes Mitglied
01.11.2011
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Hamburg
Fortsetzung 8

Im Sommer 1968 habe ich im Grindel-Kino auf der großen Breitleinwand den Film „2001 A Space Odyssey“ gesehen, das legendäre Science-Fiction-Epos von Stanley Kubrick, gerade in die Kinos gekommen. Vor Spannung musste ich den Atem anhalten und fühlte mich wie weggeblasen. Dieser Film wirkte, als würde ich meine Zukunft und den Rest meiner Jahre s sehen. Die Visionen für mein Leben nahmen Gestalt an. Ich war sicher, dass an meinem fünfzigsten Geburtstag der Mond bewohnt sei und es fliegende Autos und eine gerechte, wohlhabende Welt für alle geben könnte. Wir würden unseren Alltag mit Robotern teilen, und wie fast selbstverständlich stellte ich mir eine humane Zukunft ohne Krieg, Hunger, Armut oder schlimme Krankheiten vor. Fortschritt und Technik würden es schon richten. Gegenteilige Zukunftsbilder von Überbevölkerung, Armut, Hunger, zerbrechenden Gesellschaften oder auch ökologischen Katastrophen, die ich heute für viel realistischer halte, wie sie andere, nicht minder großartige Filme wie Silent Running oder Soylent Green zeigten, ließ ich weniger an mich heran. Versuche ich meine jugendlichen Gedanken zu verstehen, so habe ich wohl an ein Paradies auf Erden geglaubt, an mehr Gerechtigkeit, Wohlstand, an Technik und Glück.

Aus der Erfindung des Transistors entwickelte sich die Mikroelektronik, ohne die unsere heutige Welt undenkbar wäre. Die globale Verbreitung von Radios, Schallplatten und Tonbandgeräten ermöglichte und verstärkte die Rebellion der Jüngeren. Aus den ersten experimentellen Herzverpflanzungen wurde ein verbreiteter Routineeingriff, der viele Leben verlängerte. Der Sputnik und der Weltraumflug Jury Gagarins führten zu den amerikanischen Mondlandungen. In your face Neil Armstrong, das schöne Zitat aus dem Film The Martian mit Matt Damon, der in der deutschen Synchronisation leider völlig verhunzt wurde.

Im Hamburger Abendblatt, in der Vor-Internet Zeit zusammen mit Spiegel und Zeit meine Hauptinformationenquelle, konnte ich Ende der 1960er lesen, das mit der eleganten Concorde in französisch-britischer Zusammenarbeit entstand ein Überschallflugzeug für Passagiere entstand, dass betörendes und begeisterndes Erlebnis am Rande des Weltraums ermöglichen würde. Ich nahm es zur Kenntnis, aber Flugzeuge, Luftfahrt oder gar die Concorde interessierten mich zu dieser Zeit noch nicht. Nicht einmal die Phantasie hatte ich, dass ich es eines Tages dort hinein schaffen konnte.



Fortsetzung folgt
 
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KAPITEL 3


Im Winter 71/72 gelang mir das Abitur und ich begann zu studieren. Mit Mathematik Nachhilfe verdiente ich mir weiterhin auf einfache Weise einen Teil meines Lebensunterhalts, aber Naturwissenschaften interessierten mich nicht mehr. Im 1. Semester sollte meine nächste Berührung mit der Luftfahrt folgen, als ich im Sommer 1972 für eine Spedition am Hamburger Flughafen im Frachtbereich arbeitete. Zu meinen Aufgaben gehörte das Ausfüllen von Frachtbriefen mit einer Schreibmaschine für die British European Airways (BEA) nach Berlin oder über London in die weite Welt, für die Lufthansa und die KLM. Dann gehörten die Abgabe und das Abstempeln der Unterlagen in den Flughafenbüros der Airlines zu meinen Tätigkeiten sowie der Transport kleinerer Sendungen in die Frachthalle mit einer Sackkarre. Ebenso die Zollabfertigung der Dokumente und schließlich die Übergabe an die Airlines. Manchmal gab es einen Gratis-Kaffee von den Mädels dort. Von allen meinen studentischen Jobs war das der spannendste. Am Randes des Vorfelds, dort wo die längst abgerissenen Frachthallen standen, roch es immer leicht nach Kerosin. Ich war ein winzig kleiner Teil der großen weiten Welt.



