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Alle zwei Jahre wartet im Sommer ein großes Fußballturnier, wo der geneigte Fußballfan voll auf seine Kosten kommt. In diesem Sommer sollte die EM in Polen und in der Ukraine steigen. Fußballherz, was willst Du mehr? Für mich sollte es das erste Turnier sein, dass ich mit einer großen Tour bereiste. Ein Freund von mir hatte einen Plan ausgearbeitet, bei dem man alle deutschen Spiele und zudem mindestens ein Spiel in jedem der acht Stadien besuchen konnte. Da konnte ich mich einfach anschließen und nachdem nach einigem Suchen und Tauschen auch für alle Spiele die Karten besorgt waren, konnte die Reise beginnen.
Am morgen des ersten turniertages fand sich dann eine illustre 9-köpfige reisetruppe ein, die mit verschiedenen zielen und reisedauern den kleinbus gen östliches nachbarland betrat.
Erste pläne erst mit einem polnischen bier hinter der grenze erstmals anstoßen zu wollen, erledigten sich just mit der frage „jemand nen bier?“ beim befahren der a2, na das konnte ja heiter werden. Wurde es auch, zum ersten male insbesondere an der grenze. Kontrollen ja nur sporadisch, alle autos inkl. neunsitzern vor uns auch problemlos durch. Nur unsere besatzung erwischte es natürlich, war irgendwie auch genau so zu erwarten. Immerhin befand man sich schon auf polnischem staatsgebiet, die deutschen beamten halfen den polnischen lediglich, ausreise war also schon durch und das risiko nun doch nicht weitergelassen zu werden, hat man ja immerhin alles schon erlebt, damit eher gering. Dafür wurde man gebeten mit einer älteren, für polizisten durchaus netten, allerdings scheinbar geistig auch nicht ganz fitten beamtin der vermutlich eher niederen dienstgrade einen wissenschaftlich nicht ganz einwandfreien fragebogen auszufüllen. Gedacht für mindestens kleinbusse, schien den planern bei der frage des ziels nicht in den sinn gekommen zu sein, dass neun leute auch neun verschiedene ziele haben können. Erste, leichte überforderung bei der dame in uniform. Lautes gelächter dann auf die frage, ob man gewaltbereit sei oder nicht – die dürfte bei ner grenzkontrolle natürlich jeder betroffene völlig wahrheitsgetreu beantworten.
EM-Vorrunde, Gruppe A am 08.06.2012
Russland - Tschechien 4-1
miejski stadion wroclaw, 40803 zuschauer
Tickets für das Spiel wurden einem auf dem Weg zu den Eingängen quasi hinterher geworfen, maximal originalpreis zu zahlen. Wer zockte, konnte auch den ein oder anderen euro sparen. Na das überraschte doch irgendwie. Mit spielbeginn das stadion trotz der kartensituation vorm stadion dann fast voll, die paar hundert leere sitzschalen hatte die uefa im vorfeld sicherlich dennoch nicht auf dem plan. Optische verteilung der zuschauer ca. 8000 tschechen im einheitsrot in einer ecke,
viele russen auf der anderen seite, wie viele ließ sich ob der weißen trikots zwischen den vielen ja ebenfalls anwesenden polen aber nicht ganz ausmachen. So musste schon ein tor der russen herhalten, um die zahl derer anhänger schätzen zu können. 10000 waren es mit sicherheit, nicht schlecht. Allerdings, und das ließ ja die beobachtung mit den v8-karossen vor dem stadion vermuten, zu grossen teilen touristen inklusive familien, die über weite strecken des spiels ihre klappe hielten. Lediglich ein kern von vllt. 300 leuten feuerten stehend einigermassen durchgehend, aber eher monoton die sbornaja an. Sportlich wars ne eindeutige sache für die russen, die einen hochverdienten sieg herausspielten und dabei ein schönes tor nach dem anderen zauberten.
