5000 Jahre Weltgeschichte in Cairo und Umgebung

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Wolke7

Erfahrenes Mitglied
30.08.2010
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Diesmal darf meine Wenigkeit das Forum zu einer Erkundung Cairos und ihrer Umgebung einladen. :D Es war eine reine Städtereise im November 2010.
Viel Spaß beim Lesen und 'Miterleben'
Gruß Jens

Das Hotel in Cairo ist wunderschön gelegen. Auf dem Dach eines 7stöckigen Hauses bildet sich ein Innenhof mit dem Ring von Zimmern außen herum. Hier treffen sich alle Gäste zum Plausch, zum Frühstück und zum Relaxen. Mein Zimmer ist zwar stark renovierungsbedürftig, dafür jedoch bequem und funktional eingerichtet. Nach zwei Nächten muß ich das Zimmer mit einem frisch renovierten tauschen.
Die Besichtigung starte ich im Nationalmuseum. Der Weg dorthin ist schon ein Abenteuer für sich. Die sechsspurige Straße wird von mindestens acht Reihen Autos und Motorrädern genutzt, die sich alle hupend und drängelnd den vermeintlich schnellsten Weg bahnen möchten. Irgendwie gelingt mir sogar der Übergang. Nun folgen die langen Prozeduren, bevor man in das Allerheiligste der Kunstschätze Ägyptens eintreten darf. Mindestens dreimal werden die Taschen durchleuchte und sämtlicher Hosentascheninhalt begutachtet; dazu kommt der Erwerb des Tickets. In dem Trubel vermischen sich die vielen Reisegruppen mit den Individualreisenden. Eigentlich muß man den Reiseleitern sogar ein Kompliment machen, daß ihnen kein Gruppenmitglied verloren geht. Das gilt auch für die Ausstellungsräume, in denen sich die neugierigen Besucher drängeln. Mit der Zeit verlaufen sich die Ströme, und das Studium der Exponate geht etwas geruhsamer vor sich.
Die ersten Räume sind dem Alten Reich (ca. 3.000 bis 2.150 v.Chr.) gewidmet. Die Statuen, Malereien, Alltagsgegenstände, Tafeln usw. geben das Ägypten wieder, das jeder seit seiner Kindheit kennt: Hieroglyphen, Kleidung, Frisuren, Schrittstellung, Gottheiten oder Körperhaltung. Geradezu atemberaubend ist der Detailliertheitsgrad der Personen. Finger- und Fußnägel, Bauchnabel, Gesichtszüge, ja sogar die Geschlechtsorgane sind so lebensecht dargestellt, als wäre die Person noch lebendig. Fast alle Figuren sind leicht asymmetrisch dargestellt, so daß sie wirklich wie ein echtes Gegenüber wirken. In dieser Zeit wurden die Leistungen vollbracht, die während der gesamten Pharaonenzeit, also über knapp 3000 Jahre, weitgehend unverändert geblieben sind. Ja, man darf sogar für die Ramessidenzeit eine Massenproduktion annehmen, die zwar dem gestiegenen Wohlstand Ägyptens entspricht, aber auch einen Qualitäts- und Innovationsverlust bedeutete. Der Höhepunkt des Museums ist natürlich der Raum mit den Schätzen aus dem Grab Tut-Ench-Amuns. In dem abgedunkelten Raum kommt der goldene Glanz noch besser zum Tragen als ohnehin schon. Hier möchte ich mir doch die Frage stellen, warum es eigentlich keinen echten Fortschritt in der ägyptischen Kunst und Technologie gegeben hat. Die Pharaonen 1000 Jahre vor Tut-Ench-Amun wurden ähnlich bestattet, und die königlichen Abbilder geben das wahre, vielleicht etwas idealisierte Aussehen des Herrschers wider.
Könnte es sein, daß die Ägypter des Alten Reiches ein Wissen besaßen, das sie zum Schaffen ihrer blühenden Kultur befähigt hat, und daß in späteren Dynastien dieses Wissen nicht mehr gepflegt wurde bzw. sogar verloren gegangen ist?
Wenn es so ist, liegt hier vielleicht der Schlüssel für die logistische und technologische Leistung des Pyramidenbaus in Giza? Diese Spekulation könnte bestenfalls das Know-how des Pyramidenbaus erklären, sie kann jedoch nicht die Frage nach dem Transport und dem Auftürmen der Steinblöcke beantworten.
 

