Gysi hat in Göttingen für die Geschichtsbücher gesprochen
Oskar Lafontaine hat den Machtkampf der Linken zwar gewonnen. Er konnte Dietmar Bartsch als neuen Vorsitzenden verhindern. Doch der wahre Sieger ist Gregor Gysi: Ohne den Fraktionschef läuft in Zukunft gar nichts in der Partei.
Wenn Gregor Gysi eine Rede vom Blatt abliest, statt frei zu reden, dann wissen jene, die ihn kennen: es wird ernst. Sehr ernst.
Der Fraktionsvorsitzende der Linken im Bundestag hat auf dem Parteitag in Göttingen einen Schlussstrich gezogen unter dem bisherigen Projekt Die Linke: Schluss mit dem Vertrauen und Hoffen auf Oskar Lafontaine, dem Zocker und Zauderer, Schluss mit den ewigen Moderieren zwischen Realos und Fundis, die sich ohnehin für keinen Kompromiss interessieren, Schluss auch mit der Förderung von Sahra Wagenknecht, die ihn noch in dieser Legislatur vom Thron stoßen wollte, und vor allem: Schluss mit der Selbsttäuschung, diese Partei sei ein erfolgreiches, gesamtdeutsches Projekt.
Selten hat ein Spitzenpolitiker den wahren Zustand seiner Partei öffentlich so ruhig und gnadenlos seziert wie Gysi in Göttingen. Gysi redete sich von der Seele, was viele längst wussten, er aber immer wieder dementierte oder wegmoderierte: Gysi sprach von "Hass" und "pathologischen Zuständen", er sagte, es "wäre besser, sich fair zu trennen" als weiterhin unfair und mit Tricksereien und üblem Nachtreten ein in jeder Hinsicht verkorkstes Verhältnis aufrecht zu erhalten. Vor allem geißelte er die Ego-Show seiner Brüder und Schwestern aus den alten Bundesländern: "Das erinnert mich an die westliche Arroganz bei der Vereinigung unseres Landes", sagte er. Mit diesem Satz kehrte Gysi in den Schoß der alten PDS zurück. Und schlug krachend die Tür hinter Lafontaine zu.
Lafontaines Antwort auf Gysi war ein einziges Rechtfertigungsgebrüll. Gysi hatte einen Nerv getroffen, Lafontaines Nerv, der am Ende nur noch seine Rache an Dietmar Bartsch kühlen und seiner Freundin Sahra Wagenknecht nach oben helfen wollte.
Gysi hat in Göttingen für die Geschichtsbücher gesprochen, Lafontaine nur noch über sich selbst - und sein Scheitern. Kurzfristig mag er als Sieger vom Platz gehen und das Triumphgeheul des Lafontaine-Lagers nach der Wahl von Bernd Riexinger statt Dietmar Bartsch wird dem neuen Vorsitzenden noch zur schweren Bürde. Er gilt schon jetzt als der neue Klaus Ernst - also ein Platzhalter von Lafontaines Gnaden.
Will er sich und der Partei Profil geben, tut er gut daran, sich möglichst schnell zu emanzipieren, von der Methode, mit der er an die Macht gekommen ist. Die Ära Lafontaine, auch die Methode Lafontaine, wurde in Göttingen endgültig beendet. Will die Linke wieder ein eigenes Profil gewinnen, muss auch der Lafontaine-Kandidat Riexinger das erkennen: Die West-Linken brauchen den Osten zum Überleben sehr viel mehr als umgekehrt.
Für seine Co-Vorsitzende Katja Kipping ist die Ausgangssituation ähnlich ungemütlich. Sie kam mit einem Vorschlag für einen Dritten Weg erst um die Ecke, nachdem Dietmar Bartsch Lafontaines Kandidatur verhindert hatte. Am Ende gab sie auch den dritten Weg auf, um ihren eigenen zu gehen: Direkt an die Spitze.
Ihre angeblich Traumkombination von einer weiblichen Doppelspitze (Katharina Schwabedissen wurde nicht mal mehr zur Vize gewählt) ging auf Kosten von Bartsch, der zwar mit einem stolzen Ergebnis vom Platz geht, aber eben vom Platz geht.
Kipping wird Wunden heilen müssen. Sie besitzt Ausstrahlung, Talent und Willen. Sie wird von vielen immer noch unterschätzt, was schon mal einer Frau aus dem Osten dabei geholfen hat, einer krisengeschüttelten Partei ihren Stempel aufzudrücken und eine eigene Ära zu beginnen: Angela Merkel nach der Spendenaffäre in der CDU.
Bartsch wird nun so etwas wie ein Märtyrer in der PDS, er hat den Ossis das Selbstbewusstsein vorgelebt, mit dem man sich auch beim Preis des eigenen Untergangs einem wie Lafontaine nicht mehr unterwirft. Wenn er an dieser Schlammschlacht der vergangenen Wochen nicht zerbricht, darf man getrost davon ausgehen, dass sich dieses Duell bald noch einmal wiederholt. Wenn es um die Nachfolge von Gysi in der Bundestagsfraktion in der nächsten Legislaturperiode geht, wird es heißen: Bartsch oder Wagenknecht. Und man darf sich sicher sein, dass der einst verlorene Sohn Gysi auf der Seite des Ossis Bartsch steht. Und nicht an der Seite der Saarländerin.
Vorausgesetzt, es gibt dann noch eine linke Fraktion.
Kommentar zur Krise der Linken: Gysi ist der Gewinner - SPIEGEL ONLINE