Fliegen in Corona Zeiten - ein nachdenklich machendes Erlebnis

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aib

Erfahrenes Mitglied
18.01.2015
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MZ
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Vorwort
Die beschriebene Reise / Erlebnisse beziehen sich auf April 2020. Ich schreibe diesen Bericht, weil mir in diesen Tagen bewusst wurde wie privilegiert wir waren. Wie wir ohne großes Nachdenken Reisen, die Welt erleben konnten und durften. Und natürlich, weil das Fliegen zwar mittlerweile (vor Corona) zum besseren Busfahren verkommen ist, aber immer noch Faszination ausübt. Die Stimmung am Airport, die Aufregung (ok bei uns Vielfliegern weniger ;)) und das Gefühl, wenn mehrere tausend PS einen wieder auf 280 km/h beschleunigen und es einmal mehr heißt „Take-Off“ – immer wieder toll!

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„Your Lufthansa / Star Alliance Flight LH xxxx is now ready for Boarding“ so schallt es aus den Lautsprechern am Gate A11 am Frankfurter Airport. Jeden Tag mehrere hundert mal. Wenn ich die Augen schließe würde es mir alles normal vorkommen. Normalität in einer Zeit in der nichts normal ist.

Doch auf Anfang.
23. Februar 2020 – bei LH buche ich meinen Flug nach Berlin. Ein Besuch bei der Familie soll es an Ostern sein. Corona beginnt gerade die Flugpläne durcheinander zu wirbeln. Für meinen innerdeutschen Hüpfer bin ich optimistisch. Was soll schon passieren? Wie naiv ich doch war….

26. März 2020
– die sechste (!) E-Mail mit einer „Buchungsänderung“ von Lufthansa zu meiner Osterreise trudelt ein. Der Flugplan ist um mehr als 90 % reduziert. Corona zeigt vollste Auswirkungen. Aus meiner Ruhe und Entspanntheit werden zunehmend Sorgen. Nicht wegen meiner Gesundheit, mehr wegen der wirtschaftlichen Folgen. Arbeite ich doch bei einem Handelsbetrieb der u.a. große Mengen Material an den Messebau liefert….

02. April 2020 - In einem Telefonat mit der Familie wird entschieden die Reise an Ostern doch anzutreten. Zu viel ist im Haus, auf dem Grundstück zu tun. Ich begebe mich daraufhin in Quarantäne, um eine Ansteckung zu vermeiden und so meinen Beitrag zu leisten, wenn ich schon gegen die geltenden Vorschriften verreise.

08. April 2020 – Ihr Flug ist zum Check-In bereit. Alles scheint, trotz der Umstände doch erstaunlich normal. Doch was ist derzeit schon normal? Ein Gedanke der mir noch öfter kommen sollte während meiner Reise.

09. April 2020 – Endlich ist es soweit. Wieder fliegen. Ja trotz Corona freue ich mich drauf. Ich steige ins Auto, um zum Airport zu fahren. Von Hanau bis Frankfurt ist die A3 so leer, dass ich den Tempomat auf entspannte 240 km/h stellen kann. Ich lasse den Diesel arbeiten, die Pferdchen galoppieren und freue mich über eine neue Rekordzeit.

Am Airport ist die Freude vorbei. Ich bin allein. Alle Geschäfte geschlossen, keine Menschen, gespenstige Ruhe. Ein Horrorfilm hätte hier problemlos gedreht werden können. Auf dem Weg zur Sicherheitskontrolle frage ich mich zunehmend ob ich falsch bin. Kommt mir doch nicht ein Reisender auf meinem Weg entgegen :confused:


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Die Sicherheitskontrolle ist dann wieder gewohnt rau und unhöflich :rolleyes:. FRA halt. Trotzdem schön. Ein bisschen Normalität in einer Zeit in der nichts normal ist.

Statt in die Lounge, entspannt einen Weißwein schlürfen, gehe ich direkt zum Gate. Ein paar verlorene Seelen sind bereits da. Am Ende werden wir ca. 30-40 Leute sein die den A320neo betreten werden.
Und da kommt die Ansage. Your Lufthansa / Star Alliance flight…naja ihr kennt das. Plötzlich scheint alles wie immer. Die Menschen springen auf (ok die wenigen) und wollen an Bord sprinten. Doch falsch gedacht liebe Gangpassagiere. Auch während Corona herrscht Ordnung bei LH und so erfolgt das Boarding selbstverständlich in Gruppen. Ob das aktuell nötig ist? Keine Ahnung. Aber da ist sie wieder, die Normalität aus längst vergangenen Zeiten.

An Bord alles wie immer, nur leerer und über mangelndes Seatblocking beschwert sich auch keiner. Sicherheitsanweisungen folgen. Ein Glück, liegt mein letzter Flug doch so lange zurück, dass ich die Bedienung des Gurtes fast vergessen hätte.
Wir rollen ohne Wartezeit zur Startbahn 25C und können direkt abheben. Als die Triebwerke hochfahren, lasse ich Corona wenigstens einen Moment zurück. Buchstäblich auf dem Boden. Ich genieße das dumpfe, leise Dröhnen des A320neo. Runterkommen und Entspannen ist die Devise. 45 Minuten Normalität ohne Corona, ohne Breaking News, ohne irgendwelche Ministeransprachen.

