So weit die Reifen laufen ...

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Wolke7

Erfahrenes Mitglied
30.08.2010
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Den Aufmerksamen der geneigten Leserschaft ist womöglich meine Leidenschaft für das langsame Reisen nicht entgangen. Ein Fahrrad hat sich für diesen Weg als besonders geeignet erwiesen, so daß meine Wenigkeit nun schon seit drei Jahren überwiegend auf dem Drahtesel die Welt erkundet.
Zur Zeit sitze ich bei Gewitterschauern auf der Terrasse einer Unterkunft in Jinghong und denke über neue Ziele nach. Diesmal könnte ich doch mal den Versuch eines Liveblogs unternehmen, lediglich begrenzt durch das Vorhandensein eines Internet-Zugangs in den Weiten des ländlichen Raumes.
Doch seht selbst, was in den nächsten Wochen während einer Streckenreise durch Yunnan passiert.
 
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Wolke7

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Hinflug und Jinghong

Wie kommt man am günstigsten von Berlin nach Jinghong in der südwestlichsten Ecke Chinas? Nach langem Suchen und mit der Erfahrung des Teams von Skytravelagent um rcs gibt es nun eine passende Lösung:
Mit OS via VIE nach ATH in Y
Mit MS via CAI nach CAN in C
Mit CZ via KMG nach JHG in Y

Bis zum Abflug in CAI läuft alles glatt; die Flüge bieten konsistenten Service, das Bodenprodukt einschließlich der Lounges hat die erwartete Qualität, die Flüge sind pünktlich (sogar der Abflug ex VIE war fast pünktlich) und der Pax ist guter Dinge. Zur Qualität der MS-Langstrecke wurde hier schon einiges geschrieben; dem habe ich nichts hinzuzufügen. Siehe auch hier, Post #14. http://www.vielfliegertreff.de/reiseberichte/23906-zu-lande-und-der-luft-durch-vietnam.html
Obwohl auch der Abflug ex CAI pünktlich ist, verspätet sich die Landung um 75 Minuten und dann hat die Boeing773 auch noch eine Außenposition. Zum Glück hat mir das Skytravelagent-Team nicht die MCT eingebucht, sondern eine weitere Stunde Reserve. Die ist jetzt verbraucht, trotzdem muß ich richtig Gas geben. Bei der Immigration darf ich mich in die kurze Schlange der Nationals einreihen, und CZ bietet in CAN eine Abkürzung für die domestic-connections. Geschafft!, dachte ich. Der CI-Agent konnte meine Buchung nicht finden. Erst nach langen Erklärungen und mit der Hilfe seiner Kollegin haben die beiden die Flüge gefunden. Sie konnten das Gepäck zwar bis nach JHG durchchecken, doch nur den Boardingpass für den KMG-Flug ausstellen, weil angeblich oder tatsächlich die MCT in KMG unterschritten sei. Na ja, nicht so schlimm. Mit dem Rat, hurtigen Schrittes zum Gate zu eilen, haben mir die beiden noch einen guten Flug gewünscht.
Das Boarden hatte wirklich schon begonnen. Für mich gab es dann ein opUp in die C. Wie meine Wenigkeit zu der Ehre kommt, ist mir völlig rätselhaft. Einen Status bei Skyteam besitze ich nicht (mehr), Stammkunde bei CZ bin ich ebenfalls nicht. Vielleicht ist es der Langnasen-Faktor oder der sehr kurze Transfer in KMG. Erleichtert lasse ich mich in den Sessel fallen. Die domestic C auf dem Airbus 332 macht einen bravourösen Eindruck: freundliche Farben, Blumengesteck in der Kabine, Begrüßungsdrink und ein großer Monitor des IFE, bloß das Essen hatte Eco-Qualität. Hier können sich viele Airlines eine Scheibe abschneiden. Leider hat die emsige FB meinen Foto-Versuch bereits im Ansatz unterbunden.
Nach der (verspäteten) Landung in KMG muß sich die CI-Agentin erstmal vergewissern, ob sie mich überhaupt noch einchecken darf, da der CI bereits geschlossen ist und alle Systeme heruntergefahren sind. Schließlich klappt es doch, und meine Wenigkeit muß wiederum hurtigen Schrittes zum Gate eilen. Besonders die Kinder schauen mir verwundert zu und nach: sie haben wohl noch nie eine echte, blonde Langnase gesehen. Der einstündige Flug wird mit einer Boeing 733 ausgeführt, ein schon betagtes Gerät in einer Eco only Konfiguration.
Beide CZ-Flüge sind übrigens in Y bis auf den letzten Platz besetzt. Zu spätabendlicher Stunde komme ich in JHG an. Fast trifft mich der Schlag: feuchtwarme Luft weht mir beim Austeigen ins Gesicht. Und dann ist auch noch das Gepäck nicht mitgekommen. Mit Händen, Füßen und einem Lächeln versuche ich dem freundlichen Herrn im Office der Gepäckausgabe die Situation zu schildern. Offenbar hat er doch so gut verstanden, daß er zum Telephon greift und mir die Ankunftszeit ca. eine Stunde später mitteilt. So ist es dann auch.

Die Region Xishuangbanna in der Yunnan-Provinz mit Jinghong als Oberzentrum ist das Land der Dai, einer ethnischen Gruppe, die von den Mongolen im 13. Jh. nach Süden abgedrängt wurde und im heutigen Thailand, Laos, Myanmar und eben im südlichen Yunnan eine neue Heimat gefunden hat. Tatsächlich erinnert das Straßenbild mehr an Südostasien als an China, dazu sind die Straßenschilder nicht nur mit chinesischen und lateinischen Schriftzeichen versehen, sondern auch mit runden, wie sie, so glaube ich, in Myanmar verwendet werden.
In Jinghong und noch mehr im knapp 30 km entfernten Ganlanba kann man recht gut den Umgang der Chinesen mit kulturellen Identitäten ablesen. Die Stadt erlebt seit über 20 Jahren ein gigantisches Wachstum, dem die dörflichen Strukturen schlicht nicht mehr gewachsen sind.
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Also wurde fast die gesamte Innenstadt bis auf einen kleinen Rest abgerissen und durch Neubauten ersetzt. Und selbst dieser Rest zeigt deutliche Verfallsspuren. Beim Spaziergang durch das Manting Village stehen neben den einfachen Pfahl-Holzhäusern mehrstöckige moderne Bauten. Es ist wohl nur noch eine Frage der Zeit bis auch die Holzhäuser verschwinden werden. Andererseits besitzen Neubauten fließendes Wasser, ein dichtes Dach und mehr Platz für alle. Da werden sich bestimmt viele Chines/innen nicht lange bitten lassen.
Mit dem gerade erstandenen Fahrrad unternehme ich einen Tagesausflug in das erwähnte Ganlanba. Zunächst bietet sich ein ähnlicher Anblick. Die traditionellen Häuser stehen auf Pfählen und befinden sich in einem sagen wir mal sanierungsbedürftigen Zustand.
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Über eine Treppe kommt der Besucher in ein Atrium in der Mitte. Von dort gehen rechts und links die wenigen Räume ab: einer als Repräsentationsraum für Gäste und einer als Privatgemach, dazu kommt eine Kochecke. Alle weiteren Aktivitäten spielen sich außerhalb bzw. zwischen den Pfählen ab.
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In Ganlanba ist ein Stadtteil als Nationalpark der Dai-Minorität für Touristen erschlossen. Nur hier werden ältere Häuser erhalten und neue im alten Stil errichtet.
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Die Bewohner sind überwiegend mit touristischen Aktivitäten beschäftigt in den Restaurants, den Souvenir-Shops oder als Animateure ihrer musikalischen Tradition. Im Tempel mit Kloster wird auch heute noch der Hanyana-Buddhismus gepflegt. Die Hallen sind bunt geschmückt mit Phönixen, weißen Elephanten und Pfauen, die auf die Ursprungslegende der Dai zurückgehen.
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Wie so oft in der Welt werden ethnische Traditionen ins Museum verlegt. Im Alltagsleben spielen sie allenfalls bei besonderen Anlässen noch eine Rolle.
Die Fahrt führt über eine Landstraße an den Hängen des Mekong. Die ersten Kilometer nach der Abzweigung aus Jinghong waren nicht nur breit, sondern auch tief nach dem Regen der vergangenen Tage. Danach gab es fast keine Schäden mehr, und die Fahrt verlief angenehm mit Blick über den Fluß. Einmal tauchte ein Schiff auf, dessen Kapitän wohl schwer manövrieren mußte, um nicht in die aufgewühlten Schnellen zu geraten.
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nach Damenglong und zurück

