Ins Land der Huzulen

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unseen_shores

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30.10.2015
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Tag 7: Ivano-Frankivsk

Sicherheitslage hin oder her: „Ivano-Frankivsk - here we come“ Die Stadt wurde als Stanislawow (Stanislau) 1662 vom polnischen Adelsgeschlecht der Potockis gegründet und wechselte seitdem wie alle Orte der Region häufig den Herrscher. Nach den Polen kam das österreichische Kaiserreich. K.u.k war aud bekannten Gründen kein Erfolgsmodell von Dauer; im Jahr 1919 folgte die Westukrainische Volksrepublik, deren Hauptstadt Ivano-Frankivsk war, es folgten die Polen. Im Herbst 1939 nutzte die Sowjetunion die Gunst der Stunde und besetzte die gesamte Region. Wie andernorts wütete der NKWD erst einmal. Im Jahr 1941 besetzten zunächst die Ungarn die Stadt, die diese im Juli an die Deutschen übergeben mussten. Damit war auch das Schicksal der jüdischen Bevölkerung besiegelt. Während das Massaker von Babyn Jar es sogar in die Geschichtsbücher geschafft hat, ist die Ermordung von 10-12.000 Juden in Ivano-Frankivsk aus dem Gedächtnis verschwunden. Das Massaker fand am 12. Oktober 1941 auf dem jüdischen Friedhof statt und als ob dies noch nicht genug wäre, wurden zu Sowjetzeiten Teile des Friedhofs in einen See umgewandelt. Die Spuren jüdischen Lebens sind mittlerweile weitgehend verschwunden.

Heutzutage ist Ivano-Frankivsk eine lebendige Stadt, in der versucht wird, den Krieg im normalen Leben auszublenden. Nach dem ukrainischen Dichter wurde die Stadt im Jahr 1962 umbenannt.

Wenn ich allerdings etwas gar nicht mag, dann sind es Witzbolde, die einen Handyklingelton im Stil einer Raketenwarnung verwenden. Es gibt in der westlichen Ukraine mindestens zwei davon.

Man merkt der Stadt die bewegte Geschichte an, barocke Kirchgebäude, eine zu einem Shopping Center umgewandelte österreichische Garnison, Gründerzeithäuser sowie ein Schwung Brutalismus. Es gibt viel zu entdecken, obwohl man einigen Gebäuden ansieht, dass ihnen die vielen Veränderungen nicht gut getan haben.

Das Bahnhofsgebäude sieht aus, wie der kleine Bruder das Bahnhofs von Lviv.

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Vor dem Bahnhofsgebäude steht wie an vielen Orten der Region eine Dampflok. Deren Geschichte ist wohl eng mit der der westukrainischen Volksrepublik verbunden. Beim nächsten Mal muss ich mir die Tafeln noch einmal genauer anschauen.


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Unweit des Bahnhofs befindet sich ein Ehrenfriedhof, an dem man die martialischen sowjetischen Denkmäler wohl bereits leicht umgestaltet hat.


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In der Bahnhofsstraße befinden sich viele interessante Häuser, die jedoch eine bessere Zeit hatten.


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Uns zog es zum Hotel Nadiya. Der Name Nadiya fiel in unserem Gruppenchat vor Reisebeginn häufiger. Mitforist @red_travels , der uns leider diesmal auch nicht auf dem ersten Stück der Reise begleiten konnte, hatte schon Sorge um meine Ehe. Da ich aber nicht an Objektophilie leide ist alles gut und meine Ehe gerettet. Im Hotel Nadiya wurden wir nett aufgenommen. Julius hatte über Expedia gebucht, ich über booking.xxx. Bei längeren Touren handhabe ich das so, dass ich bei einem bestimmten Anbieter durch buche, um nicht durcheinander zu kommen. Ich erhielt netterweise ein Upgrade. Allerdings kann auch Nadiya trügerisch sein, für einen möglichen weiteren Aufenthalt wollte ich das Hotel gleich wieder buchen, aber es ist bereits ausgebucht. So trügerisch ist die Nadiya.


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Wir warfen die Sachen ab, verschnauften etwas und zogen durch die Stadt.