Natürlich wurde ich zunehmend scharf darauf, selbst einmal zu fliegen. Zwar war Fliegen unbezahlbar für einen Studenten wie mich, aber nachdem ich etwas herumgefragt hatte, verkaufte mir die KLM am Ende meiner sechs Wochen am Flughafen ein Jugendticket von Hamburg nach Amsterdam für 115 Mark übers Wochenende, gültig für solche wie mich, die mit unter einundzwanzig Jahren noch nicht volljährig waren. Ich war aufgeregt und freute mich riesig darauf. Am einem wunderschönen, sonnigen Spätsommermorgen ging es dann los in den blauen Himmel.

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Ich war flugunerfahren, alles war spannend. Die auf meinem Hin- und Rückflug nur halbvolle DC9 der KLM kam mir riesig vor. Amsterdam galt damals neben London und San Francisco als eine der wichtigen angesagten Städte für Jugendliche. Wenn man aus dem spießigen Deutschland kam erschien einem die holländische Hauptstadt als ein unglaublich toleranter, liberaler und cooler Ort. Es gab die Kraker und die Provos, im Vondel Park schliefen Hippies in ihren Schlafsäcken. Ich verbrachte meine Nacht im Sleep-In in der Rozengracht, eines dieser Häuser, das die Stadt für die so zahlreich nach Amsterdam strömenden Jugendlichen zur Verfügung gestellt hatte. Es sollte ein tolles Wochenende werden. Es waren die 70er. An die Holländerin mit den dunklen Haaren, mit der ich den Abend verbrachte, erinnere ich mich oft und gerne. And she lets the river answer that you've always been her lover, and you want to travel with her, and you want to travel blind and you know that she will trust you for you've touched her perfect body with your mind (Lyrics: Leonard Cohen, Suzanne). Die Reise nach Amsterdam war ein unglaubliches Erlebnis, nicht nur, aber auch wegen meiner ersten Flüge mit einem Düsenjet.

it’s summer
fuck problems
:D
 
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Mitte der 1970er folgte dann meine nächste Flugreise, mit einer Freundin und mehreren Freunden ging es für einige Tage nach London gebucht als kostengünstige Paulreise mit JET Tours, damals ein bekannter Anbieter von Städtereisen. Eine Boeing 707 der Danair brachte uns nach Gatwick und zurück.



Irgend dann kam ich in der Welt der Erwachsenen an. 1978 sollte ich die Lufthansa kennenlernen. Ich hatte mein erstes Studium hinter mich gebracht und hing mit meiner Doktorarbeit an der Uni rum. Ich hatte einige gut bezahlte Jobs erbeutet, die wenig Zeit erforderten, aber relativ viel Geld und Entertainment einbrachten. Ich lebte komfortabel in meiner Nische. Eines Tages klingelte das Telefon und mein Professor fragte, ob ich für ihn zu einem Workshop nach Nepal fliegen könnte. Er sei verhindert. Wow. Sofort sagte ich ja. Für einen Jungen aus einem Hamburger Armutsstadtteil, der außer einem Flug nach Berlin und den erzählten Flügen nach Amsterdam und London nur einige Länder Europas mit Interrail gesehen hatte, eine gigantische Reise, wie ein Lottogewinn. Zum ersten Mal ging es für mich außerhalb Europas.

