ETTR – Mythos oder wirklich praktikabel?

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flysurfer

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Wer digitale Fotos macht, ist in den letzten Jahren sicherlich über das Kürzel ETTR gestolpert. Expose To The Right, gemünzt aufs Histogramm einer Aufnahme, sagt nicht mehr oder weniger, als dann man jedes Bild ungeachtet der herrschenden Lichtstimmung stets so hell wie möglich belichten sollte. Unter "möglich" versteht man dabei eine Belichtung, bei der bildwichtige Lichter gerade noch durchgezeichnet sind, also nicht abgeschnitten werden.

Während man in der analogen Fotografie versucht, ein möglichst ausgewogenes "Hügel"-Histogramm zu bekommen, schiebt ETTR so viel wie möglich an die rechte Seite. Michael Reichenbach beschrieb die Aufnahmetechnik erstmals 2003 und rief unlängst in einem neuen Beitrag Kamerasteller dazu auf, die Technik als Teil der Belichtungsautomatik in moderne Kameras zu integrieren. Andere Stimmen wiederum halten ETTR für überwertet oder gar einen Mythos.

Was ist nun dran an dieser Belichtungsmethode, und wo macht sie, wenn überhaupt, am meisten Sinn?

Das theoretische Konzept ist zweifellos bestechend: Wann immer ein weniger Dynamikumfang aufweist als die Kamera besitzt, ist es grundsätzlich sinnvoll, den Tonwertumfang des Motivs auf dem Histogramm so weit nach rechts (also ins Helle) zu verschieben, wie dies möglich ist, ohne dass bildwichtige Lichter abgeschnitten werden und somit unwiederbringlich verloren gehen.

Aus
center.jpg
macht man bei der Aufnahme also
right.jpg
und verschiebt das Histogramm bei der anschließenden RAW-Entwicklung wieder in den ursprünglichen Zustand zurück.
 
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flysurfer

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Der Grund dafür liegt auf der Hand, zumindest für all jene, die sich mit digitaler Sensortechnik beschäftigt haben: In den hellen Bildbereichen speichert ein A/D-Bildwandler wesentlich mehr Zwischentöne (löst also deutlich höher auf) als in den dunklen. Man erhält also mehr verwertbare Daten und weniger Rauschen, wenn man Bildinhalte hell belichtet als wenn man dieselben Inhalte dunkler aufnimmt – alles wie gesagt im Rahmen des Dynamikumfangs der benutzten Kamera. Reichenbach beschreibt all das sehr anschaulich in seinem Beitrag, sodass wir hier nicht weiter darauf eingehen und das Ganze wiederholen müssen.

Die Frage, die sich uns stellt, lautet anders: Ist es im Zeitalter moderner und rauscharmer Kameras mit erweitertem Dynamikumfang überhaupt noch sinnvoll, den Aufwand auf sich zu nehmen und ein Motiv gezielt nach der ETTR-Methode überzubelichten, um diese Überbelichtung anschließend in der manuellen RAW-Entwicklung wieder rückgängig zu machen, die zu hell belichteten bildwichtigen Informationen also im Histogramm wieder nach links zu schieben?

Ich habe das gestern einmal selbst getestet, und die Antwort lautet: JEIN. Der Aufwand lohnt sich auch bei guten Kameras dann, wenn das Motiv nur mit einer hohen und entsprechend rauschanfälligen ISO-Einstellung abgelichtet werden kann UND wenn das Motiv so kontrastarm ist, dass man es tatsächlich signifikant nach rechts verschieben kann, ohne dabei bildwichtige Informationen in den hellen Bereichen zu verlieren.

Ganz klar: ETTR ist eine Methode für die RAW-Fotografie, wer JPEGs aus der Kamera verwendet, kann und sollte sie nicht verwenden. Und natürlich darf man die gezielte Überbelichtung nicht dadurch erzielen, dass man den ISO-Wert hochschraubt (das erzeugt mehr Rauschen, als man auf der anderen Seite verliert) oder dass man eine Kombination aus Blende und Verschlusszeit wählen muss, bei der man die Aufnahme verwackelt, es zu Bewegungsunschärfen kommt oder die Schärfeleistung des Objektivs zu stark nachlässt (Randabfall, Schärfentiefe).