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Ivano-Franko-Statue


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Das örtliche Theater, von dem es heißt, in den Brutalismusbau seien auch huzulische Elemente eingeflossen.

Das Stadtzentrum:

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Wegen des Wetters hatte ich keine Lust die Kamera auszupacken, es blieb bei ein paar Handyschnappschüssen.

Wir speisten in einer historischen Passage, meinen Burger gibt es zu gegebener Zeit im passenden Thread.


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Danach schlenderten wir noch durch den Ort, bevor wir den Abend in einer Bar ausklingen ließen.

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Gebäude der medizinischen Fakultät, das eher repräsentativen Zwecken dient.

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Griechisch-unierte Kirche. Die Außenaussicht gibt es am nächsten Tag.

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Ehemalige Kirche, die seit Sowjetzeiten ein Museum ist.


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Ehemaliges Bad.

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Gebäude des historischen Rathauses.

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Denkmal, dessen Bedeutung ich noch nicht recherchiert habe, vor der heutigen Stadtverwaltung.

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Ehemalige Synagoge


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Adam-Mickiewicz, das den Zweiten Weltkrieg auf abenteuerliche Art und Weise überlebt hat.

Übertrieben haben wir es nicht. Ich hatte wegen des kommenden Tages bereits in den Ernsthaftigkeitsmodus umgeschaltet. Aber sicher kann man in den studentischen Kneipen des Ortes auch gut abstürzen.
 

juliuscaesar

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Hier noch ein schöner Blick auf die brutalistische Stadtverwaltung:
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Ivan Franko und die hübsche Nadyia im Hintergrund:
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So sah die Synagoge vor der Zerstörung durch die Nazis aus:
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Ivano-Frakivsk hatte einen sehr großen jüdischen Bevölkerungsanteil zu Beginn des 2. Weltkriegs. ~ 50% wenn ich mich recht erinnere.

Dampflokomotive und Bahnhof im Hintergrund:
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Auf dieser historischen Bahnstrecke kann man wunderbar die Städte

Chernivtsi-Kolomyia-Ivano Frankivsk-Lviv

kombinieren. Alle vier Städte sind sehenswert.
 

unseen_shores

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30.10.2015
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Tag 8: Ivano-Frankivsk

Am nächsten Tag standen für uns nach dem Frühstück zwei Veranstaltungen mit Studierenden an einer der lokalen Universitäten an. Julius ist dort recht gut vernetzt und ich wurde auch nett aufgenommen. Insgesamt kann ich sagen, ich habe an diesem Tag sehr viel gelernt.

Am frühen Nachmittag waren wir mit unserem Programm fertig und es blieb noch etwas Zeit für eine kleine geführte Stadtbesichtigung, wobei der Tag seinen Tribut gezollt hat, und wir es nicht mehr übertrieben.

Erster Besichtigungspunkt war das Museum im historischen Rathaus der Stadt. Das Museum hat verschiedene Abteilungen: Naturkunde, Geschichte, Ethnographie, Religion und Kunst. Man bewegt sich durch mehrere Etagen nach oben. Am Ende wird man mit einem Blick von der Aussichtsterrasse auf die Stadt belohnt.

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Das versprochene Foto der griechisch-unierten Kirche

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Danach ging es noch in die ehemalige österreichische Garnison, die heute ein Kultur- und Einkaufszentrum ist.

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Andere Sehenswürdigkeiten, wie der örtliche See, der Shevchenko-Park und der Potocki-Plast müssen bis zum nächsten Besuch in der Stadt warten. Dieser steht eher an, als gedacht.

Nach einer kurzen Pause im Hotel gingen wir zum Abendessen in ein Restaurant, das uns empfohlen wurde. Serbisches Pljeskavica hätte ich nicht auf der Speisekarte vermutet, aber in Erinnerung an unsere erste Eisenbahntour fiel mir die Wahl leicht.

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In Ivano-Frankivsk gibt es ein Katzencafé. Dort ließen wir mit einem Cat-puccino einen ereignisreichen Tag ausklingen.