Mit spielende sollte es dann schnellstmöglich zurück gen hostel gehen, immerhin hieß es am nächsten morgen früh aufzustehen und wenigstens ein bierchen sollte es ja doch noch werden. Die lokale organisation des em-spiels machte diesem plan jedoch einen gehörigen strich durch die rechnung bzw. explizit die gepäckausgabe, an welcher noch ein rucksack abgeholt werden musste. Ohne plan drängelten sich dort hunderte menschen, es gab kein system, kein vor, kein zurück und die armen volunteers, ja die mädels in den containern taten mir in dem moment tatsächlich leid, wussten bei der ausgabe gar nicht, wo ihnen der kopf steht. Irgendwann wurde es einigen russen zu bunt und kurzerhand enterte ein trupp die gepäckcontainer und übernahm die rucksackausgabe. Ohne entsprechende pfandmarken natürlich. Nach rund 30 minuten konnte man sich am ende der schlange dann aus einem ganzen haufen rucksäcke bedienen, die dort nun abgelagert worden, wir warteten noch weitere 60 minuten, ehe wir das passende gepäckstück endlich hatten. Nun war es für nen gute-nacht-bierchen natürlich bereits zu spät, zumal wir für die fahrt gen hostel nochmals gut 45 minuten benötigten. Und so gings mit nem schluck wasser gegen halb drei ins bett.
Und keine vier stunden später klingelte bereits der wecker. Dann rein in den neuner, noch zwei stündchen die augen geschlossen um dann pünktlich mit ende der autobahn kurz hinter krakow sowohl die äuglein, als auch das erste bier wieder zu öffnen. Die fahrt über polnische landstrassen erwies sich nun als sehr zäh. Nun, zumindest bis przemysl lag man im zeitplan. Geparkt wurde kostengünstig am dortigen bahnhof, dann rüber zu den kleinbussen und die paar kilometer weiter bis zur grenze in medyka. Dieses system hat sich bewährt, spart man sich doch so die nervenden beglaubigungen, die man für das befahren der ukraine mit eigenem kfz benötigen würde und sind die busverbindungen von eben przemysl via medika/shehyni nach lviv ja doch recht zuverlässig, wenn auch nicht besonders schnell. Bevor man in shehyni allerdings in den bus zum zielort steigen konnte, stand noch der grenzübertritt an. Ausreise polen mit einem netten „fusbball?“ – „ja“ – „viel spass“ – dialog überraschend schnell hinter sich gebracht. Nun standen wir also in der ukraine. Erstes ziel geld wechseln, dann die getränkereserven auffüllen und weiter nach lviv. Die letzten 80km bis lviv ging es dann im bus für vllt 15 leute, gefüllt mit rund 30 personen.
Luft stickig, bier schmackhaft und die ganzen kleinen dealereien, die die mitfahrer mit den einheimsichen bei den zwischenstopps abhielten, waren schon sehr sympathisch. Rund 3 stunden vor anpfiff des abendlichen spiels entliess uns das gefährt am bahnhof in lviv. Wenn der neubau in wroclaw schon am arsch der welt steht, dann steht der neubau hier in lviv noch ne ecke weiter, unfassbar, wo uns der linienbus so hinfuhr. Auffällig hingegen: zum einen waren viel weniger ersichtliche fans unterwegs, wie am vortag in wroclaw. Zum anderen waren die einheimischen trotz aller sprachbarrieren unglaublich nett und hilfsbereit. Als man dann ein strassenschild entdeckte, auf dem