Das nächste Besuchsziel liegt in Damenglong, etwa 60 km südlich von Jinghong. Dazu ist die Hin- und Rückfahrt nur auf derselben Straße möglich, also nutze ich die Chance zu einem weiteren Test des Rades und seines Reiters. Die chinesischen Straßenbauingenieure sind wahre Meister ihres Faches: Der Verkehr besteht zwar heute überwiegend aus Mopeds und Kleinlastern, in der Vergangenheit werden allerdings wohl viele Büffelkarren und Zweitakt-Traktoren hier unterwegs gewesen sein. Für sie müssen sich die Steigungen in moderaten Grenzen gehalten haben; selbst beim Wechsel des Flußtales kann ich bequem im unteren Gang nach oben kurbeln. Kurzum: Beste Voraussetzungen für ein lustvolles Radeln.
Inzwischen ist es früher Nachmittag geworden, und das Ziel liegt schon in Reichweite, als doch noch ein Regenschauer niedergeht. Mit letztem Schwung rette ich mich in die leere Lagerhalle einer Samen- und Getreidegroßhandlung, in der auch schon einige motorisierte Zweiradler Unterschlupf gefunden haben. Der Schauer steigert sich zu einem mehrstündigen Dauerregen. Na ja, alles halb so wild: gleich um die Ecke ist eine Fertiggarage mit Gastronomie, und ein Buch habe ich auch dabei. So komme ich erst kurz vor der Dämmerung in Damenglong an. Hier kann ich doch gleich mal meine gelernten chinesischen Brocken ausprobieren. Die attraktive Dame an der Rezeption trägt sogar ein Namenschild. "Nihao!", so fange ich etwas zaghaft an, "Nihao, meili da, Ewa." Zum Dank erhalte ich ein geschmeicheltes Lächeln. Aha, sie hat also tatsächlich verstanden. Der Rest der Konversation geschieht dann mit Händen und Füßen.
Am nächsten Morgen klettere ich zuerst auf den Observation Tower, die Schwarze Pagode, die später einen goldenen Überzug erhalten hat. Um das zentrale Heiligtum, das eher an einen birmesischen Stupa erinnert, sind zwei Hallen und einige Picknickplätze gruppiert.
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Weit bedeutender ist die Weiße Pagode Manfeilong Da. Das Finden der versteckt in den Hügeln gelegenen Anlage ist nicht ganz einfach: Meine Frage an die Bewohner wird mit immer derselben Geste in die Richtung beantwortet. Schließlich besteht die Schwierigkeit im Finden der 'richtigen' Abzweigung auf eine unscheinbare Dorfstraße. Hier geht es noch einmal auf einem noch unscheinbareren Weg bis auf die Hügelspitze. Bis zuletzt bin ich im Zweifel, ob das wirklich der Weg zu der Pagode sein soll. Zudem hätte ich karawanenweise Reisebusse mit Touristen erwartet, die hier ganz gewiß nicht fahren können; vom Parkplatz und der Wendemöglichkeit ganz zu schweigen. Schließlich liegt die Weiße Pagode doch vor mir: Ein angegrauter Stupa mit einer Runde kleinerer Seitenstupas.
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Für Buddhisten ist dieser Ort ein besonders zu verehrender, da hier angeblich die Füße Buddhas begraben sein sollen. Zumindest in einer Nische unterhalb eines der kleineren Stupas befindet sich ein Fußabdruck Buddhas. Hinter den Blumen kann man den vergoldeten Abdruck erkennen. Na ja, man braucht schon viel Phantasie dafür, oder war Buddha vielleicht ein Verwandter des Yeti mit Schuhgröße XXXXL?
Anhang anzeigen ChinG30DamenglongWei
Der Stupa befindet sich in einem verblaßten Zustand; als der Sockel noch leuchtend bunt und die Pagode strahlend weiß war, muß die gesamte Anlage einen imposanten Eindruck gemacht haben.
Damenglong und Umgebung gilt als Siedlungsgebiet diverser ethnischer Minderheiten. Davon ist im Straßenbild nichts zu sehen. Die Bewohner sind ohne erkennbare Identität gekleidet, eben so wie die übrigen Chinesen an der Küste oder in Sichuan auch.
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Gegen Mittag trete ich die Rückfahrt nach Jinghong an, diesmal ohne Regenschauer und mit angenehmem Rückenwind. Beim Hotel Check In versuche ich noch einmal mein Glück: "Ni you meili da xiao rong." Heute ernte ich nur ein verständnisloses Kopfschütteln; die Intonation ist wohl noch verbesserungsfähig.
 

