Eine kleine Geschichte über Sicherheit im Flugverkehr

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kingair9

Megaposter
18.03.2009
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Unter TABUM und in BNJ
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Folgende Geschichte habe ich mit ausdrücklicher Genehmigung des OP in der CL hierher kopiert. Es handelt sich bei dem OP um einen Verkehrspiloten und die man sollte die Geschichte auch immer so lesen, daß die Pilot geschrieben hat (und kein Eisenbahner...).

"Es war einmal ein kleiner mittelständischer Eisenbahnerbetrieb in Westeuropa, der sich vor allem eines auf die Fahnen geschrieben hatte: Sicherheit. In einer Zeit, in der viele Passagiere sich ängstigten in die Hochgeschwindigkeitszüge einzusteigen, war höchste Sicherheit nicht nur ein Verkaufsargument für die Fahrscheine, sondern bei der Vielzahl der täglichen Verbindungen auch ein entscheidender Aspekt um langfristig unfallfrei fahren zu können.

Zu diesem Zweck gab es zahlreiche Einrichtungen: Ein Betriebshandbuch (GrandMA) die Abteilung Zug-Fahrsicherheit (ZF), eine Trainingsabteilung und natürlich zahlreiche Führungspersonen in diversen Hierarchieebenen. Im großen und ganzen lief es in diesem Unternehmen ziemlich gut. Man konnte regelmäßig Gewinne einfahren, in den letzten Jahren sogar einige Konkurrenten aufkaufen und war als Unternehmen weltweit hoch angesehen.

Natürlich hatte man, wie wohl jeder Betrieb, mit der ein oder anderen kleinen Unannehmlichkeiten zu tun: Mal probte die Gewerkschaft der Lokomotivführer den Aufstand gegen die Geschäftsleitung, mal verhagelte eine Bankenkrise das positive Jahresergebnis, aber wie schwer die Probleme auch wiegen mochten, nicht kratzte am Sicherheitsdenken des Unternehmens und seiner Lokführer.

So hatte beispielsweise die Abteilung ZF erst vor einiger Zeit durchgesetzt, dass schon 1000 Meter vor jedem Bahnhof das Abbremsen des Zuges eingeleitet sein musste, um ein allzu sportliches Heranfahren an die Haltestellen zu vermeiden. Dies war durchaus auf Widerstand bei den Lokführer gestoßen, die sich aus ihrer Erfahrung auch zutrauten noch deutlich später den Bremsvorgang einzuleiten und trotzdem sanft und sicher am Bahnhof zum Stehen zu kommen. Aber, so wurde vorgerechnet, bei der enormen Anzahl an täglichen Fahrten musste das Risiko auf einen Wert von 10 hoch -8 minimiert werden, um langfristig überleben zu können. Diese unvorstellbar kleine Zahl wurde zum Credo und zum Stolz des ganzen Betriebs.

Doch dann passierte etwas, womit vorher niemand gerechnet hatte: Der saure Regen kam.

Saurer Regen, das kannte man bisher nur aus fernen Ländern, und es gab so einige Horrorgeschichten darüber, wie er Gleise beschädigte und Weichen zerstören konnte. Schlimmste Dinge bis zum Entgleisen ganzer Züge wurden mit ihm in Verbindung gebracht. Die einzig richtige Reaktion folgte prompt: Der gesamte Betrieb wurde, auf Anweisung der Verkehrsbehörde, sofort eingestellt. Diese Situation war neu für die Eisenbahner, und sie war unheimlich. Die ersten Tage hoffte man noch auf eine schnelle Wetterbesserung, doch die sollte sich nicht einstellen.

Vorsichtig wurden erste Stimmen laut, dass man den Gleisen ja gar keine Beschädigung ansah. Ob man nicht vielleicht doch darauf fahren könnte. Doch darauf wollte sich die Behörde nicht einlassen. Es fehlte an belastbaren Erkenntnissen.

Diese zu gewinnen war nun das Credo der Stunde, also ging der Eisenbahnbetrieb auf eigenes Risiko hinauf auf die Strecke und teste, ohne Passagiere, die Gleisbeschaffenheit. Diese sei so gut wie immer, wurde schon nach den ersten Kilometer verkündet. Doch diese Information, egal wie vehement auch vorgetragen, reichte dem verantwortlichen Minister nicht aus, um die Streckensperrung aufzuheben. Die Diskussion wurde mangels neuer Erkenntnisse ersatzweise mit immer mehr Emotion geführt, schon bald schimpften die sonst so besonnenen Eisenbahner auf den Minister, dann auch mal auf die Gewerkschaft oder den Regen selbst, am Ende beschimpfte man sich hauptsächlich gegenseitig. Bis dem Hausjuristen eine erstaunliche Lücke im Regelwerk der Eisenbahnen auffiel: Verbieten konnte man dem Unternehmen nur das Vorwärtsfahren. Die Lösung war ebenso blödsinnig wie genial: Der Betrieb wurde in Rückwärtsfahrt wieder aufgenommen!
Zugegeben, rückwärts zu fahren war im allgemeinen kein anerkanntes Prozedere, genaugenommen sogar durch das GrandMA untersagt, aber diese hausinterne Regelung lies sich schnell außer Kraft setzen. Zwar merkten einige Lokführer zaghaft an, dass es ja dem sauren Regen egal sei, ob man nun vorwärts oder rückwärts über angegriffene Gleisstrecken fuhr, aber für solche Spitzfindigkeiten hatte zu diesem Zeitpunkt, nach tagelangem Stillstand des gesamten Betriebs, niemand ein offenes Ohr.
Alsbald fanden sich die ersten Freiwilligen (wer nicht Freiwilliger war, war krank) um die Züge rückwärts auf die Strecke zu bringen. Natürlich gab es am ersten Tag einige Probleme, zum Beispiel konnte man Streckensignale nun erst viel später erkennen, da der ganze Zug das Signal ja jetzt bereits passiert hatte, als der Lokführer es sah. Manche munkelten, der gesamte Aufbau eines Zuges, der Streckenführung sowie das Training der Lokführer sei halt eher auf den vorwärts gerichteten Verkehr ausgelegt, aber dank der großen Umsicht aller Lokführer gelang es tatsächlich unfallfrei zu operieren. Einzig die Gewerkschaft der Lokomotivführer bemängelte, dass man doch einfach die Vorwärtsfahrt erlauben sollte, wenn man nun doch sowieso auf den eventuell beschädigten Gleisen unterwegs sei, wurde dafür aber vielfach sogar von ihren eigenen Mitgliedern kritisiert.
Wirtschaftlich war die ganze Aktion ein voller Erfolg, einen ganzen Tag lang konnte man einen Notfallfahrplan umsetzen und als am nächsten Tag der saure Regen endlich aufhörte, da waren alle mächtig Stolz darauf schon einen Tag früher wieder unterwegs gewesen zu sein.
Nur einige wenige wunderten sich, warum man früher soviel Wert darauf gelegt hatte, schon tausend Meter vor einen Bahnhof zu bremsen um abstrakt kleine Sicherheitsniveaus zu erreichen, wenn man doch bei ausreichend hohem wirtschaftlichen Druck plötzlich rückwärts fahren konnte.
Und so blieb nach all dem Chaos vor allem eine brennende Frage in den Köpfen der Lokführer: Was hatte der saure Regen jetzt eigentlich beschädigt: Die Gleise oder die Sicherheitskultur des Unternehmens?"