man den strassennamen unseres hotels, was sich unweit des stadions befinden sollte, ablesen konnte, ging es raus aus dem gefährt, nicht ahnend, dass die strasse scheinbar eine der längeren der stadt ist und wir noch paar km fußmarsch vor uns hatten. Gepäck in einem direkt in stadionnähe gelegenen Hotel, wo die anderen nächtigen wollten, abgelegt und im riesigen biergarten zusammen mit deutschen, portugiesen und … holländern, die hatten doch selbst spiel, verstehe die einer… noch nen bier genehmigt und auf zum spiel
EM-Vorrunde, Gruppe B am 09.06.2012
Deutschland - Portugal 1-0
arena lviv, 32990 zuschauer
Auch hier im umfeld ein enormes kartenangebot, für nen zwanni war man locker dabei. Bullen locker, deutsche fans nervig, portugiesen kaum zu sehen, so kann man das stadionumfeld wohl passend umschreiben. Einmal rum um den neubau am stadtrand, der trotz vergleichsweise geringem fassungsvermögen (33000, damit nur ungleich mehr, als unser heimisches hks und damit stadion mit dem geringsten fassungsvermögen bei diesem turnier) unglaubliche 270 mio euro gekostet haben soll, von aussen aber durchaus gigantisch wirkte. Dennoch unken nicht wenige menschen, dass hier der ein oder andere euro auch in so manch dunklem kanal versickert ist. An unserem einlass direkt hinter der schland-kurve dann chaos. Dies war erste das vierte oder fünfte spiel in dem stadion überhaupt, der eigentliche nutzer karpaty lviv war nach keinem sieg im neuen stadion ins alte ukrainija-stadion zurückgekehrt und sicherte sich dort dann den klassenerhalt, funktionierte das ticketsystem nicht. Der scanner wollte schlichtweg keinen strichcode erfassen, die erneut armen beiden freiwilligenmädels standen hilflos da. Schnell öffneten ein paar ordner ein tor die ecke rum, die anfänglichen versuche die drückende menge noch zu kontrollieren mussten natürlich schief gehen, zudem kletterten nun auch etliche leute einfach über die zäune in den block. Hier wäre also auch eintritt für lau drinne gewesen, ich wurde jedenfalls zu keinem zeitpunkt kontrolliert. Nächstes highlight: die imbissstände. Bereits eine dreiviertel stunde vor Spielbeginn hiess es bei essensbestellungen: sorry, sold out! Für bier galt ab der halbzeit das gleiche. Für dieses kleine chaos abseits der durchgeplanten westlichen welt liebe ich solche länder. Ca. 15000 schland-anhängern standen maximal 2000 portugiesen gegenüber, die sich zu keinem zeitpunkt gehör verschaffen konnten. der deutsche anhang hingegen erreichte oftmals, wenn auch mit einfachstem liedgut, beachtliche lautstärken, die länderspielerfahrenen mitfahrer bezeichneten das ganze für länderspielverhältnisse als überdurchschnittlich gut. Optisch präsentierte man zum einlaufen zudem ne simple pappen-choreo und nutzte die pappen im anschluss auch als wurfgeschosse. Die empörung des stadionsprechers, schiris, der presse, ja der ganzen westlichen welt ob dieser umstände… lächerlich. Die dinger wogen keine 3 gramm, aber es passte halt nicht ins friedliche bild. Schön, dass sich viele fans nen jux daraus machten, gerade nach den ansagen der stadionsprecher ne papierkugel gen spielfeld düsen zu lassen.