Wolke7

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nach Dali - Teil I

Heute gehe ich auf den langen Ritt durch die Flußtäler und über die Kämme westlich des Mekong bis nach Dali. Unterwegs sind lediglich ein paar Orte sehenswert; der erste gleich am ersten Tag. Einige Kilometer außerhalb Jinghongs wird mir bewußt, wie breit das Mekongtal eigentlich ist und wie weit es dann in die Berge reicht: 20 km führt die Straße stetig bergauf. Bei einer geschätzten, durchschnittlichen Steigung von 3% wären es 600 Höhenmeter bis zur Abzweigung auf den Nannuo Shan. Dort treffe ich Li und Shan, zwei Radler aus Menghai, die mit ihren neuen Rädern zu einer Wochenendspritztour unterwegs sind. Zwar können wir uns verbal nicht verständigen, doch möchten sie ebenfalls auf den Nannuo Shan, und wir starten gemeinsam den Aufstieg. Ob das wohl gutgehen wird? Die beiden sind deutlich jünger als ich und fahren technisch hervorragende Räder, zudem haben sie kein Gepäck dabei. Doch schon an der ersten steileren Kurve bekommt Li mit seinem Übergewicht große Probleme. So steigen wir alle ab und schieben erst einmal. Das Ziel besteht in einem Methusalem der Tee-Bäume. Yunnan soll die Heimat der Teezubereitung sein, insbesondere stammt der Pu'er Tee von hier. Vor langer Zeit haben Teebauern ihre Ernte in die nächste Stadt verkaufen wollen. Während des mehrtägigen Transports hat bereits eine natürliche Fermentierung eingesetzt, die dem Tee eine besondere geschmackliche Identität verleiht. Später hat sich gezeigt, daß die älteren Bäume diesen Geschmack noch weiter verfeinern. Jener Methusalem ist rund 850 Jahre alt, bei weitem nicht der älteste Baum, aber recht leicht von der Hauptstraße erreichbar. Die beiden Chinesen fragen immer wieder die Anwohner, ob wir noch auf dem rechten Weg sind.
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Allein hätte ich diesen Baum in dem Labyrinth aus einfachen Wegen und Trampelpfaden nie gefunden. Völlig unspektakulär steht dann schließlich ein knorriger Baum inmitten eines Hains wilder Teebäume. Daneben bietet eine junge Dame in einem rohen Holzverschlag eine Teeverkostung an; von einer Teezeremonie ist das Geschehen endlos weit entfernt, doch sitzen wir auf der rohen Holzbank und schlürfen das leckere Getränk. Zwar kann ich mich an dem Gespräch nicht beteiligen, dafür schenkt sie mir das winzige Glas immer wieder voll.
Am späten Nachmittag fahren wir gemeinsam nach Menghai, wo sich Li und Shan verabschieden nicht ohne mir ein gutes Gästehaus empfohlen zu haben. Diese Begegnung hat wirklich Spaß gemacht, obwohl oder gerade weil wir völlig unterschiedliche Vorerfahrungen mit den Rädern haben und dennoch einen gemeinsamen Nenner gefunden haben.
Was soll man bloß machen, wenn über Wochen hinweg Dutzende von Wespenschwärmen das Leben zur Qual machen? Zwei fromme Bewohner aus Jingzhen haben dem kleinen Kloster vor Ort eine Pagode mit einem aufwendigen Dachaufbau gestiftet. Diese Aktion ist nun über 300 Jahre her, sowohl Kloster als auch Pagode stehen immer noch – bloß, ob die Stiftung wirklich gegen die Wespen geholfen hat, überliefern die Annalen nicht. Besonders die Große Halle ist außen mit einem Fries in kräftigen, verwitterten Farben geschmückt, die Szenen aus dem Leben Buddhas zeigen und das Wohlgefühl gläubiger Menschen idealisieren. Etwas verwundert bin ich nur, weil meine Wenigkeit der einzige Besucher ist; dabei liegt die Pagode verkehrsgünstig direkt an der Hauptstraße und gilt als Pilgerstätte.
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Ja, die Hauptstraße! Sie ist die einzige Straße nach Norden überhaupt, und sie führt ab Mengzhe über Bergkämme, durch Flußtäler und durch kaum besiedeltes Gebiet. Ich muß schon weit vorausplanen, um mit hoher Wahrscheinlichkeit ein Guesthouse und Verpflegung zu erhalten. Dazu kommen die Unwägbarkeiten aus Gewittern und Erdrutschen, die die Fahrt verlangsamen bzw. die Straße ganz blockieren.
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Und dann sind da ja auch noch die endlos scheinenden Aufstiege bei subtropischen Temperaturen. Wie einfach hat es da ein Schmetterling?
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Am dritten Tag am späten Nachmittag nach einem langen Anstieg entdecke ich ein offenes Fenster und Bewegung dahinter. Das könnte ein Laden sein, freue ich mich schon, der meine trockene Kehle erfrischt. Die (Groß)Familie sitzt gerade beim Abendessen beisammen und ist über den komischen Besucher echt erstaunt, dann lädt mich das Oberhaupt kurzerhand dazu. Es stellt sich heraus, daß das Haus zu einer großen Teefarm gehört, die hochwertigen Pu'er Tee anbaut. Die Familie gehört zur gehobenen, ländlichen Bevölkerungsschicht; entsprechend großzügig ist sie mit modernen Gebrauchsgegenständen ausgestattet, z.B. zwei Autos. Zudem hat heute der 16jährige Sohn Geburtstag. Nach dem Essen gibt es zum frischen Tee die chinesische Torte: ein loser Hefeteig mit einem dicken Belag bunter Schlagsahnen-Dekoration und einer Plastikblüte mit Tischfeuerwerk, die auch noch ständig 'Happy Birthday' wiederholt.
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Schließlich ist es Abend geworden, und ich darf in einem freien Zimmer übernachten, in dem sonst die Farmarbeiter nächtigen. Obwohl nur die beiden Töchter etwas englisch sprachen, unterhalten wir uns köstlich. Wahrscheinlich halten sie mich für verrückt; wer kommt schon auf die Schnapsidee, hier, in dieser wilden Gegend mit dem Fahrrad unterwegs zu sein?
 
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nach Dali II

Inzwischen ist etwa die halbe Strecke nach Dali geschafft. Die Berge mit ihren Tee- und Tabakfeldern sind zwar schön anzuschauen, doch zehren die langen Anstiege spürbar an den Kräften.
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Wieder geht es über 15 km stetig bergauf bis der Sattel erreicht ist, nur unterbrochen von kurzen Schauern. Danach führt die Straße moderat nach Bo Shan bergab. Jetzt nehme ich mir vor, die nächstbeste Gelegenheit für eine Rast zu nutzen und mich am besten gleich für zwei Nächte einzuquartieren. Es ist ein gepflegtes, familiäres Restaurant mit einfachen Gästezimmern in Sichtweite der Kleinstadt. Drei Generationen leben hier zusammen, und jedes Familien-Mitglied hat bestimmte Aufgaben; auch der dreijährige Sohn begrüßt die Gäste mit einem lachenden 'Bye-Bye!' Um mich kümmert sich die jugendliche Tochter, weil sie am besten englisch spricht. Bei jeder Begegnung fragt sie nach meinen Wünschen und ob alles zu meiner Zufriedenheit sei. Insgesamt eine angenehme Atmosphäre; für die Familie, weil sie eine Langnase beherbergen, und für mich ebenfalls. Von der Terrasse habe ich einen weiten Blick ins Tal hinein, der Gastraum macht einen ländlich einfachen Eindruck und das Essen wird von der Dame des Hauses selbst zubereitet. Der nächste Tag empfängt die Frühaufsteher mit Regen, der für volle 3 Tage anhalten wird. Für mich die Gelegenheit zum Durchprobieren der Küche. Ein Gericht war so scharf, daß jeder feuerspeiende Drache nur ein zartes Glimmen hervorbringt im Vergleich zu meinem Atem. Na ja, aus den geplanten 2 Nächten sind so 5 geworden. Und dann geht es endlich weiter.
Schon am nächsten Abend ergibt sich eine ähnliche Situation: Diesmal nehme ich Quartier in einer Art Motel mit Gastronomie. Hier übernachten fast ausschließlich Trucker, und Durchreisende nehmen eine Mahlzeit ein. Die beiden jugendlichen Schwestern sind ganz hingerissen. Zum ersten Mal im Leben haben sie die Chance zum Ausprobieren ihres in der Schule gelernten Englisch. Ja, es klappt schon ganz gut. Wenn ich an meine Sprachkompetenz mit 13 oder 16 denke, dann sind die beiden Mädchen mindestens eine Stufe besser. Nebenbei versuchen sie mich mit ihrer Tante zu verkuppeln; eine geschiedene Dame mit 40 hat in China derzeit noch keine Chance auf einen neuen Lebenspartner. Schließlich machen wir noch ein paar Erinnerungsphotos, zu dem sich auch die beiden männlichen Mitglieder der Großfamilie gesellen.
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Die Straße führt wieder steil bergauf, dann auch mal wieder kilometerweit rasant bergab. Zum Glück ist die Infrastruktur in dieser Gegend deutlich besser als noch im Süden. Wenn ich mal wieder ausgelaugt eine Verschnaufpause benötige, finde ich immer eine passende Gelegenheit für eine Rast mit Getränken und Übernachtung. Nach einer weiteren langen Abfahrt passiere ich die Hängebrücke über den Mekong, anschließend geht es wieder laaanng bergauf.
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Das Städtchen Gang Long fällt durch arabische Kalligrapien über manchen Hauseingängen und durch Damen mit Kopftüchern auf. Plötzlich schallt sogar der Ruf des Muezzin 'Allah hu akbar' durch die Stadt. Ansonsten führt der Ort ein beschauliches Dasein. Einmal pro Woche findet ein großer Markt statt, zu dem die Bauern der Umgebung mit ihren Eselskarren eingeritten kommen. An den übrigen Tagen bieten die lokalen Händler ihre Waren auf der Hauptstraße feil.
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Jetzt sind es noch zwei satte Anstiege jeweils über 15 km lang und zwei ähnlich lange Abfahrten, dann liegen Dali und der Er Hai vor mir. Bei der Ankunft in der Neustadt Xiaguan am späten Nachmittag fängt es mal wieder zu regnen an, so daß ich mir schnell eine Unterkunft suche und erst am Folgetag die Altstadt erreiche.
 

