Triptreport Belarus - Minsk, Bichow, Slavgorod, Gomel, Dobrusch ...

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kasi

Neues Mitglied
10.12.2010
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Guten Abend,

anbei ein Report (leider ohne Flug) bzw. eher ein Kommentar oder eine Glosse zu einer Reise, die ich über den Jahreswechsel mit einem Pastor aus Oberfranken und etwa 25 anderen "Mitfahrern" unternommen habe.

Über konstruktive Kritik bin ich dankbar und würde mich im Allgemeinen über ein kurzes Feedback freuen, und hoffe, dass es trotz fehlender Flüge ein interessantes Lese-Erlebnis sein wird.

Viel Spaß beim lesen...



Vergessen – wo wir leben, wie wir leben!
Verdiene ich zu wenig? Wann können wir uns endlich ein neues Auto leisten? Was soll ich nur am Wochenende kochen? Wohin fahren wir nächstes Jahr in den Urlaub?
Fragen, die wohl berechtigt sind.
Allerdings erscheinen sie in einem anderen Licht, mit anderer Brisanz, sobald man die EU verlässt und in Belarus ankommt. Häufig als letzte Diktatur Europas bezeichnet und abgestempelt, wird das Land in den Schatten seines großen Nachbarn – Russland - gestellt. Wer weiß schon, was dort vor sich geht, was sie denken, wie sie leben und vor allem überleben.
Schon an der polnisch-weißrussischen Grenze überkommt einen ein Gefühl der Hilflosigkeit. Wie gut wir es doch in der viel gescholtenen EU haben mit den vielen Regularien, Verordnungen und Gesetzen, wie einfach vieles ist – das merkt man erst jetzt. Stundenlange Diskriminierung, Hinhaltetaktiken, Demütigung. Es fehlt die grüne Versicherungskarte an einem der 75 Schalter des belarussischen Zolls – kein Problem, wir holen sie. Nur um sie nach 500m Dauerlauf vorzuzeigen und sehen zu müssen, dass sie, keines Blickes gewürdigt, beiseitegelegt wird. Spätestens jetzt merkt auch der Letzte, dass hier nicht nach Vernunft, Logik und dem Zeitaspekt gearbeitet wird, sondern Willkür und Obrigkeiten das Sagen haben.
Angekommen in der Hauptstadt, Minsk, die erste Übernachtung – nur möglich in einem Hotel, aufgrund der Registrierungsregularien. Bereits Mitte November musste die Buchung beantragt werden, obwohl es keineswegs an freien Zimmern mangelt. Einfache eingerichtete Zimmer und dünne Wände versprühen den Charme eines 70er Jahre Baus, aber durchaus sehr nett und gemütlich. Zum Frühstück Buchweizen und mit Pilzen überbackenes Hühnchen runden den etwas gewöhnungsbedürftigen Gesamteindruck ab.
Es folgt eine Stadtrundfahrt durch eine Hauptstadt die sowohl westlich als auch typisch russisch wirkt. In der Innenstadt der Protz, überall Baustellen, man möchte zeigen wie reich man ist. Hugo Boss neben Chanel und Appel Store, leider sind die Läden leer und die Verkäufer langweilen sich. Ebenso wie in Moskau gibt es auch in Minsk ein ZUM-Kaufhaus. Kitschig, überfüllt und überladen reihen sich die Dinge auf die der moderne Stadtmensch braucht oder zumindest haben möchte. Man kommt ins Zweifeln – ist dass das Land, welches die Hilfsgüter so dringend benötigt? Sind die gutgekleideten Frauen und Männer wirklich so arm, so bedürftig? In seinen „Arbitsklamotten kommt man sich auf jeden Fall nicht so vor, als würde man in das Stadtbild passen.
Je weiter man ins Umland der Hauptstadt kommt, desto unrealer wird der Eindruck aus der dieser. Die großen Behördenbauten und Regierungsgebäude werden von vielen kleinen Holzhäusern mit ihren Gärten abgelöst. Das Geld ist knapp, die Inflation tut ihr übriges, die Menschen versorgen sich selbst so gut es geht. Umso erstaunlicher ist die erste Begegnung mit den Menschen vor Ort in Bichow. Die Tische biegen sich unter Last der aufgetischten Speisen, sofort nach der Ankunft sollen wir Platz nehmen – russische Gastfreundschaft eben. Nach dem Vergnügen dann die Arbeit, Kartons mit Kleidung werden ausgeladen, Mehl, Nudeln und Speiseöl. Die Freude beiderseits ist groß und herzlich. Erst später erfahren wir, dass wir uns bereits im Sperrgebiet Tschernobyls befinden.
Nach einer kurzen Silvesterfeier geht es weiter gen Südosten, gen Tschernobyl, nach Slavgorod. Dort angekommen macht sich ein flaues Gefühl breit bei allen Anwesenden. Als ob wir mit dem Auto in die Vergessenheit gefahren sind fühlen wir uns fehl am Platze, irgendwie unerwünscht aber doch sehnsüchtig erwartet. Nach dem Ausladen wie überall ein Abendessen, Krautwickel und anschließend Torte. Bei all dem Leid und der Armut versucht man sich hinter Witzen, Phrasen und Wortspielen zu verstecken und gleichzeitig sich damit zu schützen, wohl wissend, dass es eigentlichen das Herz ist, welches tief erschüttert ist und mitfühlt mit den Menschen vor Ort.