Wolke7

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30.08.2010
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Das koptische Viertel

Am südlichen Rand Cairos liegt das koptische Viertel. Auf engem Raum drängen sich eine Handvoll Kirchen, eine Synagoge, das Museum und ein paar Wohnhäuser. Das Viertel wirkt eher wie ein Freilichtmuseum aus den Tagen des frühen Christentums. Der Legende nach soll in einer kleinen Höhle auf dem Areal die Heilige Familie gerastet haben. Grund genug für Christengemeinden und Klostergemeinschaften genau hier ein geistiges Zentrum zu errichten. Besonders eindrucksvoll sind die 'Hängende' Kirche, die sich an die Tortürme der antiken Stadtmauer 'anhängt', und die Barbarakirche. In beiden finden gerade Messen statt. Die Luft ist von dicken Weihrauchschwaden geschwängert, der meditative Gesang verführt die Besucher zum Schließen der Augen und zum Nachdenken über Gott und die Welt – ganz buchstäblich.
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In früheren Tagen wird die Kirche wohl besser gefüllt gewesen sein; heute sind lediglich die ersten Reihen der drei- bzw. vierschiffigen Kirchen besetzt.
Eine Geschichte besonderer Art bietet die Ezra-Synagoge nebenan: zwischen dem 11. und 19. Jahrhundert war hier eine Truhe aufgestellt, in der die Mitglieder alle Dokumente einwerfen konnten, in denen der Name Gottes vorkam, und die nicht mehr benötigt wurden. Die Juden wollten vermeiden, daß der Name Gottes einfach so auf dem Müllhaufen landet. Statt dessen sollten die Rabbis die Dokumente rituell entwerten, die Ehre Gottes bewahren und zum Schluß den Truheninhalt verbrennen. Das ist jedoch niemals geschehen! So haben sich über 800 Jahre lang Briefe, Verträge, Berichte und allerlei Alltagsnotizen angehäuft. Beim Neubau der Synagoge in den 1880ern haben die Historiker und Philologen plötzlich diesen Schatz entdeckt und ausgewertet. Er gibt den Heutigen einen außergewöhnlichen Einblick in die Handelswege, die Kultur und das Alltagshandeln der Bewohner Cairos. Leider sind die Dokumente und die Ergebnisse hier nicht ausgestellt, nicht einmal in kleinen Auszügen.
Das Koptische Museum zeigt Kunstwerke aus den koptischen Klöstern ganz Ägyptens: Türstürze, Holzbalken, Textilien und Tafeln mit christlichem Inhalt, zum Teil vermischt mit Themen aus der griechischen Mythologie. Es zeigt eben doch, auf wie unsicheren Füßen das junge Christentum in Ägypten gestanden hat.
Zufällig zeitgleich war eine ägyptische Schulklasse im Museum. Die Darstellung z.B. unbekleideter Engel oder der stillenden Madonna hat bei den Pubertierenden kichernde Verwunderung hervorgerufen. Fast möchte man erfahren, was sie denn eigentlich in den Skulpturen sehen bzw. vom Museumsbesuch mitnehmen.
Schließlich unternehme ich noch einen Spaziergang zum Nilometer.
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Im 9. Jahrhundert haben die Araber den Steuersatz der Bevölkerung von der Höhe der Nilschwelle abhängig gemacht. Je mehr Flächen rechts und links des Flusses mit fruchtbarem Schlamm überflutet waren, desto höher waren die erwarteten Ernteerträge und desto höher wurde der Steuersatz festgesetzt. Das ist eine wahrlich grandiose Idee der Besteuerung. Sie teilt das Armutsrisiko zwischen der staatlichen Verwaltung und der Bevölkerung auf und teilt ebenso die Chancen von Jahren des Überflusses. Um dieses System langfristig am Leben zu erhalten, muß die Verwaltung zyklisch kalkulieren. Davon sollten sich heutige Regierungen gerne mal eine Scheibe abschneiden.
 