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Dali und der Er Hai

Nördlich der Neustadt beginnt eine Region allerbesten Fengshuis. Zumindest haben die Geomanten das Land zwischen dem Er Hai (Ohrensee) und den Bergen im Westen als von den guten Geistern beschütztes Gebiet interpretiert. Während der Ming-Dynastie ist das Zentrum Dalis von einer mächtigen Mauer umschlossen gewesen. Doch später hat die Verlegung der Stadt an die Südspitze des Sees die alte Stadt verblassen lassen. Übrig blieben eine Handvoll Klöster und Tempel sowie die traditionellen Holzhäuser der Altstadt. Erst vor ungefähr 20 Jahren, als der Tourismus innerhalb Chinas größere Ausmaße angenommen hatte, wurde der Wert Dalis neu entdeckt.
Heute präsentiert sich die Region als ein touristischer Hotspot im westlichen Yunnan. Die Altstadt ist und wird weiter erneuert mit Steinhäusern, die den traditionellen Stil nachahmen, die Klöster und Pilgerstätten sind renoviert und in den Geopark der Berge führen zwei Seilbahnen. Das touristische Zentrum liegt rund um das South Gate: Hier kommen die Reisegruppen zum Start ihrer Tour durch die Altstadt an. Vorbei geht es an unzähligen Souvenir- und touristischen Shops, die von Textlien bis Goldschmuck ihr Angebot präsentieren, und an Restaurants und Garküchen. Alles ist auf gut organisierten, chinesischen (ostasiatischen) Massentourismus zugeschnitten. Die Gäste zücken auch bereitwillig ihre Kameras und lichten sich mit den Damen in Bai-Kostümen ab. Die wenigen westlichen Besucher vermissen vor allem gemütliche Plätzchen in Straßen-Cafes mit Ausblick auf das quirlige Treiben und zum Genießen der kleinstädtischen Atmosphäre. Mein Guesthouse ist wie die meisten Häuser von einer hohen Mauer mit einem imposanten Torbogen umgeben, der jedes Anwesen zu einem privaten Refugium mit Innenhof macht. Die weißen Außenwände sind durch ein Dach aus grau-schwarzen Schindeln geschützt und mit stilisierten Blüten geschmückt. Darunter verläuft ein Fries mit imitierten schwarzen Tuschezeichnungen; sie zeigen im typisch perspektivlosen Stil massive Bambusstangen, skurrile Berglandschaften und zarte Frühlingsblüten. Die schweren, gedunkelten Holztüren sind mit geschnitzten Reliefs verziert. Verschlungene Drachenschwänze, fliegende Phönixe, phantasievolle florale Szenen und ein paar geometrische Muster fangen bei jedem Durchschreiten den Blick ein.
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Die chinesischen Gäste und Hausfreunde spielen häufig Karten, Würfel oder Domino; dabei gehen reichlich 100-Yuan-Scheine ohne mit der Wimper zu zucken über den Tisch. Zum Vergleich: 100 Yuan sind für mich das durchschnittliche Tagesbudget für Übernachtung und Verpflegung.
Etwas außerhalb der Altstadt steht das Chongsheng Kloster mit prachtvollen Gebetshallen und drei pittoresken Pagoden. Die Pagoden stammen aus dem 9. Jh. nach dem Vorbild der Wildganspagode in Xian. Die größte ist in 16 'Stockwerke' gegliedert und mit knapp 70 Meter das höchste Gebäude weit und breit. Sie hat alle Unbilden der Zeit überstanden und strahlt in ihrer hellen Farbe etwas von Reinheit und Erhabenheit aus.
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Die Funde der Umgebung weisen die Pagoden und das Kloster als ein spirituelles Zentrum aus, in dem besonders Kwanyin verehrt wurde. Ihre/seine Darstellung weist gemischte Geschlechtsmerkmale aus: einen weiblichen Oberkörper, einen männlichen Unterleib, dazu unnatürlich lange, schlanke Arme und übergroße Hände. Die 'Zuständigkeit' Kwanyins ist mir nicht klar geworden; sie/er trägt keine erhaltenen Attribute, lediglich die rechte Handhaltung ähnelt der eines segnenden Jesus.
Das Kloster schmiegt sich an den Hang an, d.h. der neugierige Besucher steigt nach und nach die Treppen hinauf bis zu einer Halle, die durch 10 kleine Figürchen auf dem Dachausschwung ausgewiesen ist. Hier ist geradezu das Pantheon des Buddhismus vertreten: der zentrale, vergoldete Boddhisattwa ist umgeben von zahlreichen Schutzgöttern und Tieren, dazu kommen hölzerne Reliefs an allen Wänden. Der Opfertisch ist reich gefüllt mit Lebensmitteln und Geldscheinen. Danach zu urteilen verachtet der Boddhisattwa weder eine feine Küche noch Hausmannskost.
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Weiter aufwärts folgt dann nur noch der Lakeview-Tower von dem aus ich tatsächlich eine 'großartige' Aussicht in den Dunst über dem See habe.
Die Klosteranlage folgt einer strengen Symmetrie: die Gebetshallen und Wege reihen sich wie Perlen entlang der zentralen Achse, daneben finden Ponds, Seitenhallen und begrünte Flächen ihren Platz. Eine perspektivische Seitenansicht zerstört die Harmonie, denkt der Photograph und paßt sich an.
Irgendwo in den Hängen soll ein Monolith stehen, in den in den 760ern ein historisch gebildeter Mönch Episoden der Regionalgeschichte gemeißelt hat. Nach der Anzahl der Steinmetze wimmelt es nur so von Monolithen, und die meisten Schmuckfelsen tragen auch Aufschriften. Gehört doch in jeden Innenhof: ein Felsblock aus bestem Fengshui mit einem Wunsch nach Glück und Reichtum, oder?
Dali und seine unmittelbare Umgebung sind touristisch weit entwickelt. Die Tour um den See starte ich also mit dem Vorsatz, das ländliche Leben abseits der Reisegruppen entdecken zu wollen. Bei der ersten Gelegenheit biege ich rechts zum See hin ab, in einen Landstrich, der auf keiner Karte verzeichnet ist. Es sind jedoch einige Dörfer und viele kleine Reis-, Mais- und Tabakfelder zu sehen. Es muß doch zwischen den Dörfern und Feldern ein paar Wege geben!? Ja, es gibt sie; meist sind es unbefestigte Geröllpfade ohne Wegweiser, auf denen gerade einmal zwei Fahrräder nebeneinander Platz finden.
Dem ersten Eindruck nach sieht es so aus wie in der Altstadt Dalis: die Holzhäuser sind fast vollständig durch moderne Steinresidenzen im gleichen Stil ersetzt. Jede Siedlung besitzt ein kleines 'Zentrum' mit einigen Läden und Platz zum Feilschen und Handeln. Heute sitzen dort auch die Alten; die Damen tragen an ethnischen Vorlagen orientierte Kleidung, die Herren blaue Mao-Anzüge.
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In einer schattigen Ecke schneidet ein Friseur Haare. Alles strahlt eine gemächliche Ruhe aus. Nur auf den Feldern wird hart gearbeitet; Maschineneinsatz ist noch ein Fremdwort, so werden die Felder von Hand gepflügt, abgeerntet und die Ernte (Maiskolben, Lemongrass) in Tragekörben zu Fuß ins Dorf gebracht.
Was wird sich in Bälde wohl ändern? Eine Uferstraße rund um den Er Hai ist in Bau und hat die ersten Bauabschnitte bereits passiert. Für den lokalen Verkehr ist diese Straße schlicht überflüssig: erstens sind die beiden Hauptstraßen bei weitem nicht ausgelastet, zweitens liegen zwischen dem See und der nächsten Hauptstraße nur 1 – 3 km. Es sind die Touristen, die eine Panoramastraße mit bestem Blick über den See auf die gegenüberliegende Bergkette erhalten. Dazu werden auch einige Hotels, Incoming-Agenturen und Restaurants kommen, die das bereits jetzt großzügige Angebot an Betten usw. noch weiter ausdehnen. Oder werden weitere Neubauflächen ausgewiesen, auf denen Apartment-Anlagen für Investoren entstehen? Das Dorf Shuang Long am Nordostufer ist ein guter Indikator: die Uferstraße ist zwar noch nicht fertig, dennoch sind bereits einige Hotels und gehobene Restaurants eröffnet. Sonst ist der kleine Ort durch das dörfliche Leben der Bewohner gekennzeichnet.
Am nächsten Morgen unternehme ich einen Spaziergang ein Stück am Ufer entlang. Dort hinten verlaufen ein paar straff gespannte Seile ins Meer. Was das wohl ist? Es sind Fischer, die ihre langen Netze am Vorabend ausgebracht haben und jetzt den Fang an Land ziehen. Die ganze Familie packt mit an, insgesamt fünf Personen; einer bedient die Motorwinde, zwei ent- und verknoten das Seil mit dem Netz und je eine Person entwirrt das Netz und legt es zusammen. Endlich ist der Fang an Land gezogen: vier Körbe mit kleinen, länglichen und fast durchsichtigen Fischen. Sofort erscheinen Händlerinnen (oder weitere Familienmitglieder) und transportieren die gefüllten Körbe ab.
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Erst kurz vor Dalis Neustadt kann man wieder von einer asphaltierten Straße sprechen. Sie beginnt etwa auf der Höhe des winzigen Eilands Putuo, das einen Kwanyin-Tempel aus der Ming-Zeit trägt.
 