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Julius' Vermutung wir würden uns vielleicht nachts noch einmal im im Luftschutzkeller treffen, bewahrheitete sich glücklicherweise nicht. Alle Nächte, die ich in der Ukraine verbracht habe, blieben ruhig.
 

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Tag 9: Nach Lviv

Meine Rückreise war ursprünglich anders geplant. Ich wollte nachmittags einen Bus nach Mukachevo nehmen und am nächsten Tag über Ushgorod nach Kosice fahren, von wo ich nach Hause fliegen wollte. Der Flug ab Kosice wurde auch deshalb gebucht, weil die mögliche Alternativroute durch Ungarn dort auch enden konnte. Die nächtliche Busfahrt nach Mukachevo fand ich wenig verlockend, zumal die geplante Zeit für Ushgorod und Mukachevo sehr knapp bemessen war. Deshalb war ich für Julius' Idee einen halben Tag in Lviv zu verbringen sehr aufgeschlossen. Eine Übernachtung in Lviv hatte ich mich jedoch für mich ausgeschlossen, so dass uns ein halber Tag blieb.

Nach dem Frühstück ging es mit dem Zug nach Lviv. Morgens um 9:00 Uhr findet täglich eine Gedenkminute für die gefallenen Ukrainer statt. Diese fiel mit dem Einsteigeprozess in den Zug zusammen, ungewöhnlich für Außenstehende. Jedoch wird die Schweigeminute sehr ernst genommen und der Einsteigevorgang verzögerte sich nur kurz.

Nach einer reichlichen Stunde Zugfahrt kamen wir in Lviv an. Zum ersten Mal auf unserer Reise schien die Sonne.

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Am Bahnhof gab es eine Passkontrolle. Da wir beide im wehrfähigen Alter sind, erweckten wir wohl Interesse. Ich habe diese übersehen, wurde aber aus der Ferne als harmlos eingestuft. Wenn man auf Reisen den Eindruck „weird but harmless“ hinterlässt, kommt man überall gut durch. Unabhängig davon erregten wir in Lviv weniger Aufsehen als noch im Gebirge. Der Paradiesvogelbonus war definitiv weg.

Mit der Straßenbahn ging es ins Zentrum und von dort in die Wohnung, die Julius angemietet hat. Zum Mittagessen waren wir mit einer Freundin von Julius verabredet, die es kritisch sieht, wenn immer mehr Ukrainer das Land verlassen. Aus meiner Sicht verständlich, auch wenn man niemanden seine Lebensplanung aufzwingen möchte. Auch macht es sicherlich einen Unterschied, ob man im Osten des Landes, wo Angriffe an der Tagesordnung sind, oder im eher ruhigen Westen des Landes lebt.

Wir schlenderten durch Lviv.

Hier ein paar Eindrücke aus der Stadt, deren Bewohner versuchen, ein möglichst normales Leben zu führen.

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Die Denkmäler sind – mit Ausnahme von Taras Shevchenko – alle durch Verkleidungen vor Luftangriffen geschützt.

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Café im historischen Rathaus der Stadt.


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Das Wohnhaus von Hersh Lauterpacht, der hier studierte. Lauterpacht war bei den Nürnberger Prozessen maßgeblich an der Entwicklung des Tatbestands der Verbrechen gegen die Menschlichkeit beteiligt. Raphael Lamkin, auf den die Völkermorddefinition zurückgeht, lehrte in der Zwischenkriegszeit ebenfalls in der Stadt. Nachlesen kann man das in Philippe Sands Buch "East West Street".

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Das Opernhaus

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Die im Jahr 1942 zerstörte Rosensynagoge.

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unseen_shores

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Tag 9/10 Heimfahrt

Nach einer kurzen Pause hieß es Abschied von Julius nehmen. Noch ein paar Süßigkeiten gekauft und dann zum Bahnhof. Für den Rückweg habe ich am Donnerstag den Regiojet nach Prag gewählt. Auf der Habensseite steht ein durchgehendes Ticket, auf der Negativseite, dass die polnischen Grenzbeamten wohl länger Abendbrot gemacht haben und sich die Einreise in die EU daher verzögerte.