Wolke7

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Das islamische Viertel

Es ist die Woche des islamischen Opferfestes. Für vier Tage steht das öffentliche Leben Cairos weitgehend still; fast alle Geschäfte sind geschlossen, viele Restaurants haben ihre Öffnungszeiten reduziert ebenso wie die touristischen Sehenswürdigkeiten, und die Straßen füllen sich erst gegen Mittag und sind bis spät in die Nacht mit unternehmungslustigen Menschen gefüllt. Am Dienstag finden in jeder Nachbarschaft die rituellen Opfer statt. Ein Lamm oder Widder wird geschlachtet, ausgenommen und ein Teil an die Armen ausgegeben.
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Besonders eindrucksvoll geschieht die Zeremonie im islamischen Viertel zwischen der Zitadelle und dem nördlichen Stadttor Bab al Futuh. Viele Gassen bestehen aus Schotter, der vom Tierblut tiefrot verfärbt ist, der sonst angenehme Duft von Gewürzen und Tee ist mit dem Gestank frischen Fleisches und tierischen Mageninhalts durchsetzt. Vor einem Fenster drängelt sich eine kleine Menge, um eine Tüte des Opferfleisches zu erhaschen. Schrill kreischende Frauen strecken gierig ihre Arme nach vorne und einfach gekleidete Männer schieben sich durch jede Lücke an das Fenster heran. Mein Versuch eines Schnappschusses wird von einem Anwohner unterbunden. Vielleicht werden durch das Photographieren die religiösen Gefühle verletzt oder es ist ihm schlicht peinlich, daß ein Ausländer die Armut Cairos dokumentiert.
Das islamische Viertel war einst eine gute Wohnadresse. Noch einzelne Häuser zeugen vom Wohlstand der Bewohner und der Bedeutung des Viertels als ganzem. Heute ist das Viertel allerdings ein Sammelort der Armen und des Kleingewerbes. Entlang der Hauptstraßen reihen sich die Moscheen aneinander. Es ist fast wie in pharaonischer Zeit: Zu jeder Moschee gehört ein kleines oder größeres Mausoleum, in dem ein weltlicher Herrscher beigesetzt ist. Manche Tote sind zusätzlich noch durch außergewöhnlich hohe Gebetssäle geehrt, so hat die Hassan-Moschee eine Höhe von etwa 25 Metern und das Minarett ragt als höchstes Bauwerk des Viertels über 80 Meter in den Himmel, obwohl der Mamlucken-Sultan (gestorben 1361) eine eher dürftige Rolle als Politiker gespielt hat.
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Zu den Gebetszeiten schwillt ein kräftiger werdender Gesang von den Minaretten an: Allah hu akhbar, Allah hu akhbar. Von allen Seiten dröhnt das anschwellende Crescendo durch das Viertel, daß man kaum das eigene Wort verstehen kann.
Zwischen den Moscheen stehen eine Reihe typischer Residenzen. Zwei davon sind zu besichtigen: die eine gehörte einem hohen Beamten der britischen Administration, die andere einem erfolgreichen Händler.
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Beide Gebäude wirken wie ein Labyrinth aus Zimmern, Wohnflügeln, Korridoren und Innenhöfen. Das Gemeinsame besteht in der Notwendigkeit einer natürlichen Luftzirkulation in allen Räumen. Sie wird erreicht durch schmuckvolle Holzverblendungen vor den offenen Fensteröffnungen und durch geteilte Luftschächte, die gleichzeitig Ab- und Zuluft in die inneren Räume leiten konnten. Tatsächlich sind noch heute die Räume erfrischend kühl im Vergleich zur Außentemperatur. Die Häuser unterscheiden sich deutlich in der Inneneinrichtung: für den arabischen Kaufmann standen die sozialen Funktionen im Fokus der Einrichtung, d.h. die Bewohner und Gäste konnten sich lange auf den bequemen Sitzkissen unterhalten und von Imbissen und Getränken kosten. Dazu kommt eine architektonische Geschlechtertrennung, die es den Damen ermöglichte, durch kleine Oberlichter heimlich in die Herrenräume zu spähen. Für den britischen Beamten stand die Repräsentationsfunktion im Vordergrund. Er war ein unsystematischer Kunstsammler und hat seine Exponate im ganzen Haus verstreut gezeigt: da sind glänzende Mineralien neben ägyptischen Antikenfunden und altchristlichen Relikten zu bewundern.