Direkt nach dem ersten Deutschland-Spiel begann das eigentliche Abenteuer Europameisterschaft. Eigentlich wollten wir in der Nacht einen Nachtzug in Richtung Kiew nehmen. Aus welchen Gründen auch immer wurden aber einige Nachtzüge zwei Monate vor dem EM aus dem Fahrplan genommen. Nicht nur wir waren davon betroffen, mussten wir nun die Nacht durchmachen, der erste Zug nach Kiew fuhr erst halb sieben, vor allem die ukrainische Bevölkerung regte sich maßlos drüber auf, da die Nachtzüge das beliebteste Fortbewegungsmittel im Land darstellt. Wir verabschiedeten uns von der Truppe, die am nächsten Morgen zurück fuhr und machten uns mit sieben Leuten auf den Weg in die Innenstadt. Darunter waren zwei Magdeburger, die ebenfalls das Deutschland-Spiel gesehen hatten und unsere Plätze im Neuner einnahmen. Auf deren Empfehlung suchten wir ein Restaurant auf. Wir wurden im Untergeschoss platziert und die Kellnerin brachte uns die sehr dicken Speisekarten. Als wir zehn Minuten später bestellen wollten, sagte die Kellnerin, wir können nichts mehr bestellen. Das Essen sei alle. Kurioserweise wurde genau in dem Moment, wo sie uns das sagte, am Nachbartisch ein großes Menü serviert und auch oben waren alle Gäste kräftig am essen. Einer der beiden aufgegabelten FCM-Fans untermalte mit sagenhaften Handbewegungen seinen Hunger. Er sprach auf Deutsch, was die Kellnerin natürlich nicht verstand, sie soll uns doch mal einen Berg Pommes und ein bisschen Brot bringen. Dazu formte er mit seinen Händen einen Berg Pommes und führte sich imaginär das Brot zum Mund. Gigantisch! Als es oben leerer wurde, zogen wir um und siehe da, nun konnten wir auch bestellen. Es gab zwar nur noch Hähnchenspieße ohne jegliche Beilagen, aber immerhin. Um drei machte das Restaurant und wir zogen weiter zum Marktplatz, wo wir bis um fünf bei einem zwischenzeitlichen kleinen Regenguss weitere Biere auf den deutschen Sieg vernichteten.
Um kurz vor halb sieben bestiegen wir zu zweit den Schlafwagen für die bevorstehende achtstündige Zugfahrt nach Kiew. Beim Einstieg mussten wir unsere Fahrkarten abgeben, die wir kurz vor der Ankunft in Kiew wiederbekamen. Wir holten unsere Bettwäsche ab, bezogen die Betten und dank zwei schlafarmer Nächte entschlummerten wir trotz Innentemperaturen von 28 Grad, die sich zur Mittagszeit auf 31 Grad erhöhten (Fenster gingen selbstverständlich nicht zu öffnen), ziemlich schnell ins Land der Träume. Das 52er-Abteil, in dem wir untergebracht waren, war ausgebucht. Dementsprechend war das WC des Waggons, drücken wir es freundlich aus, nicht der hygienischste Ort. Beim Besuch des WCs kam mir die Geschichte in Erinnerung, dass ein weiterer Magdeburger vor einigen Jahren auf dieser Strecke drei Stunden auf dem Klo geschlafen hat. Und dass bei einem Ort, wo man sich als Mann schon ekelt, wenn man sein kleines Geschäft im Stehen erledigt. Für diese ganzen Abenteuer zahlten wir aber auch nur 8 Euro pro Person. Wenn das nichts ist. Pünktlich rollten wir in Kiew ein und nach einer halbstündigen Hot Dog-Pause fuhr unser nächster Zug nach Dnipropetrowsk, der glücklicherweise klimatisiert war und in dem ein Fernseher abtruse Filme zeigte.