Man bucht die Reise über die Webseite von Regiojet und die Fahrkarte für den ukrainischen Teil der Reise bekommt man ca. 24 Stunden vorher per E-Mail.

Ab Lviv ging es zunächst mit einem Zug, der aus Kyiv kam, nach Przemysl. Dieser kam bereits leicht verspätet an. Kurz vor Zugeinfahrt wurden die Mülleimer am Bahnsteig noch auf Bomben kontrolliert. Alle (außer mir) wirkten sehr gelassen. Einige Reisende hatten Katzenkörbe dabei. Dies deutete darauf hin, dass sie die Ukraine endgültig verließen.

In Przemysl empfiehlt es sich bereits in einem der vorderen Wagen zu stehen. Ich bin aus dem hinteren Wagen zwar schnell raus, hatte aber dennoch eine Traube Menschen vor mir. Die Grenzschalter für EU-Bürger blieben daher zunächst in Entfernung. Ich wollte aber nicht mit meinem deutschen Pass wedeln (zumindest nicht gleich). Aufgrund der Verzögerung ging der Regiojet mit einer Stunde Verspätung raus. Zunächst sah es so aus, dass ich ein Abteil für mich alleine hätte.


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Kurz vor Abfahrt stieg eine etwas überfordert wirkende Frau ein, danach eine andere Passagierin. Der Plan in Ruhe aufs Abendessen zu warten, war damit hinfällig. Wir bauten Betten. Wegen der Verzögerung kam der Zugbegleiter erst seht spät. Ich war bereits eingeschlafen. Die clevere der beiden Mitreisenden organisierte uns jedoch allen noch schnell ein Croissant. Am Morgen erzählte sie mir, dass sie seit drei Jahren in Tschechien lebe, im nächsten Monat aber nach Kanada auswandern würde.

In Prag hatten wir fast 90 Minuten. Verspätung. Deshalb musste ich mich in Prag beeilen, um meinen Anschlusszug zu bekommen.

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Das ausgefallene Abendessen holte ich im Speisewagen der tschechischen Bahn nach.
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Das Gute ist, wenn man morgens um 9:00 Uhr zum Bier greift, ist man nicht alleine.

Der Anschluss in Dresden klappte gut. Pünktlich zum Mittagessen war ich erschöpft zu Hause. Die durch die Planungsänderung gewonnenen Tage nutzte ich zum Ausschlafen. Nachts signalisierte das Gehirn Reizüberflutungen, weshalb der Schlaf insbesondere in der zweiten Nacht zu Hause wenig erholsam war.
 

unseen_shores

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30.10.2015
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Fazit

Auf ein Fazit verzichte ich, da dieses wohl polarisieren würde. Vielen Dank, dass ihr bislang auf eine politische Diskussion hier im Thread verzichtet habt. Julius und ich öffnen diesen Thread jedoch gerne für Ukraineberichte von anderen Mitforisten, die keinen eigenen Bericht schreiben möchten. Denn es sind mehr Mitforisten regelmäßig in der Ukraine, als man denken würde.

Wir sind beide Ende des Monats bereits wieder in Ivano-Frankivsk. Der innere Monk in mir hat geplant, dann noch ein neues Bild der etwas verwackelten Adam Mickiewicz Statue in den Thread zu stellen, obwohl wahrscheinlich nicht viel Zeit für Sightseeing bleiben wird. Danke fürs Mitreisen!
 

unseen_shores

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*hüstel Welche Funktion käme dir da zu? Von früheren Kriegen erzählen? 🤣

Etwas desorientiert durch die Kante zu laufen und so Freund und Feind verwirren.

Danke für den interessanten Bericht, ihr drei! Was ist als nächstes geplant?

Ich bin erst einmal mit der Chefin im Spreewald. Sonnige Tage sind auch nicht zu verachten.

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@juliuscaesar und ich sind Ende November noch auf eine Konferenz nach Ivan-Frankivsk eingeladen, wobei ich den Aufenthalt kurz halten werde.

Im Februar mit @schlepper Deinem Tipp folgend, zunächst ein Tässchen Heeßen in Addis und dann ein paar Bier am Kivu-See. Diesbezüglich schaue ich mir mal Deine Anregungen an.