Die größten Moscheen haben einen großzügigen Innenhof mit Brunnen für die rituellen Waschungen in der Mitte. An einer Längsseite schließt sich der Gebetssaal an, der durch mehrere durch schlanke Säulen geteilte Reihen (ähnlich den Kirchenschiffen, allerdings quer zur Mihrab) gegliedert ist. Auf diese Weise können mehrere Tausend Moslems gleichzeitig der Freitagspredigt lauschen. Die Ibn Tulun Moschee ist ein gutes Beispiel für diesen Typus.
Zu einigen Moscheen gehörte auch eine Madresa, eine Schule mit dem Schwerpunkt auf Koranexegese. Rund um den Innenhof zweigen einige Räume ab, in denen Bibliotheken, Unterrichtsräume oder Studienplätze eingerichtet waren. In der Abgeschiedenheit von der Außenwelt konnten hier die Schüler das (vermeintlich) Lebensnotwendige lernen; es ist so ähnlich wie in den Klosterschulen Europas. Auch die Kairoer Islamische Universität ist aus so einer Madresa hervorgegangen und gilt heute als die qualifizierteste Hochschule weltweit für Islamic Studies.
Das Islamische Viertel wird gekrönt von einem natürlichen Felsen, auf dem sich seit den Zeiten Saladins die Zitadelle Kairos befindet. Seit Jahrhunderten war sie Sitz der ägyptischen Sultane und wurde bis vor kurzem noch vom Militär genutzt. Heute ist sie eine sehenswerte Besucherattraktion und beherbergt neben zwei Moscheen ein großes Militärmuseum. Vor dem Eintritt müssen die Besucher drei Sicherheitsschleusen passieren. Vor jeder einzelnen herrscht ein chaotisches Gedränge; an diesem Feiertag möchten Hunderte von ägyptischen Familien und Dutzende von internationalen Reisegruppen die Zitadelle besuchen. Die Familien haben natürlich neben Kind und Kegel auch noch prall gefüllte Picknickkörbe dabei. Die Polizei ist mit diesem Ansturm schlicht überfordert und läßt die Besucher eigentlich ohne Kontrolle passieren. In den Höfen und auf den Aussichtsterrassen haben sich überall die Familien niedergelassen. Tatsächlich hat man von hier oben einen weiten Blick über ganz Kairo. Angeblich soll man sogar die großen Pyramiden von Giza im Dunst erkennen können. Aus den Körben kommen reichlich Leckereien und Getränke zum Vorschein, die Kinder toben herum und zwischendrin machen alle noch reichlich Photos.
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Wenn man sich halbwegs mit der Geräuschkulisse angefreundet hat, entdeckt der aufmerksame Beobachter sogar den liebenswerten Charme dieser drangvollen Enge.
Die Muhammed Ali Moschee in der Zitadelle ist ein Höhepunkt für sich.
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Schon von außen fällt die große Zentralkuppel sofort ins Auge; doch erst beim Betreten des Innenraums erschließt sich die Wirkung vollends. Eine weite Zentralkuppel wird von vier Halbkuppeln auf mächtigen Säulen getragen. Alle Kuppeln sind in einem tiefen braun gehalten mit matt vergoldeten kufischen Kalligraphien, in denen Allah, Muhammed und vier Heilige verehrt werden. Der tiefe Braunton setzt sich an den Wänden bis etwa auf halbe Höhe fort; im unteren Bereich sind die Wände weiß gestrichen. So wirkt diese Gebetshalle wie ein Ort, auf dem der Himmel schwebt. In einer Ecke ist der geschmückte Sarg Muhammed Alis in einem kleinen Mausoleum aufgestellt. Hier kann der neugierige Reisende recht deutlich die Verbindung christlicher Reliquienverehrung und islamischer Anciennität miteinander verbinden.
Zum Besuch der Moscheen müssen alle Besucher selbstverständlich ihre Schuhe ausziehen und am Eingang deponieren. Für die Rückgabe wird dann zumindest von den internationalen Besuchern ein Trinkgeld erwartet, das meiner Beobachtung nach auch fast immer gewährt wird. Fast frage ich mich, warum Ägypten ein insgesamt doch armes Land ist. Die Höhe der Eintrittsgelder für Museen, archäologische Stätten und einige Moscheen entsprechen europäischem Standard. Da kommen also täglich viele Millionen US-Dollar zusammen, die von Trinkgeldern und weiteren Einnahmen aus touristischen Dienstleistungen ergänzt, eigentlich sogar vervielfacht werden. Vielleicht ist der Tourismus als einziger leistungsfähiger Wirtschaftszweig zu wenig zur Finanzierung eines mittleren Lebensstandards für alle Ägypter. Außerdem versickert wohl auch eine Menge der Einnahmen in den schwarzen Kassen der politischen Oberklasse.
 