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Auf der Landstraße nach Kunming

Die kürzeste Verbindung zwischen Dali und Kunming ist der Expressway, der für Radfahrer allerdings nicht zugelassen ist. Ich nehme also die alte Landstraße durch viele Kleinstädte und Dörfer. Gleich zu Anfang schlängelt sie sich aus dem Tal über einen Kamm. Hier überkommen mich ernste Zweifel, ob diese Straße überhaupt die ehemalige Fernstraße ist. Noch vor Kurzem mußte der gesamte Verkehr hier entlang, und jetzt besteht die 'Straße' überwiegend aus Geröll und unleserlich verrosteten Schildern. Eigentlich kann ich gar nicht verkehrt gefahren sein, denn Kreuzungen oder Abzweigungen gibt es keine. Die Linienbusse geben mir schließlich doch die Gewißheit des rechten Weges. Ihre Ziele benennen Orte, durch die auch ich fahren möchte.
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Am Nachmittag komme ich in einer Kleinstadt an. Meine Karte kennt nur chinesische Schriftzeichen; deshalb weiß ich zwar fast immer, wo ich bin, doch bleiben mir die Städtenamen unbekannt. Also in dieser namenlosen Kleinstadt überrascht mich einer der täglichen Regenschauer. Die Zeit verrinnt beim Warten vor einem Laden. Mit mir warten ein paar Einheimische; sonst bleibt das Leben während des Schauers einfach stehen. Der Laden-Besitzer stellt uns ein paar Hocker hin und versucht eine Konversation. Doch leider finden wir wie üblich keine gemeinsame Sprache. Schließlich checke ich genervt vom Regen in einem Hotel ein, das offensichtlich aus den 70er Jahren stammt und schon bessere Tage erlebt hat. Vielleicht war es einmal das beste Haus am Platze und gut besucht, solange der Durchgangsverkehr hier rastete. Heute macht es einen heruntergekommenen Eindruck und wird nur von wenigen Gästen frequentiert. Selbst die Trucks auf dem Hinterhof sehen aus, als wären sie dort zum Ausschlachten abgestellt. Für die meisten Bewohner bleiben nur noch die Landwirtschaft oder einige Kleingewerbe als Erwerbsquellen übrig. Auf den Straßen tragen sogar alte Frauen und Männer das gesammelte Holz nach Hause. Die mannshohe Last der Körbe und Tragegestelle ruht dabei auf der Stirn der Träger/innen und wird auf dem Rücken durch ein Fell bzw. eine roh geflochtene Matte abgepolstert.
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So düster zieht sich die Strecke nach Kunming etwa bis zur Hälfte hin. Nach dem Passieren einer größeren, modernen Stadt, deren Name ich ebenfalls nicht kenne, scheine ich in einer veränderten Welt angekommen zu sein. Die Straße ist hinreichend asphaltiert, es gibt kaum noch verfallene Häuser, und Neubausiedlungen in den Kleinstädten zeugen vom wachsenden Mittelstand. Auch die Landschaft hat sich verändert: Die Berge ringsum sind nur noch höchstens um die 3.000 m hoch und die Flußtäler bieten ausreichend Platz für eine Landstraße.
Kurz vor Kunming muß ich noch eine letzte Anhöhe überwinden und dann scharf nach rechts in die Westberge (Xi Shan) abbiegen. Das Areal besitzt ein ähnlich hochwertiges Fengshui wie das Westufer des Er Hai: Vom Dian See (Dian Chi) steigt das Land steil an und bildet eine bewaldete Bergkette mit vier Gipfeln. Nach traditioneller Vorstellung ist jeder Gipfel einem der vier indisch-chinesischen Himmelskönige gewidmet, einer Art Titanengruppe, die etwa die Eigenschaften der vier Elemente und der Kardinaltugenden in sich vereinigt. Kein Wunder, daß die Bergkette seit Urzeiten als heiliger Ort gilt, und deshalb Mönche aus nah und fern ihre Tempel und Klöster errichteten.
Heutige Pilger können mit der Seilbahn, dem Linienshuttle oder privatem Fahrzeug bis zum Visitor Center gelangen; für einen neugierigen Radreisenden ist selbstverständlich der Aufstieg auf dem Drahtesel die adäquate Methode. Am Parkeingang stellen viele Familien ihre Autos ab und pilgern die Serpentinen aufwärts. Entlang der Straße zwischen dem Parkeingang und dem Visitor Center liegen bereits einige buddhistische und daoistische Gebetshallen. Die Hierarchie der Wächter und Himmelskönige ist am besten im Huating Si (Blumenpavillon-Tempel) zu erkennen: vor der Gebetshalle stehen zwei Wächterfiguren mit grimmigen Gesichtern, in der Vorhalle die vier Himmelskönige mit ihren Attributen in Händen. Je zwei sind den starken und weichen Tugenden gewidmet, also Stärke, Potenz, Gewitter versus Harmonie, Ästhetik, Fruchtbarkeit und Mäßigung. Die Haupthalle mit drei goldüberzogenen Buddhas schließt sich an. In der Nebenhalle stehen 500 Luohan-Figuren in unterschiedlichen Posen und mit verschiedenen Gesichtern.
Kurz hinter dem Visitor Center geht es auf Treppen und schmalen Pfaden weiter aufwärts. Ursprünglich lagen die heiligen Plätze in in den Fels gehauenen Nischen und Höhlen,
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erst später haben die Mönche bunte Tempel errichtet. Zur höchstgelegenen Nische, dem Drachentor führt ein Tunnelweg, der in über 70 Jahren harter Arbeit durch den Fels getrieben wurde.
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Hier oben fällt die Bergwand fast senkrecht nach unten ab und bietet für Schwindelfreie einen spektakulären Ausblick über den Dian See. Ganz hinten, im Dunst an der Nordspitze muß Kunming, das Etappenziel liegen.
 