Nach weiteren sechs Stunden erreichten wir Dnipropetrowsk, wo wir für die nächsten drei Nächte eine Privatunterkunft bei Yuri „gebucht“ hatten. Die Verbindung zu Yuri hat ein Magdeburger für uns hergestellt, der ihn auch nur übers Internet kannte. Insofern war es eine Reise ins Unbekannte, wir hatten keinen blassen Schimmer, welche Leute uns erwarten und was es für eine Unterkunft ist. Auf dem Bahnsteig konnten wir ihn, obwohl wir nicht wussten, wie er aussieht, sofort erkennen. Yuri begrüßte uns mit einem „Dynamo-Fans gegen den 1.FCM“-T-Shirt. Vielleicht nicht die feine englische Art, aber so fanden wir direkt zueinander. Mit dem Auto fuhren wir zur Wohnung von Yuri und seiner Frau Katya. Als wir den Wohnblock von außen sahen, wurden unsere Befürchtungen, die man bei einer solchen Reise irgendwie nicht abschütteln kann, wahr. Renovierungsbedürftig ist noch milde ausgedrückt. Ganz anders sah das Bild aber aus, als wir die Wohnung betraten. Die Wohnung war topmodern eingerichtet, alle Möbel neu, eine neue Einbauküche, gefliestes Bad usw. Wir waren äußerst positiv überrascht. Die beiden erzählten uns, dass sie erst drei Monate zuvor eingezogen waren. Der Grundriss hatte ihnen nicht ganz zugesagt, so dass sie noch ein paar Wände versetzt hatten, um die Wohnung nach ihren Wünschen einrichten zu können. Zur Begrüßung bekamen wir eine Menükarte für das Drei-Gänge-Abendessen mit persönlicher Widmung und FCM-Emblem.
Und dann kam, was kommen musste. Wir hatten im Vorfeld schon ob der allgemein bekannten Gastfreundschaft der Ukrainer gemunkelt, dass Wodka auf dem Tisch landen dürfte. Womöglich auch noch selbstgebrannter, was für uns nicht geübte Wodkatrinker böse enden könnte. Yuri sagte, als er den Markenwodka auf den Tisch stellte, dass er nicht gern Wodka trinkt. So blieb es an diesem Abend bei einer Flasche, die wir uns zu dritt teilten. Katya vergnügte sich derweil mit einer Flasche Wein. Wir tauschten uns über den Fußball in Deutschland und beim FCM sowie in der Ukraine und Russland aus. Yuri stammt ursprünglich aus der Gegend von Moskau und ist Fan von ZSKA. Er hat Russland vor einigen Jahren aus Gründen, die er nicht nennen wollte, verlassen und lebt seitdem in der Ukraine, wo er einen Online-Shop für Ultras betreibt. Mit der leeren Wodka-Flasche und ein paar Bier im Magen, hatten wir die nötige Bettschwere erreicht, um den Schlaf der letzten Nächte nachholen zu können.
Mit Dima stand am nächsten morgen um neun ein Freund von Yuri vor der Tür, der uns mit dem Auto nach Donezk chauffieren sollte. Leider hatte der Wagen keine Klimaanlage, so dass wir zu fünft in den Genuss offener Fenster bei Tempo 80 über eine mit einigen Schlaglöchern versehene ukrainische Landstraße kamen. Etwas mehr als drei Stunden Fahrzeit später parkten wir den Wagen in unmittelbarer Stadionnähe. Auf dem Weg in das, was sich so Innenstadt nennt, trafen wir einen Magdeburger aus unserer 9er-Besatzung wieder, der mit tausend besoffenen Engländern im Nachtzug aus Kiew angereist war und für zwei Nächte eine Herberge in der Bahnhofsmission fand. Zum Essen suchten wir die Bar „Schwein“ auf. Und warum heißt die Bar „Schwein“?