Wolke7

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Das pharaonische Memphis

Am Rand der größten Metropole Afrikas stehen die ewigen Weltwunder der Menschheit, die Pyramiden von Giza und Saqqara. Mit dem Linienbus fahre ich dorthin und schaue schon während der Fahrt, ob sich nicht ein Blick auf die künstlichen Berge erhaschen ließe. Schließlich werde ich an der Schulter angetippt und mir wird bedeutet, an der Kreuzung links abzubiegen und dort einen Anschlußbus zu nehmen oder zu Fuß zum Eingang zu gehen. Wahrlich: da ist die größte Pyramide, gewidmet dem Pharao Cheops. Sie erscheint eher schemenhaft im ständigen Dunst Cairos, wirkt dafür aber gewaltig. Umtost vom hupenden Straßenlärm liegt die Pyramide fast wie zum Greifen nah und doch sind es noch zwanzig Minuten Fußweg. So einen Koloß hatte ich nicht erwartet. Man stelle sich das einmal vor: Memphis, die Hauptstadt des Alten Reiches liegt über 10 km entfernt, eine Stadt, die vermutlich nur wenige Tausend Einwohner, dafür aber den pharaonischen Palast mit dem Regierungsviertel besaß. Eben jener Pharao hat entschieden, daß, na ja, in ferner Sichtweite des Nils, am Wüstenrand, wo allenfalls ein paar Nomaden ihre Zelte aufgeschlagen haben, ein künstlicher Berg geschaffen werden soll, zu dem eine ganz neue Stadt für deutlich mehr Menschen als Memphis selbst errichtet werden muß, mit sämtlichen Zugangswegen einschließlich eines Kanals mit Binnenhafen. Das Baumaterial wurde aus dem Tausend Kilometer entfernten Assuan herbeigeschafft, die Arbeitskräfte wurden wohl aus der ganzen Region rekrutiert und die besten Architekten und Logistiker mußten die Baustelle mit Baumaterial und allen Versorgungsgütern beliefern, daß das Bauwerk innerhalb von 20 Jahren fertig werden konnte. Als Beispiel diente lediglich die kleinere Stufenpyramide von Saqqara. Fast schlottern die Knie und mir stockt der Atem beim Anblick des Pyramidenfeldes von Giza.
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Rund um den Eingangsbereich gestaltet sich der Zugang wie ein Spießrutenlaufen: Ständig versuchen irgendwelche Leute mit falschen Versprechungen Ritte auf Kamelen oder Pferden, dazu geführte Touren oder billige Souvenirs an die Touristen zu verhökern. Da ist der Kameltreiber, der seine freundliche Hilfe anbietet, den Besucher zum Haupteingang zu geleiten; tatsächlich führt 'sein' Weg zu den Ställen. Und da ist der angebliche Ticketabreißer, der behauptet, im Ticket sei eine geführte Tour enthalten. Als Besucher mit Bedürfnis nach Reflexion und genauer Beobachtung muß man sich schon weit abseits der Touristenströme niederlassen, um wenigstens für einige Minuten ungestört den Anblick verarbeiten zu können.
Jetzt stehe ich am Fuße der Cheops-Pyramide und versuche staunend, die Story hinter dem Bau zu verstehen. Technisch betrachtet ist diese Leistung eigentlich unvorstellbar. Nach den gültigen Rechenmodellen mußte alle 2 bis 3 Minuten ein Stein an den rechten Platz eingepaßt werden, und die größte Leistung sind die rechten Winkel an den Ecken – genauer kann man heute mit lasergestützten Instrumenten auch nicht bauen – sowie der Scheitelpunkt mit dem Pyramidion exakt in der Mitte. Fast verblassen weitere Leistungen wie die Einebnung des Geländes oder die labyrinthischen Wege im Pyramideninneren.
Insgeheim habe ich mir die Gesteinsquader sogar größer vorgestellt. Tatsächlich haben die Quader eine Größe von etwa einem Meter Kantenlänge, vielleicht auch etwas mehr. Mit ausreichend starken Arbeitskräften kann man solche Blöcke wohl schon bergauf bewegen.
Noch gewaltiger wirkt die Chephren-Pyramide gleich nebenan, obwohl sie einige Meter kleiner ist.