Wie groß das Herz aber doch sein kann, dürfen wir bereits bald erleben. Ein Besuch im Waisenhaus im Gomel begann nach eindringlichen Warnungen vor der Gerissenheit der Bewohner ehr Kühl und berechnend. Nach einiger Zeit wurde das Verhältnis zu den Kindern immer besser. Sie drängten sich geradezu auf, endlich Kartons tragen zu dürfen. Natürlich durften es für die etwa elfjährigen Jungs mit ihren großen Oberarmmuskeln nur die schwersten und größten Kartons sein, die kleinen und leichten wurden nur mit murren entgegengenommen. Anschließend folgte eine Vorführung aller Kinder, die über das russische Weihnachtsfest am 06.01. dort waren. Väterchen Frost und Schneeflöckchen gaben ihr Bestes und die Kinder tanzten um den Jolka-Baum, der einem Baum, wegen des Schmuckes, nur der Form nach ähnlich sah. Geschenke beiderseits und viel Kontakt bescherten eine schöne Zeit und viele persönliche Erlebnisse – Gott sei Dank!
Dobrusch, die nächste und vorletzte Station unserer Reise. Herzlich wurden wir willkommen geheißen, unsere Lieb reicht für alle, hieß es von unseren Gastgebern. Die Tische in dem kleinen Gemeindehaus bogen sich wieder einmal unter Last der Speisen. Auch schlafen durften wir dort. Der Abend wurde lang, viele wollten sich waschen, aber nur ein Bad stand zur Verfügung. Eine Dusche gab es nicht, heißes Wasser vom Ofen, in einer Schüssel gemischt mit kaltem Wasser war ein angenehmer Ersatz. Aber so wird es beim nächsten Mal nicht. Der Pastor sagte, er und seine Gemeinde wollen sich bemühen, bis zum nächsten Besuch seiner Freunde aus Deutschland, eine Dusche i anzubauen.
Auch durch die verzögerte Abfahrt- eine weitere Nacht in Minsk- tat der Stimmung keinen Abbruch. Ein Zollpapier musste noch ergänzt werden. Weiterhin wurde gelacht und geredet, manche Diskussion geriet nur durch die Müdigkeit ins stocken. Eine weitere Nacht, dass hieß Schlaf, denn dieser kam eindeutig zu kurz in den vergangenen 10 Tagen.
Gut erholt ging es am nächsten Morgen los und nach einem kurzem Tankstopp von Minsk geradewegs an die belarussische Grenze. Hier verzögerte sich die Abfertigung etwas durch einen Schichtwechsel, aber im Großen und Ganzen kamen wir relativ schnell wieder in die EU. Dort war es dann eher ein Gastspiel für uns – zum Schalter, Papiere zeigen und Konvoi sagen, und den Stempel bekommen. Kurze Zeit später wieder in EU und auf dem Weg nach Hause. Nach einer neunstündigen Pause in Polen wollte jeder zu seiner Familie und kaum einer war zu stoppen.
Sicher und bewahrt kamen wir am 07.01.2012 Nachts in Deutschland an. Jeder wird noch ein bisschen brauchen, um das Erlebte zu verarbeiten, einordnen zu können.
Was bleibt von einer Reise in ein Land das so nah und doch so fern ist? Wie soll man seine Gedanken und Gefühle einordnen und verarbeiten? Gehen die gebrachten Güter auch an die richtigen Stellen?
Ist das deutsche Maß DAS Maß aller Dinge? Können wir dieses Maß, unseren Reichtum, den wir so verächtlich beäugen, hinterfragen und kritisieren wo es nur geht, gleichsetzen mit dem Maß der Belarussen.
Die Antwort ist so plump wie einfach: NEIN
Die Liebe Gottes offenbart sich in den Schwachen, die mit einem Monatslohn von 150€ den Tisch zum Biegen bringen und mit einem echten Lächeln auf dem Gesicht sagen: „Unsere Liebe reicht für alle“ – Gott sei Dank!
 

explorer

Aktives Mitglied
13.04.2009
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HAM
Vielen Dank für den Bericht, er war sehr interessant zu lesen. Ich finde es wirklich bewundernswert, dass du und deine Mitfahrer ihre Freizeit für eine solche Aktion nutzen! Nach einer solchen Reise sieht man sicher vieles mit anderen Augen.

/explorer
 
Z

Zurich Flyer

Guest
... Schon an der polnisch-weißrussischen Grenze überkommt einen ein Gefühl der Hilflosigkeit. Wie gut wir es doch in der viel gescholtenen EU haben mit den vielen Regularien, Verordnungen und Gesetzen, wie einfach vieles ist – das merkt man erst jetzt....

Du bist schon echt krass drauf! Dass du dich auf so eine Reise einlässt?! Hätte auch böse enden können?!