ETTR im engen Sinn ist also keinesfalls für alle Aufnahmesituationen geeignet. Im weiteren Sinne ist auch eine unterbelichtete Aufnahme mit großem Dynamikumfang "ETTR", schließlich geht es in der Digitalfotografie vor allem darum, wichtige Lichter nicht zu kappen, sodass man das Histogramm evtl. sogar nach links verschieben muss, um doch noch alles "drauf" zu kriegen. Entsprechende Methoden zur Rettung der dabei absaufenden Schatten habe ich unlängst im Rahmen unseres Südafrikathreads illustriert.
 
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Nun zur Praxis. Ich habe eine simple Testaufnahme mit wenig Licht und geringem Tonwertumfang gewählt, die aus der Hand gerade noch mit ISO 3200 einzufangen war. Als Kamera diente eine Fuji X100 mit ausgeschalteter Dynamikautomatik (DR100%).

Hier die Testaufnahme, von der Kamera automatisch ohne Korrektur belichtet, als unbearbeitetes JPEG:



Hier die dazu gehörende RAW-Datei im DxO-Konverter:



Wir sehen anhand des Histogramms, dass die Kamera recht konservativ belichtet hat, um vereinzelt auftretende Spitzlichter zu erhalten. Im Histogramm ist rechts noch eine ganze Menge "Luft", die man mit ETTR womöglich sinnvoll nutzen könnte.

Machen wir also eine zweite Aufnahme desselben Motivs, dieses Mal jedoch mit einer manuellen Überbelichtung von 2 EV, die wir über das Belichtungskorrekturrad der Kamera ganz leicht erzwingen können. Das JPEG dieser "High-Key"-Aufnahme sieht dann folgendermaßen aus:



Betrachten wir nun auch das Histogramm der dazu gehörenden RAW-Datei im Konverter:



Man sieht auf den ersten Blick, dass die Bildinhalte in der Tat nach rechts verschoben wurden und optimal an den rechten Rand anstoßen, ohne abgeschnitten zu werden. Das Gedränge auf der rechten Seite muss nun aber rückgängig gemacht werden, um am Ende ein ausgewogenes und vor allem realistisches und korrekt belichtetes Foto zu erhalten.

Mit den JPEG-Datein ist das nicht möglich, der Weg führt hier über die mit voller Bit-Auflösung aufgezeichneten RAW-Dateien. Entwickeln wir also unsere beiden RAW-Dateien nun in DxO so, dass als Ergebnis jeweils ein ausgewogenes und korrekt belichtetes Bild entsteht:

Hier das normal aufgenommene Bild nach erfolgreicher RAW-Entwicklung, darunter das dazu gehörende Histogramm:





Und hier nun die um zwei Blenden überbelichtete ETTR-Aufnahme nach der RAW-Entwicklung:





Offensichtlich ist es bei korrekter Aufnahmetechnik durchaus möglich, aus einem ETTR-optimierten Foto mit 2 EV Überbelichtung ein Ergebnis zu erzeugen, das einer von Anfang an "korrekt" (zumindest nach der Logik der Kamera) belichteten Aufnahme entspricht. Tatsächlich würde kein Betrachter dieser beiden Fotos auf die Idee kommen, dass eine um zwei Blenden heller belichtet wurde als die andere. Möglich wurde dies durch den vergleichsweise geringen Dynamikumfang des Motivs. Seine bildwichtigen Teile umspannen einen Dynamikbereich, der kleiner ist als der, den die Kamera mit ihrem Sensor verlustfrei digitalisieren kann. Auf diese Weise war es möglich, die bildwichtigen Teile des Motivs innerhalb des Dynamikbereichs der Kamera zuerst nach rechts (ins Helle) und anschließend bei der RAW-Entwicklung wieder nach links (ins Dunkle) zu verschieben. Im Ergebnis liefern also beide RAW-Dateien nach korrekter Entwicklung ein neutral belichtetes Foto mit einem ausgewogenen Histogramm.
 
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flysurfer

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Die Frage ist nun: Hat sich der Aufwand gelohnt? Soll man wirklich erst überbelichten, um optimales ETTR zu erzielen, um diesen "Fehler" anschließend wieder zu kompensieren?