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Sie steht auf einem höheren Plateau und überragt dadurch die Cheops-Pyramide. Sie ist leicht an der noch erhaltenen Putzschicht am Pyramidion erkennbar. An der Ostseite deuten einige Ruinen auf den Repräsentationscharakter hin. Eine gepflasterte Straße führte vom Nil zur Pyramide hinauf. Rechts und links flankiert von Mauern aus Steinquadern und gekrönt von heute nicht mehr erkennbaren Gebäuden. Das letzte Stück zum Pyramideneingang war wohl wie eine Brücke konstruiert, zumindest deuten die Hohlräume unterhalb darauf hin. Dort zog nach dem Ableben des Pharaos der Trauerzug entlang, um dem Herrscher das ehrenvolle Geleit in die Schattenwelt zu gewähren. Die Träger bugsierten den Leichnam durch den engen, steilen Gang bis in die Grabkammer, wo vermutlich schon alle größeren Gegenstände beim Pyramidenbau eingeschlossen wurden. Schließlich wurden die Keile gelöst, die runden Verschlußsteine rollten aus ihren Halterungen und das Grab sollte für immer verschlossen sein. Fast staunt man sogar über die Geschicklichkeit der Grabräuber, die nicht nur einen Weg durch das Labyrinth in der Pyramide gefunden haben, sondern auch noch die Kraft und das Werkzeug zum Öffnen der Grabkammer besaßen.
Die kleinste der drei Pyramiden, die des Pharao Mykerinos, wurde außen mit schweren Granitsteinen geschmückt. Im unteren Abschnitt sind noch einige polierte Lagen dieser Verkleidung an Ort und Stelle und geben einen vagen Eindruck des Glanzes, der von den Pyramiden unter dem immerblauen Himmel und vor dem Hintergrund der honigfarbenen Sandwüste entstand. Vielleicht kann man sogar eine Relation aufstellen: entweder groß und aus leichtem Sandstein oder klein und aus ewigem Granit errichtet.
Die Archäologen fanden nahe des Binnenhafens eine offenbar schon in der Antike zerlegte Nilbarke, haben sie untersucht und mit viel Experimentierarbeit wieder zusammengefügt. Von ihnen kann der interessierte Laie auch heute einen Eindruck über die Schiffahrt erhalten. Vermutlich konnte diese Barke nur auf dem Unterlauf genutzt werden; es fehlt jeder Kielansatz, und voll beladen lag sie wohl so tief im Wasser, daß sie bei hoher Fließgeschwindigkeit unmanövrierbar gewesen sein dürfte. Am meisten beeindrucken mich die Knoten: viele Lagen dünner Stränge wurden zu einem etwa armdicken Seil gedreht, umwickelt und kunstvoll mit Ösen versehen. Diese Knoten mußten sämtliche Kräfte der Elemente, der Ladung und der Besatzung aushalten. Tatsächlich sehen sie sehr solide aus, und ich würde ihnen vertrauensvoll auch schwere Lasten aufbürden. Anders gesagt: solche Seile können wohl problemlos tonnenschwere Steinquader aushalten.
Ein großes Gedränge herrscht rund um die Sphinx.
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Wer ein attraktives Bild der Figur bei bestem Sonnenschein machen möchte, muß durch einen Tempelkomplex gehen und schließlich einen schmalen Gang entlang zu einer Art Aussichtsterrasse. Hunderte von Touristen möchten am liebsten gleichzeitig durch das einzige Tor dorthin gelangen, gehindert von zurückkommenden Touristen, Souvenirhändlern, die sich mitten in den Weg stellen, und von Touristen, die plötzlich zum Photographieren einfach stehen bleiben. Ein Reiseleiter hält seine Gruppe lautstark zum Weitergehen an, es wäre ausreichend Platz auf der Aussichtsterrasse und dort könnten alle Teilnehmer beliebig photographieren.
Die Legende besagt, daß die Sphinx aus einem überzähligen Sandsteinblock an Ort und Stelle herausgemeißelt wurde. Heißt das, daß aus den Steinbrüchen bei Assuan riesige Blöcke zur Baustelle bei Giza verschifft wurden und erst dort in handhabbare Steinquader zerlegt wurden? Das Pyramidenfeld bei Giza gibt auch noch nach über 4500 Jahren seine Geheimnisse nur bruchstückhaft preis. Dennoch wird vielleicht nie zu klären sein, wie die alten Ägypter die großartigen Pharaonengräber haben errichten können. So lange bleibt es beim ehrfurchtsvollen Satz Napoleons: 4500 Jahre Geschichte blicken auf Euch herab!