Eisenbahntechnisch sind wir noch in der Diskussionsphase. Ich wäre für etwas Kleineres in der Region, da es schwer fällt, jedes Jahr die Reise des vergangenen Jahres zu toppen. Außerdem ist bei mir ab Mitte des Jahres die Frage meiner Urlaubsvertretung noch ungeklärt, weshalb ich ab Juli nichts Längeres plane. Mir kämen daher eher verlängerte Wochenenden entgegen.

Außerdem würden wir uns freuen, wenn im nächsten Jahr @red_travels wieder mit an Bord wäre.
 

unseen_shores

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30.10.2015
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Erste Zugabe (Teil 1):

Wie bereits angekündigt, stand noch die Frage eines Konferenzbesuchs im November an. Julius startete diesbezüglich eine Charmeoffensive. Auch meine Frau sagte sofort, Du fährst! Ich hoffe nicht, dass sie auf eine Witwenrente spekuliert, da ich aber noch ein paar Jahre Beiträge zahlen muss, glaube ich das eher nicht. Kritisch wird es wahrscheinlich erst, wenn ich in zehn Jahren Werbebroschüren vom afghanischen Fremdenverkehrsamt auf meinem Schreibtisch finde.

Der Konferenztermin lag günstig unmittelbar nach dem Buß- und Bettag, der in Sachsen noch ein Feiertag ist.

Los ging es in einer Kreuzberger Kneipe am Schlesischen Tor, wo ich mich mit @schlepper traf, der gerade beruflich in Berlin war. Gut ganz so einfach war es nicht. Erst musste ich nach Berlin kommen und mein Hotel umbuchen. Dramaturgisch ist der Kreuzberger Beginn jedoch hochwertiger. Alo langweilen wir lieber zugunsten einer guten Geschichte nicht mit der Realität. Diese wäre mit Zugumleitungen und unangenehmen Temperaturen verbunden.

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Nach einer kurzen Kreuzberger Nacht ging es am nächsten Morgen zum Berliner Flughafen. Gleich in der S-Bahn wusste ich, warum ich ursprünglich ein Hotel am Flughafen gebucht hatte. Obwohl der S-Bahn-Verkehr kurzzeitig zum Erliegen kam, war ich rechtzeitig am Flughafen. Es ging mit LOT über WAW nach RZE.

In Warschau erreichte mich Julius‘ Nachricht, dass der Lauftraum über RZE wegen des russischen Luftangriffs in der vergangenen Nacht auf die Westukraine gesperrt war. Erst am Tag danach sollte das Ausmaß des Angriffs sichtbar werden, 36 Tote in Ternopil. Es ging jedoch pünktlich weiter. Am Gate in Warschau waren alle tiefenentspannt. Auf dem Flughafen RZE herrscht absolutes Fotografierverbot. Bei der Landung wird man von Raketenwerfern begrüßt (nicht in Aktion).

Rzeszow ist ein nettes Städtchen:

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@Hene: Auch hier sind die Spuren des Ersten Weltkriegs noch sichtbar.
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Wie an anderer Stelle bereits geschrieben: Wenn man nicht in Przemysl übernachten möchte, bietet Rzeszow eine gute Alternative.

Leider wurde es bereits kurz nach 15:00 Uhr dunkel, so dass ich nicht wirklich viel gesehen habe.

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Neue Synagoge.

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Alte Synagoge


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Kein Reisebericht ohne Adam Mieckiewicz (bei künftigen Asienbesuchen muss ich die Realitär wohl leider mehr manipulieren).

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Alter Friedhof

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Rathaus

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Sozialistisches Weltkriegsdenkmal, das wohl noch eine Gnadenfrist bekommen hat, aber bereits eingezäunt ist.

Es blieb noch Zeit für einen Café- und einen Kneipenbesuch.

Danach ging es weiter zum Busbahnhof.