Diese Frage lässt sich damit beantworten, dass man ins Detail geht und sich Ausschnittsvergrößerungen der beiden fertig entwickelten RAW-Dateien ansieht.

Hier zunächst ein Ausschnitt (für die volle Größe bitte wie immer auf das Foto klicken) aus der normal belichteten Aufnahme ohne ETTR:



Und hier ein vergleichbarer Ausschnitt aus der mit ETTR optimierten Aufnahme:



Die Ergebnisse sprechen für sich: Die ETTR-Aufnahme ist detailreicher und enthält weniger Rauschen/Störungen als das normal belichtete Vergleichsbild. Trotzdem kam im RAW-Entwickler für die ETTR-Aufnahme ein geringeres Maß an Rauschunterdrückung zum Einsatz, denn mehr war ganz einfach nicht notwendig – dabei wurden bei Aufnahmen mit exakt derselben ISO-Einstellung von ISO 3200 gemacht! Die Theorie bestätigt sich hier also in der Praxis: Das in den helleren Bereichen digitaler Bildwandler bessere Signal/Rauschverhalten und der deutlich größere Tonwertreichtum in den oberen Bereichen des Dynamikumfangs einer Kamera zahlen sich aus.

Zumindest bei kritischen Aufnahmen und bei geeigneten Motiven lohnt es sich also, konsequent zu ETTR zu greifen.
 
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cockpitvisit

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04.12.2009
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In den hellen Bildbereichen speichert ein A/D-Bildwandler wesentlich mehr Zwischentöne (löst also deutlich höher auf) als in den dunklen.

Ist das bei EXR-Kameras überhaupt noch der Fall?

Im EXR-Sensor gibt's ja Pixel in zwei Größen. Große Pixel für dunkle Bildbereiche und kleine Pixel für helle Bereiche. Kleine Pixel müssen mehr Rauschen erzeugen als große (ähnlich zum Unterschied zwischen großen und kleinen Sensoren), deshalb würde ich erwarten, dass eine solche Kamera in hellen Bereichen nicht wirklich rauschärmer ist. Aus dieser Sicht kann es sogar besser sein, ein gleichmäßig beleuchtetes Motiv eher unterbeleuchtet zu fotografieren, damit das komplette Bild über rauschärmere grosse Pixel auf dem Sensor erfasst wird.
 

flysurfer

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Ist das bei EXR-Kameras überhaupt noch der Fall?

Im EXR-Sensor gibt's ja Pixel in zwei Größen. Große Pixel für dunkle Bildbereiche und kleine Pixel für helle Bereiche. Kleine Pixel müssen mehr Rauschen erzeugen als große (ähnlich zum Unterschied zwischen großen und kleinen Sensoren), deshalb würde ich erwarten, dass eine solche Kamera in hellen Bereichen nicht wirklich rauschärmer ist. Aus dieser Sicht kann es sogar besser sein, ein gleichmäßig beleuchtetes Motiv eher unterbeleuchtet zu fotografieren, damit das komplette Bild über rauschärmere grosse Pixel auf dem Sensor erfasst wird.

Alle Pixel des EXR-Sensors sind gleich groß.

ETTR würde aber ohnehin nicht für Motive zum Einsatz kommen, die EXR oder eine andere künstliche Dynamikerweiterung brauchen, insofern gehört das nicht so recht in dieses Thema. ETTR im Sinne von Verschiebung nach rechts geht ja nur, wenn man dort Platz zum Verschieben hat. Reicht die Dynamik der Kamera für eine Szene nicht aus (ist rechts also schon alles übervoll), muss man entweder nach links verschieben (und die dunklen Tonwerte später wieder anheben) oder Lichter opfern. Oder Tricks wie EXR einsetzen, was ja im Prinzip nichts anderes ist als zwei gleichzeitig aufgenommene HDR-Bilder zu verschmelzen.
 
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sfakia

Neues Mitglied
19.06.2014
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Hallo flysurfer,

Danke für diesen informativen Beitrag!

Um noch mehr davon profitieren zu können
würde gerne die Bildbeispiele sehen - was muss ich hierfür tun?

Dank und viele Gruesse
sfakia
 
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