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Wolke7

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30.08.2010
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Hallo Bilbo,
fast ist mir die Antwort peinlich :eek:: das Rad habe ich in Jinghong gekauft. Es ist ein 26er Mountainbike mit 18 Gängen und zu kleinem Rahmen. Mittlerweile sind zwei Speichen gebrochen, das Hinterrad hat eine schwungvolle Acht und an der Vordergabel sieht man schon Roststellen, aber es fährt noch (y). Gerade heute habe ich es übrigens verschenkt; am Samstag fliege ich nach Shenzhen SZX und besuche noch ein paar Freunde.
 

Wolke7

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30.08.2010
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Bei nächster Gelegenheit wirst Du hier ein Foto finden.
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Es ist das gelbe Fahrrad mit dem Gepäck. Die beiden anderen Räder gehören zwei Chinesen, die ich unterwegs getroffen habe. Wir sind gemeinsam auf den Nannuo Shan zu einem Methusalem der Teebäume gefahren, genauer gesagt haben wir die Räder viel geschoben, weil die beiden nicht so trainiert sind und die Trampelpfade ein Fahren nicht zugelassen haben. Um uns herum ein Hain wilder Teebäume. In der Holzhütte hat eine charmante Dame frischen Pu'er Tee angeboten und die Tradition, den Anbau und die Zubereitung erklärt - leider nur auf chinesisch. Weitere Details siehe oben in diesem Thread.
Der Kauf des Rades war übrigens etwas 'merkwürdig': Im Hotel hat mir die nette Dame an der Rezeption einen Fahrradladen genannt, der zwar ein paar Räder hatte, aber mit dem Verkauf von Rädern nicht sein Kerngeschäft betreibt. Dort wollte man überzogene 4.000 Yuan (etwas über 400 €) für ein gutes Rad haben. Beim Bummeln durch Jinghong habe ich dann einen Laden mit einer großen Auswahl an Rädern für Kinder und Jugendliche gefunden. Dort habe ich das Rad mit dem größten Rahmen, eine längere Sattelstütze und zwei Ersatzschläuche für moderate 420 Yuan erstanden. Es ist eben ein einfaches Rad, hat aber die Tour mit nur kleineren Blessuren überstanden. Unter den öfters schweren Bedingungen und beladen mit etwa 20 kg Gepäck nebst einem europäischen Reiter ist das eine hochwertige Leistung.
 
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Wolke7

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30.08.2010
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Die Stadt des Ewigen Frühlings