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Der Bus kam mit einer Stunde Verspätung an. Ich hatte auf eine Verspätung gehofft, denn planmäßige Ankunft in Ivano-Frankivsk wäre um 4:00 Uhr. gewesen Der Bus von P-Trans war gut gefüllt. Wir waren schnell an der Grenze. Aufgrund der verschärften Ein- und Ausreiseregeln zogen sich die Formalitäten auf der polnischen Seite ca. zwei Stunden hin. Von allen Nicht-EU-Staatsengehörigen (alle außer mir wurden die Fingerabdrücke genommen. Danach wurden die Pässe eingesammelt. Soweit blieb ich zeitmäßig im Plan, errechnete Ankunftszeit um 6:00 Uhr. Dann geschah das Unerwartete: Grenzformalitäten in der Ukraine sehr zügig.

Auch eine kurze Pause an der Tanke lieferte auch nicht die erhoffte Verspätung.

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Die Straßen waren frei, so dass ich gegen 4:30 Uhr in Ivano-Frankivsk war. Zu diesem Zeitpunkt herrschte noch Ausgangssperre. Auch der Strom war noch überall in der Stadt abgestellt. Man merkte gleich den Unterschied in der Stadt, auch die Stimmung erschien mir angespannter.

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Ich wurde pünktlich abgeholt und wir warteten noch in der Uni bis der Strom wieder da war, noch ein schneller Kaffee und dann gleich ein Seminar.

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Dass ich zu diesem Zeitpunkt noch auf den Beinen stand und Späße machen konnte, wurde vom Auditorium goutiert. Die Erklärung war einfach: wenn ich aufhöre zu lächeln, ist die gesamte Körperspannung futsch und ich schlafe stehend ein.

Danach ging es ins Hotel. Das Nadyia war diesmal ausgebucht. Daher wurde es das Nadiya-Palace. Ein Hotel mit Pool in Kriegszeiten trotz Stromausfalls hinterlässt schon ein zwiespältiges Gefühl.

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Erste Zugabe (Teil 2)

… Nach einem gemeinsamen Mittagessen seilte ich mich ab und konnte einen Plan verfolgen, den ich schon für den letzten Besuch gefasst hatte, eine Runde durch die Stadt und um den See sowie den Besuch des jüdischen Friedhofs.

Zunächst jedoch der im Oktober versprochene Mickiewiez bei Tageslicht.

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... durch die Stadt, in der der Krieg allgegenwärtig ist ...


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Die Synagoge wurde doppelt entweiht. An deren Rückwand richtete die SS im Jahr 1943 mehrere ukrainische Mitglieder der nationalistischen OUN hin.

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... zum künstlichen See ....

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... mit der Liebesinsel ...

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... zum jüdischen Friedhof...

Auf dem Gelände des jüdischen Friedhofs verübte die SS/der SD (die Ereignisse sind nicht abschließend erforscht, gemeinsam mit ukrainischen Hilfspolizisten im Oktober 1941 ein Massaker, bei dem fast die gesamte jüdische Bevölkerung der Stadt ums Leben kam. Dies ist auch in der Ukraine weitgehend in Vergessenheit geraten. Der Friedhof bietet einen traurigen Anblick. Der benachbarte See, der zu Sowjetzeiten gegraben wurde, befindet sich zum Teil auf dem Gelände des ehemaligen Friedhofs.

Omer Bartovs Buch Erased, Vanished Traces of Jewish Galicia in Present Day Ukraine ist ein wertvoller Reisebegleiter (auch wenn etwas veraltet).


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Eine trauriger Ort.

Zurück im Hotel habe ich mich noch eine halbe Stunde hingelegt und dann noch soziale Kontakte gepflegt. Nachdem @juliuscaesar am Abend in Ivano-Frankivsk angekommen war, tranken wir noch einen Cider oder zwei. Dann verabschiedete ich mich in Morpheus‘ Reich.
 
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juliuscaesar

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Der See ist ein beliebter Treffpunkt in Ivano-Frankivsk zum Spazieren, Joggen, Gassi-Gehen. Wenn man aktive Menschen sehen möchte, ist man dort richtig.

@unseen_shores machte mich auf die Geschichte des Sees und den dortigen jüdischen Friedhof aufmerksam, wirklich sehr traurig, der Zustand.

