nach Guizhou und Guiyang
Die Ausfahrt aus Kunming gestaltet sich einfacher als erwartet: Die mehrspurige Ausfallstraße ist quasi ins Obergeschoß gewandert. Wie auf Stelzen wird der schnelle Verkehr aus der Stadt herausgeführt, das Erdgeschoß ist für den langsameren Verkehr, d.h. für Mopeds und Fahrräder reserviert. Zudem gleitet das Relief während der ersten Tage sanft dahin: keine endlosen Anstiege mehr! So komme ich gut voran und schaffe die Strecke ins etwa 100 km entfernte Shi Lin an einem Tag und die zweite Strecke ins ebenfalls rund 100 km entfernte Qu Jing trotz der schlechten Straße an einem weiteren Tag. Zwischendrin bleibt ausreichend Zeit zur Besichtigung des Shi Lin, des Steinwaldes von Kunming.
Die Entstehungslegende ist ein gutes Beispiel für den menschlichen Wunsch, sich unbekannte Zusammenhänge doch irgendwie erklären zu wollen. Notgedrungen nimmt man dann eine Legende aus der Zeit vor der schriftlichen Tradition oder die Götter zu Hilfe. Diesmal ist es der gutmütige Halbgott Jinfeng Roga, der vom mächtigen Berggott einen wundertätigen Talisman klaut, mit dem man Berge versetzen könne. Mit den versetzten Felsen wollte er einen Staudamm bauen, der das Wasser für die dringend nötige Feldbewässerung bereitstellen sollte. Zum Unglück aller wurde der Diebstahl entdeckt, der Halbgott mußte den Talisman zurückgeben, bevor der Damm vollendet war und der arme Jingfeng Roga wurde an einen Felsen gebunden zu Tode gepeitscht. Ja, so steht der unvollendete Damm also heute noch da, und die vielen Felsspalten sind durch die Peitschenstreiche entstanden.
Der naturwissenschaftlich gebildete Mensch nimmt indes eine weniger spektakuläre Entstehung an: Die Gegend des Shi Lin lag vor etwa 270 Mio Jahren auf dem Meeresgrund. Sedimentablagerungen und die Kontinentalverschiebung haben den Meeresboden steigen lassen. Kontinuierliche Erosion und Abrasion taten ein Übriges: Voila, da steht nun der Steinwald in seiner Einzigartigkeit.
Zentrum des Areals ist der Große Steinwald. Baumhohe Steinskulpturen bilden einen dichten Dschungel, in dem sich die vielen Besucher auf schmalen Pfaden und Treppen bewegen.
Es ist wie in einem Labyrinth, um dann doch immer wieder an einem markanten Punkt zu enden. Zwei Aussichtspavillons bieten einen Blick auf Formationen, die so illustre Namen wie 'Ein Elephant auf einer Plattform', 'Die 1000jährige Schildkröte' oder 'Schwertspitzen-Teich' tragen.
Die meisten Besucher buchen eine Rundfahrt mit dem Elektromobil zu einigen Aussichtspunkten außerhalb des Großen Steinwaldes. Meine Wenigkeit hat den Vorteil eines Fahrrades; damit fahre ich weit in den 'Eternal Mushroom Park' hinein, der eine Reihe von Stelen in Form von Pilzen zeigt. Hier ist weit und breit kein anderer Besucher zu sehen.
Fraglich bleibt für mich, warum das Gelände der Felsen vom Meeresgrund eigentlich so klein ist; es umfaßt nur wenige km2. Eigentlich müßte das gesamte östliche Yunnan voll stehen mit diesen Steinskulpturen. Vielleicht stecken sie noch tief im Boden und werden irgendwann einmal natürlich freigelegt, oder der Mensch hat bei der Freilegung nachgeholfen. Wie auch immer - der Shi Lin ist schon ein sehenswertes Naturschauspiel.
Die Weiterfahrt auf der alten Landstraße durchlebt ein Wechselbad der Gefühle: mal ist sie eine Schotterpiste, mal eine gut asphaltierte Straße. Verkehr herrscht so gut wie keiner außer von Mopeds und bäuerlichen Kleinschleppern; alle anderen Fahrzeuge sind auf den gut ausgebauten Expressway verwiesen. Ehrlich gesagt würde ich mein Auto auch nicht auf dieser Landstraße ruinieren wollen und lieber einen Umweg in Kauf nehmen. Nur einmal geht gar nichts mehr: in einer Ortschaft ist Markttag. Wer kann, kommt mit irgendwelchen Gefährten (Autos, Handkarren, 'Zweitaktlaster' und Eselskarren) und hält irgendwo auf der Straße zum Aus- oder Einladen, zum Schwätzchen oder zum Bummeln. Daß auch noch andere Fahrzeuge die Straße benutzen möchten, scheint nachrangig.
Inzwischen ist gut die Hälfte der Strecke nach Guiyang geschafft und prompt ändert sich die Landschaft erneut. Wie Zipfelmützen ragen die vielen mit Buschwerk bewachsenen Karstberge in den Himmel. Einige Bergkämme erstrecken sich wie Drachenzähne am Horizont, andere stehen als einzelne Zuckerhüte am Rande eines Tales. Für den neugierigen Radfahrer bedeutet diese Veränderung einen reizvollen Augenschmaus, aber auch einige kräftige, steile Anstiege mit ebensolchen Abfahrten. Dazu ist das Wetter umgeschlagen: dunkle Wolken ziehen übers Land, getrieben von einer kühlen Brise. Fast wäre ich auf dem Rad zum Eisblock mutiert, als der Fahrtwind, das schweißnasse Hemd und einsetzender Nieselregen den Körper auskühlten. Bei nächster Gelegenheit habe ich eine Unterkunft in Anspruch genommen. So wie jetzt habe ich mich in China noch nie auf eine warme Dusche gefreut.