Ganz einfach. Im Keller der Bar, direkt neben dem Eingang zum WC, wohnt ein Schwein. Beim ersten Besuch dort unten ist mir das gar nicht aufgefallen, auf den Hinweis der anderen sah ich mir das Schwein beim zweiten Mal an. Und es stimmte tatsächlich. Das Wildschwein lag da faul in der Ecke. Nach dem Essen folgte der spannendste Teil des Tages: wie werde ich möglichst ohne Eintrittskarten für ein Spiel los, das nicht ausverkauft ist und es somit noch ausreichend Karten an den Tageskassen gibt? Die Frage wird sich die UEFA auch gestellt haben. Vor allem wird die UEFA beim Spiel England-Frankreich im Vorfeld nicht im Traum daran gedacht haben, dass Plätze frei bleiben könnten. Wir mussten auf jeden Fall neun Tickets loswerden. Bei einem normalen England-Spiel bei einem großen Turnier hätten wir überhaupt keine Probleme gehabt. Nur aufgrund der im Vorfeld teilweise völlig überzogenen Preise hatten viele Engländer die Reise in die Ukraine nicht gebucht. Wobei das sonst bei denen auch nie ein Problem war. Vielleicht hatten sie ja doch nur Angst? Sei’s drum. Wir boten die Tickets etwas unter Normalpreis von 35 Euro (Einkaufspreis bei ebay waren um die 10 Euro) an, was viele Einheimische misstrauisch werden ließ. Doch dank der Übersetzungs- und Überredungskünste von Katya gelang es uns tatsächlich alle Karten loszuwerden. Das konnten wir von einem Kategorie 2-Ticket für das Halbfinale in Donezk leider nicht behaupten. Das wollte einfach keiner haben. Und dann war die Zeit auch schon gekommen, um den Prunkbau des reichsten Mannes der Ukraine zu betreten:
EM-Vorrunde, Gruppe D am 11.06.2012
Frankreich - England 1:1
Donbass Arena Donezk, Z: 47.400
Mit Spielbeginn war auch die Zeit des Rätselratens vorbei. Rätselraten bezüglich der anwesenden Fans aus England und Frankreich sowie der Zuschauerzahl insgesamt. Wir hatten im Vorfeld das Gerücht gehört, dass in Frankreich im offiziellen Kartenverkauf vor der EM gerade einmal 51 Karten verkauft wurden. Der kümmerliche Haufen, der da in einer Ecke versuchte, etwas vor sich zu singen, bestätigte das. Wir schätzten sie auf 200 Leute und als offizielle Zahl wurde nach dem Spiel irgendwas um die 230 bestätigt. Und so ein Land richtet die nächste EM aus, unglaublich. Etwas anders sah es auf der anderen Seite aus, wenngleich es keinen Vergleich zu den vorangegangenen Turnieren darstellt, als die Engländer in Herrscharen in die Gastgeberländer einfielen. Es mögen um die 4.000 gewesen sein. Doch gerade diese geringe Anzahl mag ganz gut gewesen sein. Es waren keine 0815-Fans da, sondern fast der gesamte Block beteiligte sich an den Gesängen. Als die offizielle Zuschauerzahl bekannt gegeben wurde, konnten wir uns ein Schmunzeln nicht verkneifen. Das Stadion fasst 51.500 Zuschauer und es waren deutlich mehr als 4.000 Plätze frei. Solch eine Blamage kann sich die UEFA dann wohl doch nicht leisten. Für die größte Überraschung im Stadion sorgten hingegen die anwesenden Russen. Bis zur russischen Grenze sind es keine 200 km, aber dass die Russen in solchen Massen einfallen würden, war verblüffend. Aufgrund der sehr häufigen und dann auch sehr lauten Rufe Rußland-Rufe im Stadion schätzten wir deren Anzahl auf gut und gern 30.000. Das Geschehen auf dem Rasen war leider nicht das Gelbe von Ei. Da stand eine ganze Reihe von Weltstars auf dem Rasen, heraus kam meistens nur Grütze. Wir waren froh, dass wir zumindestens zwei Tore bei den tropischen Temperaturen gesehen haben und hofften nur, dass wir hier nicht noch einmal her müssen, was im Halbfinale der Fall gewesen wäre, wenn Deutschland Gruppenzweiter geworden wäre. Trotz des stadionnahen Parkplatzes konnten wir fast ohne Abfahrtsstau wieder abreisen und kurz nach Mitternacht landeten wir nach drei Stunden Fahrt und einer erfrischenden Dusche wieder im Bett in Dnipropetrowsk.