Es folgte ein Anruf aus einer Behörde in der Hauptstadt Bonn und ich durfte im Stadtbüro der Lufthansa am Dammtor das hinterlegte Flugticket abholen. Es war das ehrfurchtsvolle Betreten von heiligen Hallen. Fliegen war 1978 noch etwas ganz besonderes und es war teuer. Von dem Geld, dass mein Ticket dem Auftraggeber gekostet hatte, hätte ich drei Monate leben können. Ein freundliches Mädchen mit braunen Rehaugen in Highheels und Lufthansa Uniform erläuterte mir den Flugplan und übergab mir das kostbare Ticket. Hamburg – Frankfurt – Delhi – Kathmandu und zurück war mein Routing.

Einige Tage vor der Abreise ging ich zu einer Fete, die in einer Wohngemeinschaft über dem Abaton Kino an der Hamburger Uni stattfand. Dort lernte ich ein Mädchen kennen, die in einem Reisebüro arbeitete. Sie erzählte mir von der Geheimwissenschaft des Airline-Ticketings, und was ich mit dem Ticket so alles machen könnte. Damals gab es noch nicht die heutigen Airline- und Allianzpezifischen Point-to-Point Tickets, sondern die Normaltarife der IATA. Problemlos konnte man auf andere Airlines umbuchen, das Flugdatum ändern oder sogar ein anderes Routing wählen. In jedes Ticket waren in gewissem Umfang Extrameilen eingerechnet, abhängig von der Entfernung und vom Routing, das dorthin führte, um gegebenenfalls Stop-over oder Umwege zu machen. Mit einem Ticker der Strecke Hamburg - München etwa konnte man problemlos einen Aufenthalt in Frankfurt, Köln oder Düsseldorf einlegen. Das Mädchen auf der Fete erzählte mir, ein Ticket von Hamburg nach Kathmandu sei so etwas wie ein Jackpot.

Am Montag drauf ging ich erneut ins Lufthansa Stadtbüro. Dort guckte mich wiederum eine freundliche Lady in LH Unform an und war sehr wohlwollend gegenüber meinen Wünschen. Wahrscheinlich wirkte ich noch unerfahren, wie ein großes studentisches Kind, das ich wohl auch war. So wurde aus dem ursprünglichen Routing dann Hamburg - Frankfurt – Delhi - Kathmandu - Delhi - Bombay - Zürich - London - Hamburg, und es gab nicht nur Flüge mit Lufthansa, sondern auch mit Indian Airlines und Swissair, lange vor der großen Pleite, als sie als SR noch einen legendären Ruf hatte. Am liebsten wäre ich jeden Tag ins Stadtbüro gegangen um mein Ticket um weitere Städte zu ändern, was vielleicht sogar vom inkludierten Meilen-Potential her gegangen wäre. Ich war wohl nicht mutig genug um noch einmal zu fragen
 
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Dann ging es endlich los, obwohl mein Vater höchst misstrauisch war, für wen ich denn da unterwegs war. Wahrscheinlich rechnete er damit, dass ich nicht lebend zurückkommen würde. Mit der Lufthansa und dem damals erst kurze Zeit vorher eingeführten Airbus A 300 ging es nach Frankfurt und spät abends weiter in der DC 10. Das Reisen in Großraumflugzeugen war für mich Science Fiction. Ich saß in der Economy, daneben gab es nur einige abgetrennte Sitze in der Firstganz vorne. So etwas wie Business Class war noch nicht erfunden. Auch nur von einem Sitz in der First zu träumen, wäre für mich jenseits von Gut und Böse gewesen.