Die Gegend um Kunming ist seit Jahrtausenden von Menschen besiedelt und liegt in der Einflußsphäre indischer, mandschurischer und chinesischer Kultur. Endgültig zu China kam die Stadt im 17. Jh. und mußte auch dann noch mehrere blutige Rebellionen und Kriege überstehen. Erst in neuester Zeit baut sich die Stadt des Ewigen Frühlings durch ihre ganzjährige Blütenpracht und den Handel mit den Nachbarn in Südostasien ein friedliches Image auf.
Der erste Eindruck ist positiv: die Highways in die Stadt sind großzügig mit Fahrradspuren angelegt und mit Blumen geschmückt. Die Ausschilderung ist für Ortskundige leicht verständlich, und die Neubausiedlungen am Stadtrand machen einen modernen Eindruck. Die Innenstadt rund um die Jinbi Lu und die Zhengyi Lu ist als Fußgängerzone eingerichtet, an der moderne, bisweilen futuristische Malls und Glaspaläste stehen. Kurz: das Zentrum Kunmings erfüllt die Bedürfnisse des weltgewandten Publikums im globalen Stil. Auf älteren Karten findet man noch zwischen den engen Gassen eine Moschee, diverse Open-Air-Märkte und ein Wohnviertel. Dieses typische 'Chinatown' befindet sich nun südlich der Jinbi Lu zwischen den beiden antiken 13stöckigen Pagoden. Selbst hier wurden die bescheidenen Häuser durch neue im historisierenden Stil ersetzt und als Restaurants, Ladenlokale und Herbergen eingerichtet.
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Der ganze Straßenzug wirkt in seinem Ausdruck chinesischer als in gewachsenen Vierteln, und zugleich durch die Künstlichkeit unchinesischer als in realen Verhältnissen. Darf man diese Mischung eigentlich als 'Chinatown' mitten in einer großen chinesischen Stadt bezeichnen? Ein japanischer Reisender, der bereits mehrere City-Trips in China unternommen hat, ist von Kunmings Innenstadt sichtlich angetan. Einmal abgesehen, daß unser Erfahrungsaustausch auch etwas über den Geschmack fernöstlicher Reisender aussagt, erweist sich für mich in aller Bescheidenheit der Vorzug des Radfahrens: Meine Wenigkeit erlebt eben nicht nur die Schokoladenseiten einer Region, sondern muß zwangsläufig auch am natürlichen Leben jenseits teilnehmen.
Die historischen Orte Kunmings liegen allesamt nördlich des Zentrums. Der Yuantong Tempel symbolisiert den Kampf des Guten gegen das Böse. Einem Mythos nach lebte einst in einem Tümpel ein grausamer Drache. Die Bewohner bauten bereits im 8. Jh. einen Pavillon mitten im Wasser, um das Untier zu bändigen. Seitdem wurde der Tempel mehrfach neu- und umgebaut und präsentiert sich heute im Stil der glanzvollen Ming-Zeit: der Pavillon steht immer noch im Tümpel, und dahinter wird in der Gebetshalle Buddhas gedacht.
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Auf dem Gelände herrscht ein dichtes Gedränge; offenbar ist dieser Tempel so populär, daß Tausende von Pilgern hierher kommen und inbrünstig beten.
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Tatsächlich habe ich nur an wenigen Orten Chinas die Gläubigen so tief im Gebet versunken erlebt.
Gleich nebenan liegt der Smaragd-See-Park, den der General Wu Sangui, ein kaisertreuer Militär, hat anlegen lassen. Ursprünglich waren die Gebäude im Stil des ming-kaiserlichen Chinas errichtet; ein Affront gegen die regierenden Qing-Mandschuren. Davon ist heute allerdings wenig zu sehen. Der Park gleicht einem Jahrmarkt, auf dem Leckereien für den Gaumen, Souvenirs und Spielzeug sowie billige Textilien feilgeboten werden. Dazwischen tanzen Gruppen ihre Körperübungen oder meditieren beim 'Schattenboxen'. In all dem geschäftigen Treiben finden auch noch junge Pärchen stille Plätzchen.
Noch weiter außerhalb Kunmings liegt der Hügel des Singenden Phönix. Einer vielleicht wahren Begebenheit nach hat der Gouverneur Yunnans während eines Spaziergangs hier einen der buddhistischen acht Unsterblichen getroffen und ihm zu Ehren den Goldenen Tempel gestiftet. Kurz darauf wurde der Tempel jedoch abgetragen und in der Nähe des Er Hai wegen des besseren Fengshuis neu errichtet. Vielleicht war der Grund auch die Verehrung des daoistischen Zhenwu auf diesem Hügel. Wiederum kurze Zeit später hat sich der mir gerade begegnete General Wu Sangui hier einen Sommersitz eingerichtet, in dessen Zentrum ein Bronzetempel steht, der komplett aus den Tributleistungen an die Qing-Mandschuren gefertigt ist.
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Davor steht ein mit Wasser gefüllter Marmorbottich, auf dessen Grund ein Fisch mit weit aufgerissenem Maul steht. Die Besucher dürfen sich etwas wünschen und eine Münze ins Wasser werfen. Landet die Münze im Fischmaul, wird der Wunsch in Erfüllung gehen, trifft sie den Körper, wird der Wunsch teilweise erfüllt, und geht die Münze daneben, sollte sich die/der Werfer/in keine Hoffnung machen. Aufgeregtes Gelächter begleitet jeden Wurf.
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Ein weiterer Tempel steht auf einem Hügel am Stadtrand. Die Serpentine windet sich knapp 4 km steil bergauf und dann liegt der Bambustempel vor mir. Er wirkt wie eine Kopie des Blumenpavillons auf dem Xi Shan.
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Der Eingangsbereich wird von zwei Wächtern flankiert, dahinter stehen die vier Himmelskönige und vom Innenhof gehen die Hallen ab. In einer befinden sich die 500 Luohan-Figuren. Jede einzelne repräsentiert eine buddhistische Tugend. Nach einer populären Vorstellung erwählt sich der neugierige Besucher eine beliebige Figur und zählt dann sein Lebensalter nach rechts ab. Der getroffene Luohan soll die Tugend dieses Lebensjahres am besten abbilden. Welche Tugend verbirgt sich wohl hinter 'meinem' Luohan?
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Wolke7

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30.08.2010
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nach Guizhou und Guiyang