Der Ausflug nach Saqqara und Dahschur gestaltet sich recht abenteuerlich. Mit Bussen und Minibussen versuche ich von Giza aus über die richtige Straße zumindest in die Nähe der Pyramiden von Saqqara zu kommen. An der Bushaltestelle frage ich die Umstehenden nach dem richtigen Bus; dabei widersprechen sich die Personen, und am Ende weiß ich immer noch nicht, ob ich an der richtigen Haltestelle stehe und wie ich nach Saqqara komme. Zwischendurch muß ich immer wieder aufdringliche Taxifahrer abwimmeln, die ein schnelles Geschäft wittern und sich mit maßlos überteuerten Preisen für eine Fahrt anbieten. Schließlich steige ich in irgendeinen Bus in die richtige Richtung ein. Wie üblich ist der Minibus nicht nur bis auf den letzten Platz belegt, auf den Bänken sitzen und hocken die Fahrgäste geradezu gestapelt bis unter die Decke. Für mich bleibt der Platz an der Tür, die sich überhaupt nicht schließen läßt. Krampfhaft halte ich mich an der Rückenlehne fest und versuche das Körpergewicht in Kurven und bei den Humps immer in Balance zum Bus zu halten. Die Fahrt führt an einem kleinen Kanal entlang bis nach Ahrad. Dort muß ich in den nächsten Bus umsteigen, der mich nach Saqqara bringt. Zu Fuß biege ich dann in eine Seitenstraße, die an Feldern und einer Vielzahl von Carpet Schools vorbeiführt. Schließlich erreiche ich das Pyramidenfeld an einer Stelle, wo es eigentlich gar keinen Eingang gibt. Die Tourism Police will mich zunächst nicht passieren lassen; na ja, mit freundlichen Worten und einem kleinen Bakshish läßt sich dieses Problem leicht aus der Welt schaffen. Durch den losen Wüstensand stapfe ich zum Komplex mit der Stufenpyramide im Zentrum. Dort muß ich noch einmal die Posten mit einem Bakshish überreden, mich auch ohne Ticket passieren zu lassen. Endlich steht er vor mir: der vermutlich erste monumentale Bau der Menschheit.
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Pharao Djoser bat seinen Haus- und Hofarchitekten Imhotep um ein angemessenes Grabgebäude in Pyramidenform. Der erste Entwurf sah eine etwa 4 Meter hohe Grablege vor, der zweite dann immerhin knapp 9 Meter. Erst der dritte Entwurf wurde realisiert: ein Koloß von über 60 Meter Höhe und durch 6 signifikante Stufen gegliedert. Bedenkt man, daß es bis dahin allenfalls zweigeschossige Häuschen gegeben hat, so fehlt einfach jede Vorstufe von Gebäuden dieser Dimension. Zur Zeit Djosers (oder kurz zuvor) muß also etwas auf der Erde passiert sein, was den Menschen ein Instrumentarium zum Bauen in neuen Maßstäben ermöglicht hat, vielleicht eine mathematisch-technische Revolution oder ein neues Paradigma der Weltanschauung. Im Hotel in Cairo treffe ich dazu Shri; er spekuliert, daß die Sintflut, die außer in der Bibel in den Schriften mindestens 5 weiterer euroasiatischer Kulturen vorkommt, eine blühende Hochkultur, zumindest Teile davon, vernichtet hat, die zum Bau großer Städte fähig gewesen war. Was auch immer Imhotep zum Bau der Stufenpyramide angeregt haben mag, mit der Erweiterung der Nekropole bei Memphis ist ein neues Zeitalter angebrochen. Einige der übrigen Gräber sind für Besucher geöffnet. Sie haben eher den Charakter von Mausoleen, sind jedoch innen durch mehrere Räume gegliedert und mit ausdrucksvollen, bemalten Flachreliefs geschmückt. An mehreren Stellen leuchten die Farben noch strahlend als wären sie erst vor wenigen Tagen vollendet worden. Dort sind typische Alltagsszenen der Landwirtschaft und des häuslichen Lebens ebenso zu sehen wie die typischen Tiere und Pflanzen rund um den Nil (Gänse, Flußpferde, Krokodile, Schilf usw.). Die etwas entfernten Ruinen befinden sich in einem wenig aussagekräftigen Zustand: kleinere Pyramiden sind eingestürzt, Grabmäler weitgehend vom Wüstensand zugeweht. Dennoch gewähren die zugänglichen Orte einen guten Einblick in den Totenkult des Alten Reiches.