Der Job, ein Workshop der Vereinten Nationen im Rahmen von Entwicklungshilfe, bei dem ich als Mitglied der deutschen Delegation dabei sein durfte, entwickelte sich zur Katastrophe - meinetwegen. Ich hatte keine Ahnung von der 3. Welt und mein Englisch war begrenzt. Ich hatte nur als erster „hier“ geschrien und durfte dabei sein. Aber ich habe es überstanden und bekam nach einiger Zeit sogar die vereinbarten 2000 Mark Honorar. Die Reise habe ich als aufregend und schön in Erinnerung. Von Delhi nach Kathmandu ging es mit Royal Nepalese Airlines, die zwei schon damals uralt wirkende und mittlerweile längst verschrottete Boeing 727 betrieb, aus der Serie 100, also noch mit offenen Gepäckablagen. Der Airport des Königreichs Nepals war Ende der 1970er ein exotisches Ziel. Aufgrund der Höhenlage am Himalaya müssten die Piloten ein Spezialtraining absolvieren und außer Royal Nepalese Airlines gab es kaum Linienverbindungen. Einige Monate im Jahr flogen allerdings Chartermaschinen dorthin. Als Folge wurde Europäer dann an den einschlägigen Touristenzielen von bettelnden Kindern mit „Neckermann-Geschrei“ begrüßt. Auch gab es schon jede Menge Hippies in Nepal, auch wegen des leichten Zugangs zu Drogen.

Die Reise war ein Riesenerlebnis. An einem Abend wurden alle Konferenzteilnehmer als Gäste der Regierung vom Innenminister Nepals in den Königspalast zu einem feierlichen Abendessen geladen. Selbstverständlich musste man vor der Rückreise seine Flüge bei den Airlines außerhalb Europas bestätigen. Bei den Abstechern auf der Rückreise entdeckte ich, wie viel Spaß es bringen kann unterwegs on the road zu sein und die Welt kennenzulernen. Schließlich lagen für mich als Nachkriegskind die Erfahrungen der tristen 1950er noch nicht so lange zurück.

Allerdings muss ich eine wichtige Einschränkung machen. Aufgrund meiner Unerfahrenheit geriet ich in Bombay in eine ganz üble Situation, in der ich mit einem Messer angegriffen wurde. Es war ein seltsamer Typ, der mich anquatschte, mir ein Mädchen oder seinen Bruder anbieten wollte. Bevor ich überhaupt die Situation begriff, wollte er nur noch Geld. Glücklicherweise habe ich die Situation rechtzeitig begriffen und bin davon gerannt, mit einem Messerstich in den Oberarm. Längst verheilt, selbst die Narbe ist verschwunden. Weiter ist nicht passiert, aber bis heute sind mir Menschen, die aggressionsbereit mit Messern rumlaufen zutiefst gruselig.

Als Deutscher im Ausland unterwegs zu sein war immer noch etwas komisches und befangenes, zumindest für mich. Schon einige Jahre vorher, mit siebzehn, auf der ersten Reise mit einem Schulfreund nach Schweden war mir klar geworden, dass Auslandsreisen für uns Nachkriegskinder auch immer Momente der Befangenheit mit sich brachten. Gerne habe ich nie gesagt, aus welchem Land ich komme. Deutschland eben. Nur ein Wort, aber alles war gesagt. Was für ein beschissenes Vaterland, ich gehörte zu den Verbrechern. Tief saß diese Konditionierung in mir. Es dauerte Jahrzehnte, bis ich im Ausland fast ebenso selbstverständlich aussprechen konnte „Ich bin Deutscher“, wie andere sagen konnten „Ich bin Franzose“. Völlig unbefangen bin ich bis heute nicht. Automatisch spreche ich lieber Englisch als Deutsch. Meine Jugendfreundin Christiane bevorzugt bis heute im Ausland Spanisch, wenn sie mit ihrem Mann unterwegs ist.

Erst nach Jahrzehnten habe ich begriffen, dass viele meiner Generation ähnlich befangen waren wie ich. Auch sie konnten nicht sagen, ich bin Deutscher, ohne sich seltsam oder mies zu fühlen. Nie war auszuschließen, dass ein Gegenüber abweisend und feindselig reagiert oder aggressiv „Heil Hitler“ schreit und der rechte Arm zum deutschen Gruß herausschießt. Lange Zeit dachte ich wie selbstverständlich, dies sei mein persönliches Problem, mit mir stimme etwas nicht. Obwohl sechs Jahre nach Kriegsende geboren, habe ich lange Zeit für Nationalsozialismus und Zweiten Weltkrieg ein diffuses Schuldgefühl mit mir herumgetragen. Scham und Last unserer Eltern hatten mich infiziert, diese Melange aus Befangenheit und Minderwertigkeit hatte mich geprägt. Wenn jemand „deutsch“ sagte, ging es mir schlecht.