Die Ausfahrt aus Kunming gestaltet sich einfacher als erwartet: Die mehrspurige Ausfallstraße ist quasi ins Obergeschoß gewandert. Wie auf Stelzen wird der schnelle Verkehr aus der Stadt herausgeführt, das Erdgeschoß ist für den langsameren Verkehr, d.h. für Mopeds und Fahrräder reserviert. Zudem gleitet das Relief während der ersten Tage sanft dahin: keine endlosen Anstiege mehr! So komme ich gut voran und schaffe die Strecke ins etwa 100 km entfernte Shi Lin an einem Tag und die zweite Strecke ins ebenfalls rund 100 km entfernte Qu Jing trotz der schlechten Straße an einem weiteren Tag. Zwischendrin bleibt ausreichend Zeit zur Besichtigung des Shi Lin, des Steinwaldes von Kunming.
Die Entstehungslegende ist ein gutes Beispiel für den menschlichen Wunsch, sich unbekannte Zusammenhänge doch irgendwie erklären zu wollen. Notgedrungen nimmt man dann eine Legende aus der Zeit vor der schriftlichen Tradition oder die Götter zu Hilfe. Diesmal ist es der gutmütige Halbgott Jinfeng Roga, der vom mächtigen Berggott einen wundertätigen Talisman klaut, mit dem man Berge versetzen könne. Mit den versetzten Felsen wollte er einen Staudamm bauen, der das Wasser für die dringend nötige Feldbewässerung bereitstellen sollte. Zum Unglück aller wurde der Diebstahl entdeckt, der Halbgott mußte den Talisman zurückgeben, bevor der Damm vollendet war und der arme Jingfeng Roga wurde an einen Felsen gebunden zu Tode gepeitscht. Ja, so steht der unvollendete Damm also heute noch da, und die vielen Felsspalten sind durch die Peitschenstreiche entstanden.
Der naturwissenschaftlich gebildete Mensch nimmt indes eine weniger spektakuläre Entstehung an: Die Gegend des Shi Lin lag vor etwa 270 Mio Jahren auf dem Meeresgrund. Sedimentablagerungen und die Kontinentalverschiebung haben den Meeresboden steigen lassen. Kontinuierliche Erosion und Abrasion taten ein Übriges: Voila, da steht nun der Steinwald in seiner Einzigartigkeit.
Zentrum des Areals ist der Große Steinwald. Baumhohe Steinskulpturen bilden einen dichten Dschungel, in dem sich die vielen Besucher auf schmalen Pfaden und Treppen bewegen.
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Es ist wie in einem Labyrinth, um dann doch immer wieder an einem markanten Punkt zu enden. Zwei Aussichtspavillons bieten einen Blick auf Formationen, die so illustre Namen wie 'Ein Elephant auf einer Plattform', 'Die 1000jährige Schildkröte' oder 'Schwertspitzen-Teich' tragen.
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Die meisten Besucher buchen eine Rundfahrt mit dem Elektromobil zu einigen Aussichtspunkten außerhalb des Großen Steinwaldes. Meine Wenigkeit hat den Vorteil eines Fahrrades; damit fahre ich weit in den 'Eternal Mushroom Park' hinein, der eine Reihe von Stelen in Form von Pilzen zeigt. Hier ist weit und breit kein anderer Besucher zu sehen.
Fraglich bleibt für mich, warum das Gelände der Felsen vom Meeresgrund eigentlich so klein ist; es umfaßt nur wenige km2. Eigentlich müßte das gesamte östliche Yunnan voll stehen mit diesen Steinskulpturen. Vielleicht stecken sie noch tief im Boden und werden irgendwann einmal natürlich freigelegt, oder der Mensch hat bei der Freilegung nachgeholfen. Wie auch immer - der Shi Lin ist schon ein sehenswertes Naturschauspiel.
Die Weiterfahrt auf der alten Landstraße durchlebt ein Wechselbad der Gefühle: mal ist sie eine Schotterpiste, mal eine gut asphaltierte Straße. Verkehr herrscht so gut wie keiner außer von Mopeds und bäuerlichen Kleinschleppern; alle anderen Fahrzeuge sind auf den gut ausgebauten Expressway verwiesen. Ehrlich gesagt würde ich mein Auto auch nicht auf dieser Landstraße ruinieren wollen und lieber einen Umweg in Kauf nehmen. Nur einmal geht gar nichts mehr: in einer Ortschaft ist Markttag. Wer kann, kommt mit irgendwelchen Gefährten (Autos, Handkarren, 'Zweitaktlaster' und Eselskarren) und hält irgendwo auf der Straße zum Aus- oder Einladen, zum Schwätzchen oder zum Bummeln. Daß auch noch andere Fahrzeuge die Straße benutzen möchten, scheint nachrangig.
Inzwischen ist gut die Hälfte der Strecke nach Guiyang geschafft und prompt ändert sich die Landschaft erneut. Wie Zipfelmützen ragen die vielen mit Buschwerk bewachsenen Karstberge in den Himmel. Einige Bergkämme erstrecken sich wie Drachenzähne am Horizont, andere stehen als einzelne Zuckerhüte am Rande eines Tales. Für den neugierigen Radfahrer bedeutet diese Veränderung einen reizvollen Augenschmaus, aber auch einige kräftige, steile Anstiege mit ebensolchen Abfahrten. Dazu ist das Wetter umgeschlagen: dunkle Wolken ziehen übers Land, getrieben von einer kühlen Brise. Fast wäre ich auf dem Rad zum Eisblock mutiert, als der Fahrtwind, das schweißnasse Hemd und einsetzender Nieselregen den Körper auskühlten. Bei nächster Gelegenheit habe ich eine Unterkunft in Anspruch genommen. So wie jetzt habe ich mich in China noch nie auf eine warme Dusche gefreut.
Das Wetter ist auch an den Folgetagen nicht besser, und zu allem Überfluß läuft auch noch mein Visum in den nächsten Tagen aus. Schweren Herzens muß ich wohl den Linienbus nach Guiyang nehmen und dort zunächst die Visums-Verlängerung in Auftrag geben, bevor überhaupt weitere Planungen möglich sind. Vom Bus aus habe ich zwar ebenfalls den Blick auf die attraktive Karstlandschaft, es ist aber doch ein Unterschied zum Radfahren: Auf dem Rad befinde ich mich in der Welt, erfahre das Relief, rieche den Duft (Gestank) und nehme am Leben teil; im Bus bin ich lediglich Betrachter.
Noch vor kurzem war Guiyang in allen chinesischen TV-Kanälen präsent: als Austragungsort der Ethno Games, einer Art Olympiade der traditionellen Wettspiele. Auch jetzt noch sind überall Plakate, Aufkleber und Dekorationen mit dem Maskottchen der Spiele zu sehen. Besonders in der Satellitenstadt Jinyang etwa 15 km außerhalb, wo Guiyang ein zweites, hypermodernes Zentrum erhält, befinden sich die Behörden in protzigen Bauten, üppige Wohnsiedlungen, der Sportpark – und der Busbahnhof.
Quartier nehme ich im alten Zentrum in der Nähe des Nanming-Flusses. In den 60er und 70er Jahren muß es einen ähnlichen Bauboom gegeben haben wie jetzt. Die typisch sozialistische Stadtplanung sowjetischer Provenienz ist deutlich in die Jahre gekommen und entspricht nicht mehr den heutigen Bedürfnissen. So dominieren auch hier Baukräne die Skyline zwischen den bereits vollendeten Hotels, Malls und Wohnhochhäusern und der veralteten Bebauung. Direkt am Fluß ist eine schmale Promenade entstanden, auf dem die Bewohner Sport treiben und ausgelassen, sofern das im gruppenorientierten China überhaupt möglich ist, tanzen. Laute und übersteuerte chinesische Tanzmusik dröhnt aus den Ghetto-Blastern, zu der die Paare europäische Standardtänze üben. Manche Paare sind wie zu einem Sommer-Ball gekleidet: die Damen mit Röcken und Blusen, die Herren mit Weste und Krawatte, andere tragen legere Alltagskleidung.
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Doch niemand stört sich am äußeren Erscheinungsbild, alle üben die richtigen Schritte und schauen sich tief in die Augen.
Entlang der Promenade haben einige Relikte aus der späten Ming-Zeit die Modernisierung halbwegs unbeschadet überlebt. Der Qianming Tempel folgt dem Schema, wie wir es bereits in Kunming erlebt haben: Hinter dem Eingangstor bereiten die vier Himmelskönige das Nirvana vor, dahinter folgen zwei kleinere Hallen, eine für Qanying, die andere für Buddha höchstselbst. Die Anlage wurde offensichtlich restauriert und ausgebessert; sie wirkt wie ein moderner, buddhistischer Tempel im historischen Gewand.
Etwas weiter ruht auf einem Felsblock im Fluß der Jiaxiu-Pavillon, in dem sich einst die Gelehrten zu Tee und geistreicher Konversation getroffen haben, bevor sie die Kandidaten der höheren Beamtenschaft auf ihre Eignung im konfuzianischen Sinne geprüft haben.
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Über eine Brücke komme ich zum Cuiwei-Garten, dem letzten Rest eines kaiserlichen Refugiums. Heute sind nur noch ein Wasserlauf und zwei Hallen vorhanden, in denen Souvenirs verkauft werden und ein Restaurant Tee mit Snacks anbietet. Der Garten dient vielen Ausflüglern für ein Picknick abseits der geschäftigen Straßen; auch meine Wenigkeit nutzt die Gelegenheit für eine Rast zwischen Bambusstauden und Limestone-Arrangements.
Ein paar Tage später: Die Visum-Verlängerung ist erledigt, und die Höhepunkte Guizhous warten auf neugierige Besucher. Der Ausflug nach Huangguoshu ist ein lohnenswertes Unterfangen. Ein eher kleiner Fluß schlängelt sich durch das Labyrinth aus Karstbergen und mußte sich dazu nicht nur ein eigenes Bett 'graben', sondern auch noch über Kaskaden starkes Gefälle hinabstürzen. Der Nationalpark ist in drei Zonen eingeteilt, in denen sich viele pittoreske Blicke zwischen den Karstbergen, auf den Fluß, die Kaskaden und eine grell beleuchtete Höhle ergeben. Einzig der einsetzende Dauerregen reduziert das Vergnügen; schade, bei Sonnenschein und blauem Himmel wäre dieser Besuch sicher noch eindrucksvoller. Auffälligster Blickfang ist der große Wasserfall, bei dem das Wasser über 70 m in die Tiefe fällt.
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Das Stakkato der Wassermassen übertönt sogar das zarte Nachtigallenlied des Regens. Ein Weg führt in den Karstberg hinein, quasi hinter die Wand herabstürzenden Wassers; durch ein paar 'Fenster' erlebe ich buchstäblich hautnah den Wasserfall mit allen Sinnen. Dort hineingelaufen zu sein, kann nur dem Geist eines unentwegten Abenteurers entsprungen sein. Während alle anderen Besucher eingehüllt in Regenponchos und mit Regenschirmen diesen Weg nehmen, spaziert der neugierige Radler in leichtem Sportdress natürlich ohne Regenschirm dort entlang. Na ja, die Kleidung trocknet ja auch wieder, und den Füßen tut eine feuchte Abkühlung auch mal ganz gut...
 
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