Das Wetter ist auch an den Folgetagen nicht besser, und zu allem Überfluß läuft auch noch mein Visum in den nächsten Tagen aus. Schweren Herzens muß ich wohl den Linienbus nach Guiyang nehmen und dort zunächst die Visums-Verlängerung in Auftrag geben, bevor überhaupt weitere Planungen möglich sind. Vom Bus aus habe ich zwar ebenfalls den Blick auf die attraktive Karstlandschaft, es ist aber doch ein Unterschied zum Radfahren: Auf dem Rad befinde ich mich in der Welt, erfahre das Relief, rieche den Duft (Gestank) und nehme am Leben teil; im Bus bin ich lediglich Betrachter.
Noch vor kurzem war Guiyang in allen chinesischen TV-Kanälen präsent: als Austragungsort der Ethno Games, einer Art Olympiade der traditionellen Wettspiele. Auch jetzt noch sind überall Plakate, Aufkleber und Dekorationen mit dem Maskottchen der Spiele zu sehen. Besonders in der Satellitenstadt Jinyang etwa 15 km außerhalb, wo Guiyang ein zweites, hypermodernes Zentrum erhält, befinden sich die Behörden in protzigen Bauten, üppige Wohnsiedlungen, der Sportpark – und der Busbahnhof.
Quartier nehme ich im alten Zentrum in der Nähe des Nanming-Flusses. In den 60er und 70er Jahren muß es einen ähnlichen Bauboom gegeben haben wie jetzt. Die typisch sozialistische Stadtplanung sowjetischer Provenienz ist deutlich in die Jahre gekommen und entspricht nicht mehr den heutigen Bedürfnissen. So dominieren auch hier Baukräne die Skyline zwischen den bereits vollendeten Hotels, Malls und Wohnhochhäusern und der veralteten Bebauung. Direkt am Fluß ist eine schmale Promenade entstanden, auf dem die Bewohner Sport treiben und ausgelassen, sofern das im gruppenorientierten China überhaupt möglich ist, tanzen. Laute und übersteuerte chinesische Tanzmusik dröhnt aus den Ghetto-Blastern, zu der die Paare europäische Standardtänze üben. Manche Paare sind wie zu einem Sommer-Ball gekleidet: die Damen mit Röcken und Blusen, die Herren mit Weste und Krawatte, andere tragen legere Alltagskleidung.
Doch niemand stört sich am äußeren Erscheinungsbild, alle üben die richtigen Schritte und schauen sich tief in die Augen.
Entlang der Promenade haben einige Relikte aus der späten Ming-Zeit die Modernisierung halbwegs unbeschadet überlebt. Der Qianming Tempel folgt dem Schema, wie wir es bereits in Kunming erlebt haben: Hinter dem Eingangstor bereiten die vier Himmelskönige das Nirvana vor, dahinter folgen zwei kleinere Hallen, eine für Qanying, die andere für Buddha höchstselbst. Die Anlage wurde offensichtlich restauriert und ausgebessert; sie wirkt wie ein moderner, buddhistischer Tempel im historischen Gewand.
Etwas weiter ruht auf einem Felsblock im Fluß der Jiaxiu-Pavillon, in dem sich einst die Gelehrten zu Tee und geistreicher Konversation getroffen haben, bevor sie die Kandidaten der höheren Beamtenschaft auf ihre Eignung im konfuzianischen Sinne geprüft haben.
Über eine Brücke komme ich zum Cuiwei-Garten, dem letzten Rest eines kaiserlichen Refugiums. Heute sind nur noch ein Wasserlauf und zwei Hallen vorhanden, in denen Souvenirs verkauft werden und ein Restaurant Tee mit Snacks anbietet. Der Garten dient vielen Ausflüglern für ein Picknick abseits der geschäftigen Straßen; auch meine Wenigkeit nutzt die Gelegenheit für eine Rast zwischen Bambusstauden und Limestone-Arrangements.
Ein paar Tage später: Die Visum-Verlängerung ist erledigt, und die Höhepunkte Guizhous warten auf neugierige Besucher. Der Ausflug nach Huangguoshu ist ein lohnenswertes Unterfangen. Ein eher kleiner Fluß schlängelt sich durch das Labyrinth aus Karstbergen und mußte sich dazu nicht nur ein eigenes Bett 'graben', sondern auch noch über Kaskaden starkes Gefälle hinabstürzen. Der Nationalpark ist in drei Zonen eingeteilt, in denen sich viele pittoreske Blicke zwischen den Karstbergen, auf den Fluß, die Kaskaden und eine grell beleuchtete Höhle ergeben. Einzig der einsetzende Dauerregen reduziert das Vergnügen; schade, bei Sonnenschein und blauem Himmel wäre dieser Besuch sicher noch eindrucksvoller. Auffälligster Blickfang ist der große Wasserfall, bei dem das Wasser über 70 m in die Tiefe fällt.
Das Stakkato der Wassermassen übertönt sogar das zarte Nachtigallenlied des Regens. Ein Weg führt in den Karstberg hinein, quasi hinter die Wand herabstürzenden Wassers; durch ein paar 'Fenster' erlebe ich buchstäblich hautnah den Wasserfall mit allen Sinnen. Dort hineingelaufen zu sein, kann nur dem Geist eines unentwegten Abenteurers entsprungen sein. Während alle anderen Besucher eingehüllt in Regenponchos und mit Regenschirmen diesen Weg nehmen, spaziert der neugierige Radler in leichtem Sportdress natürlich ohne Regenschirm dort entlang. Na ja, die Kleidung trocknet ja auch wieder, und den Füßen tut eine feuchte Abkühlung auch mal ganz gut...