Noch ungefähr 20 Jahre sollte es dauern, bis ich das erste Mal in einer Concorde sitzen würde.

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Fortsetzung 12

KAPITEL 4



Zurück zum roten Faden. Mit dieser ersten und dann gleich großen Reise sollte meine Freundschaft mit der Lufthansa beginnen. Sie war die Verbindung zur Heimat in der großen weiten Welt, wie ein Freund, der mich begleitete und unterstützte. Einige Monate später, im November 1978, bewarb ich mich an einem Forschungsinstitut in München. Lust auf diese Stadt und eine Vollzeittätigkeit hatte ich eigentlich nicht. Tatsächlich wollte ich weiterhin mit einem Zweitstudium, einer Doktorarbeit und einigen lukrativen Nebentätigkeiten mein angenehmes Dasein an der Universität verlängern. Über seine Tage und seine Zeit völlig frei verfügen zu können war ein hohes Gut. Doch ich war auch neugierig und wollte mich mal austesten.

In einem Liegewagen der Bundesbahn fuhr ich an die Isar und ging zum Vorstellungstermin, ohne Sakko, weißem Hemd und Schlips. Ich trug einen altem Anorak und einen Pulli. Dazu war ich unrasiert, aber höchst qualifiziert. Zu meiner Entschuldigung darf ich darauf hinweisen, es war 1978, also alltagskulturell ganz andere Zeiten, wie den Lesern aus den genialen ab und zu im TV wiederholten Folgen mit Ekel Alfred vielleicht bekannt sein wird. Ich traf zunächst den Abteilungsleiter, denn den Big Boss. Ich erzähle unbefangen, wer ich bin und wie ich die Welt sah. Mittags dann ging ein Big Big Boss, ein Mitglied des Vorstands mit mir essen. Wahrscheinlich wollte er mit mir den Kohl-Merkel-Test machen, also gucken, ob ich mit Messer und Gabel essen kann. Wenn ich die Presseberichte über Kohls Memoiren richtig verstanden habe, hat die Mutti dabei anfangs nicht gut ausgesehen. Ich konnte wohl knapp bestehen.

Am Nachmittag sollte ich dann noch einen weiteren Häuptling treffen. In der Wartepause sprach ich mit einem Freak, der in Frankfurt studiert hatte und auch erst vor einigen Monaten in dem Laden angefangen hat. Er verriet, mir, dass alle Dienstreisen, die weiter als nach Augsburg führten, mit dem Flugzeug gemacht mussten. Also ging ich zu der Sekretärin, und fragte nach einem Heimflug. Erfolgreich. Offenbar hatte es sich ausgezahlt, das ich meine Diplomarbeit über ein sehr spezielles Thema geschrieben hatte. Nach dem letzten Gespräch wurde mir mitgeteilt, in München Riem sei ein Ticket für den Abendflug nach Hamburg hinterlegt. Die Erfindung von Internet und Smartphone sollte noch einige Jahrzehnte in der Zukunft liegen. Auf dem Papierticket las ich den Preis von 297 Mark, das Doppelte meiner damaligen Monatsmiete in Hamburg Rotherbaum. Offenbar waren die Jungs, die mich in den Gesprächen verhört hatten an mir interessiert. Abends begann es heftig zu schneien und eine halbleere Boeing 727 brachte mich zurück. Unterwegs überreichte mir das nette Mädchen der Lufthansa ein großes Tablett mit dem Abendessen und eine Cola. Woher sollte ich wissen, dass man auch Wein bestellen konnte? Und für die Jüngeren, ja, es gab einmal richtiges Essen auf Inlandsflügen, dass sogar schmeckte. Unterwegs hing ich meinen Gedanken nach. In der Welt der Erwachsenen könnte es mir vielleicht gefallen.