Wikipedia* schreibt dazu sehr deutlich:

Im Stadtzentrum befindet sich ein künstlicher See, der in der Sowjetzeit am Ort eines früheren jüdischen Friedhofs angelegt wurde. In unmittelbarer Nachbarschaft des Sees liegt der jüdische Friedhof, innerhalb dessen Mauern während der deutschen Besatzung im Zweiten Weltkrieg eine große Anzahl von Juden zusammengetrieben und ermordet wurden.


*Thomas Sandkühler: „Endlösung“ in Galizien. Der Judenmord in Ostpolen und die Rettungsinitiativen von Berthold Beitz 1941–1944, Bonn 1996, (St.: S. 150–152).
 

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Erste Zugabe (Teil 3)

Früh am Morgen ging es zum Frühstück und danach gleich zur Konferenz, die sehr interessant war. Wie bereits geschrieben, hatte ich den Eindruck, dass die Stimmung gedrückter war, als im Frühherbst.

Nach der Konferenz wurde noch etwas Konfekt für meine Mitarbeiterinnen in der Kanzlei gekauft. Die gingen Übrigens weg wie geschnitten Brot. Falls jemand kurzfristig in den Eurospar nach Ivano-Frankivsk kommt, hätte ich eine größere Bestellung aufzugeben. Der Laden liegt zwischen Nadiya und Nadiya-Palace.

Außerdem testete ich den Pool. Fotos gibt es keine. Ich wollte Schlagzeilen "Deutscher forografiert wild im Spa-Bereich" vermeiden.

Abends noch ein gemeinsames Essen mit Freunden.

Über Nacht fing es an zu schneien.

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Am späten Morgen ging es mit dem Taxi zur Busstation.

Auf eine Reise nach Jaremtsche verzichtete ich.


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Dennoch blieb noch Zeit für eine kleine Runde.

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Der Bus war zunächst pünktlich, jedoch schneite es unterwegs heftig. Der Bus kam nur sehr langsam voran.

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Medyka erschien zwischenzeitlich schwer erreichbar. Zumindest habe ich gelernt, wie man gepflegt auf ukrainisch flucht.

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Die Wartezeit an der Grenze war eine Katastrophe. Zu Fuß wäre ich schneller durch gewesen. Mal verliert man, mal gewinnen die anderen. Wenigstens hatten die Mitforisten, die mich vor der Bustour gewarnt haben, Recht behalten. Nun ja dafür hatte ich die Umsteigeproblematik nicht.

Hier hatte ich bereits etwas zum Grenzübergang geschrieben:



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Letzte Pause an einer polnischen Raststätte.

Nach elf Stunden kam ich in Rszeszow an. Mit dem Taxi ins Hotel, noch eine Kleinigkeit zu essen und dann ins Bett.

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Eine interessante Version des Kotlet schabowy (ich bevorzuge den Klassiker).

Der Plan vor der Heimreise noch eine Nacht im Hotel zu übernachten, war gut. So ließen sich die Eindrücke besser verarbeiten als beim letzten Mal.

Am nächsten Morgen lag noch mehr Schnee.

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Zum Flughafen gönnte ich mir ein Taxi, man wird älter.

Am RZE lief noch alles wie am Schnürchen. Das Handy blieb wieder in der Tasche. Kritisch wurde es am WAW. Aufgrund des Wintereinbruchs hatten einige Flugzeuge Verspätung, so auch mein Anschluss nach Berlin mit weit über einer Stunde Verspätung abflog.

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...dit is Berlin...

Wegen der Verspätung war der eigentlich eingeplante Zug bereits weg. Jedoch gelang es mir den vorletzten Zug des Tages in Richtung Leipzig zu erreichen. Wermutstropfen war die Umleitung. Ca. 36 Stunden nach der Abfahrt in Ivano-Frankivsk war ich wieder zu Hause.

Jetzt ist erst einmal eine Ukrainepause bis zum Frühjahr angesagt, allerdings mit dem Wissen, dass den Ukrainern der wohl schwerste Kriegswinter bevor steht.

Mein Flugjahr ist offiziell beendet. Im Januar geht es dann nach Tallinn.
 
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unseen_shores

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