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Immerhin ein was Gutes hat Corona. Der Snack ist umfangreicher geworden. Ich kann mich nicht erinnern wann es auf FRA-TXL in der Eco das letzte mal ein Sandwich gab. Ich hätte in Anbetracht der Umstände gerne darauf verzichtet. Und ganz ehrlich, auf das Stück Wellpappe garniert mit Käse und E-Stoffen würde ich eigentlich immer verzichten :sick:
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Landung in TXL. Die FA wünscht einen schönen Abend und „gegebenenfalls eine angenehme und vor allem sichere Weiterreise“. Die Ansage ist Normalität. Mit dem Aussteigen werde ich rausgerissen aus meiner heilen Welt. Denn plötzlich ist sie wieder da, die Corona-Welt. Deboarding in Terminal C; die Polizei empfängt uns und belehrt über die Quarantäneregeln bei Einreise aus dem Ausland. Ich hätte nicht gedacht, dass ich nach dem Ableben von AB dieses Terminal nochmal betreten würde. Auch darauf hätte ich gerne verzichtet.

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Ich gehe zur Bushaltestelle. Während ich allein auf den Bus warte, schaue ich mich um. Wieder bin ich der Einzige, der sich hier hin verlaufen hat und in der Dunkelheit wartet. Es macht nachdenklich, traurig, denn hier an den Flughäfen wird das Ausmaß der Krise gefühlt am deutlichsten. Als hätte jemand unsere Gesellschaft und Wirtschaft wie einen Lichtschalter umgelegt und abgeschaltet.

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Berlin wirkt ausgestorben, kaum Autos, kaum Fahrgäste im ÖPNV, aber auch keine betrunkenen Partygänger.
 

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aib

Erfahrenes Mitglied
18.01.2015
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MZ
Nach ein paar Ostertagen bei der Familie geht es wieder nach FRA. Im Bus zum TXL bin ich der einzige Fahrgast. So geht Social Distance (y)
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Wieder verdränge ich während des Fluges die böse Corona Welt „da unten“ und genieße viel lieber den Ausblick auf Frankfurt. Normalität. Als wäre alles wie immer, als würde es Corona gar nicht geben.
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Bei der Landung wendet sich die FA mit persönlichen Worten an uns Passagiere. Sie wünscht alles Gute und hofft, dass wir der LH treu bleiben (offizielles Wording wäre "gewogen bleiben"). Dann kann sie die Tränen nicht mehr zurückhalten. Es war ihr letzter Flug für eine lange Zeit mit ungewissem Ausgang. Wer will es ihr bei aller Professionalität verübeln. Ich jedenfalls kann es verstehen, hat sich die Luftfahrt in weniger als einem Monat doch um 180 Grad gedreht und damit tausende Existenzen bedroht.

Egal wie um jedes Stück Normalität gekämpft wird es ist nichts normal derzeit in der Luftfahrt. Tausende Flugzeuge am Boden, Insolvenzen unter Airlines, Kündigungen und Hiobsbotschaften gehören zur Tagesordnung. Da rücken die verlorenen Privilegien von uns Statusgästen in den Hintergrund. Überfüllte Lounges oder Schlangen an der Sicherheitskontrolle? Würde ich sofort in Kauf nehmen wenn ich überhaupt wieder Reisen dürfte. Ich denke vielen geht es ähnlich.

Warum schreibe ich diesen Bericht? Klar, einmal um meine Gedanken und Erlebnisse zu schildern.
Hauptsächlich aber weil mir einmal mehr bewusst wurde, was wir in der Vergangenheit genießen durften. Ohne große Einschränkungen in Europa und der Welt reisen. Andere Kulturen und Länder erleben war gerade für uns hier Normalität. Doch die Reisefreiheit und viele andere Grundrechte, die wir in Deutschland genießen durften, sind eben keine Selbstverständlichkeit, sie sind ein Privileg. Und wir müssen als Gesellschaft alles tun um uns dies bewusst zu machen und diese Privilegien nach Corona zurückzuerlangen!

In diesem Sinne wünsche ich uns allen in 2020, spätestens aber 2021 viele neue und vor allem spannendere Reisen als meine innerdeutschen Flüge von Frankfurt nach Berlin. Dann verschone ich Euch auch mit meinen Berichten – das können andere besser. Auf das wir (hoffentlich) schon bald wieder eine wirkliche Normalität erleben dürfen.
Bleibt gesund und bis bald in den Lounges und an den Airports dieser Welt!
 

Fighti

Erfahrenes Mitglied
19.08.2014
3.042
1.212
MLA
Reisefreiheit ist kein Privileg. Ein grenzenfreies Europa ist kein Privileg. Das ist etwas was sich zum Glück in der gemeinsamen Anschauung nach 2 Weltkriegen mit Millionen von Toten (und etlichen Kriegen die 2000 Jahre davor) auf diesem Kontinent durchgesetzt hat.
Ja, es muss um beides gekämpft werden. Nicht weil es ein Privileg ist. Sondern weil es ein Recht ist.