Zwei Tage später bekam ich ein Telegramm per Bote zugestellt, etwas das heute gar nicht mehr möglich ist. Das Forschungsinstitut wollte meine Mitarbeit und ich solle keine anderen Angebote annehmen. Wahrscheinlich ließ ich mich rückblickend über den Tisch ziehen und hätte zumindest die Umzugskosten und etwas mehr Gehalt herausschlagen sollen. Doch ich war jung und in solchen Dingen unerfahren, es waren andere Zeiten. Eine Woche später unterschrieb ich einen Arbeitsvertrag zum ersten Februar 1979 in München. Mit Hilfe eines Freundes kaufte ich mir 2 Sakkos sowie mehrere Oberhemden und Krawatten. Bis dahin hatte ich so etwas in meinem Leben nicht gebraucht. Von nun an sollten Reisen mit dem Flugzeug zu meinem Alltag gehören und meine Freundschaft mit der Lufthansa beginnen.

Bis heute habe ich vielleicht 3.000 einzelne Flüge zurückgelegt. Da ich über die Jahre meine Aufzeichnungen nicht immer sorgfältig geführt habe, kann ich nur schätzen. Etwa 2.000 davon werden mit der Lufthansa gewesen sein. Vermutlich habe ich etwa 350 Mal Hamburg Düsseldorf zurückgelegt, ebenso, die Strecken nach Berlin, München oder Köln. Mit Beginn meines ersten Jobs sollte ich von nun an Flugzeuge benutzen wie andere die U-Bahn. Mein Vorgesetzter verkündete, eine Arbeitsstunde von mir sei zu teurer als nicht zu fliegen. Also hatte ich das Flugzeug zu nehmen. Zur Erinnerung, die CD, das Faxgerät, das Mobiltelefon oder gar das Internet waren noch nicht erfunden. Dafür wurden noch Fernschreiber eingesetzt. Computer im Alltag wie wir sie heute kennen, existierten nicht einmal als Fantasiegebilde. Die Arbeitsbedingungen und die Arbeitswelt der späten 1970er hatten mit der heutigen Realität nichts zu tun. Wenn ich schriftlich kommunizieren oder ein Manuskript anfertigen wollte, sprach ich meinen Text in ein Diktiergerät, gab es einer der Sekretärinnen und bekam ihn später auf Schreibmaschine geschrieben zurück.

Ein Blick auf die Zeitgeschichte der 1970: Ende 1969 wurde der Bundeskanzler mit der Nazi-Vergangenheit durch Willy Brandt abgelöst, dessen Politik der Versöhnung die ersten Jahre des Jahrzehnts prägte. Es gab die Auflösung der Beatles (1970) und 1980 die Ermordung John Lennons. Es begann die Hippie-Bewegung. Das das Woodstock-Festival zeigte das gigantische Mobilisierungspotenzial der Jüngeren und die Größenordnungen, die in Bewegung gesetzt werden konnten. Viele Hunderttausende Jugendliche verließen ihre Elternhäuser und ihr bürgerliches Leben für ein alternatives Dasein, über eine Million machten sich auf den Weg nach Woodstock für Love and Peace, ganz sicherlich nicht nur, um Musik zu hören. Der Rücktritt Richard Nixons, der mit den Watergate Ereignissen die amerikanische Regierung zu einer kriminellen Vereinigung gemacht hatte, die Verbrechen der RAF und der deutsche Herbst, die Entführung der LH 737 und ihre Befreiung, die Ölkrise und die sonntäglichen Fahrverbote gehören zu den zeitgeschichtlichen Erinnerungen.

Jefferson Airplane in Woodstock

 
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