Von Saqqara sind die Pyramiden Pharao Snofrus schon zu sehen. Fast scheint es, als wären sie in einem sportlichen Spaziergang leicht zu erreichen. Also mache ich mich auf den Marsch zunächst durch das langgestreckte Dorf Saqqara. Einfache Wohnhäuser mit Läden und Werkstätten im Erdgeschoß säumen den Weg ebenso wie bewässerte Felder, Palmenhaine und wilde Müllkippen. Plötzlich hält ein Eselskarren neben mir, und der Fahrer bedeutet mir doch bitte aufzusteigen. Gerne nehme ich an. Er weist immer wieder stolz auf Einzelheiten am Wegesrand; leider verstehe ich kaum, was er eigentlich meint. Trotzdem nicke ich immer wieder und zeige mein Wohlwollen. Am Fahrtende möchte ich ihm ein Trinkgeld zustecken, was er zunächst bescheiden ablehnt, es aber, Inshallah!, dann doch annimmt. Zum Abschied weist er mir den Restweg: an der nächsten Kreuzung rechts und dann sind die Pyramiden schon zu sehen. Es ist eine Eisenbahnlinie, auf der ich also nach rechts marschiere und dann auch bald die Knickpyramide sehen kann. Jetzt geht es also querfeldein am Wüstenrand auf einer Sandpiste dorthin.
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Als erstes erreiche ich die Rote Pyramide. Natürlich habe ich wieder das Tickethäuschen verpaßt und gebe dem Custoden das übliche Bakshish zum Eintritt in die Pyramide. Über einen steilen Weg im Entengang abwärts gelange ich ins Innere. Nach gefühlten 500 Metern, wahrscheinlich waren es höchstens 50, in der unbequemsten Ganghaltung in diesem Tunnel erreiche ich eine Vorkammer mit dreieckigem Spitzdach und gleich dahinter die eigentliche Grabkammer. Sie besaß einen (heute eingestürzten) doppelten Boden; oben ein großer Raum ebenfalls mit dreieckigem Spitzdach, unten so etwas wie ein niedriger Keller mit einem Schacht als Zugang. Über allem wabert ein stechender Ammoniak-Gestank; kein Wunder, eine Air-Conditioning existiert nicht, und die Besucher vieler Jahrhunderte haben ihre Körperausscheidungen dort gelassen. Jetzt verstehe ich auch die Bedeutung der Warnschilder am Eingang, die Personen mit Klaustrophobie oder Herzbeschwerden den Eintritt verbieten.
Von hier aus ist die Knickpyramide Pharaos Snofru gut zu sehen. Offenbar war der Architekt zu kühn und plante einen steilen Bau mit 55 Grad Winkel. Auf halber Höhe drohten die Außensteine abzurutschen, also mußte der Winkel vermindert werden.
Inzwischen ist es später Nachmittag geworden. Soeben ist die Tourism Police vorgefahren und möchte die Pyramide verschließen. Der Custode bittet mich noch, falls die Polizisten fragen sollten, zu antworten, daß ich ohne Ticket selbstverständlich keinen Zugang in die Pyramide gehabt hätte. Zu Fuß mache ich mich dann wieder auf den Weg ins Dorf, um den Bus zurück nach Giza zu erwischen. Nach kurzer Strecke hält die Polizei neben mir an und bittet mich aufzusteigen. Die Herren wollen endlich Feierabend machen und nehmen mich zum Checkpoint mit, wo ich in eine Motoriksha zur Hauptstraße umsteige und dort tatsächlich den Bus nach Giza erreiche.
 

Mark.Dragon

Erfahrenes Mitglied
25.04.2009
1.694
84
55
Muc
Vielen Dank für den Bericht!

Habe mich beim lesen schmunzelnd an meine Erlebnisse im letzen Jahr erinnert, die teilweise doch recht ähnlich waren..
Insbesonders die Überquerung der Strasse hinüber zum Museum hat sich auch mir doch sehr eingeprägt! ;)

Gruß aus München
Markus
 
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