Ein Tag ohne EM-Fußball in der Ukraine, was macht man da? Fußball schauen! Yuri hatte für den Abend Stadtligaspiele in Dnipropetrowsk ausfindig gemacht, von denen wir uns das im größten Stadion aussuchten. Bevor es so weit war, bekamen wir eine Stadtbesichtigung. Zunächst ging es zum aktuellen Stadion von Dnipr Dnipropetrowsk, welches wir leider nur von außen besichtigen konnten. Dnipropetrowsk hatte sich mit dem Stadionneubau auch für die EM beworben, hat aber als einzige der fünf großen Städte der Ukraine keinen Zuschlag bekommen. Im Stadionumfeld waren etliche Graffitties der einheimischen Ultragruppe zu sehen. Weiter ging es zum alten Stadion von Dnipr, ein typisches altes Ostblockstadion mit großen Flutlichtmasten, bei dem Stadionromantikern wie uns das Herz aufgeht.
Nach dem typisch ukrainischen Mittagessen, das sich für mich aufgrund eines dienstlichen Telefonats um eine halbe Stunde verzögerte (können die nicht mal zehn Tage ohne mich auskommen? Aber wenn der Chef die Handyrechnung bezahlt…), noch eine paar kleinere Gebäude abgelaufen und ein paar Minuten an der Dnipr geschlendert. Bis zum Spiel war noch immer etwas Zeit und so suchten wir eine Kneipe der Einheimischen auf. Hier wird das Bier in Ein-Liter-Plaste-Flaschen ausgeschenkt, was ulkig aussieht. Mehr als 20 Zapfhähne hängen hinter der Bar, wo die Flaschen mit einer Art Schraubstock hineingehangen werden und befüllt werden.
Auf dem Weg zum Stadion holte Yuri fünf weitere der Ein-Liter-Flaschen. Wir mussten ja zwei Stunden überstehen, hehe.
Championship of Dnipropetrovsk city. First league
RimStroy (Dnipropetrovsk) - Skif (Mirniy) 1:3
Stadium VRZ im. Kirova, Dnipropetovsk, Z: 42
Als wir das Stadion von weitem das erste Mal sahen, wirkte es sehr gut. Immerhin acht Reihen, die fast um das ganze Stadion gingen und dazu ein schöner Sprecherturm. Unter dem Sprecherturm waren einige Leute in einheitlicher Kleidung, so dass wir kurzzeitig auf einen Fanblock hoffen konnten. Dem war leider nicht so. Yuri erzählte, dass das die Gastmannschaft ist, die sich auf den Rängen umzieht. Das Umziehen in der Kabine hätte zusätzliches Geld gekostet.
Von nahem wurde uns gewahr, dass das Stadion eine einzige Bruchbude ist. Mehr als zwei Drittel der Holzbänke waren kaputt, rausgerissen oder hingen kreuz und quer auf den Rängen. Zwischen den Bänken lag allerlei Abfall, in erster Linie leere Bierflaschen.
Der Gang durch die Reihen wurde so mehr oder weniger zu einem einzigen Hindernislauf. Auf Höhe einer Torlinie fanden wir ein paar unversehrte Bänke, wo wir niederließen, um den Rasen zu begutachten. Aber welchen Rasen? Das Spielfeld schloss sich in seiner Qualität direkt den Rängen an. Im Mittelkreis und einem Umkreis von 30 Metern sowie dem direkten Mittelweg in Richtung der Tore war gar kein grün zu sehen sondern schlichter Staub.
Etwas weiter außen waren erste Rasenansätze zu erkennen und im Bereich der Eckfahnen stand das Gras dafür 15 cm hoch.
Kurz nach Spielbeginn gesellte sich ein Freund von Yuri zu uns, der die Nummer eins unter den ukrainischen Groundhoppern ist. Selbstverständlich mit drei Ein-Liter-Flaschen Bier um Rucksack. Vom Spiel sah er nichts, da er die ganze Zeit mit dem Rücken zum Spielfeld stand und sein Bier trank. Immerhin 42 Zuschauer, wenn die meisten auch nicht über die ganzen 90 Minuten anwesend waren, trollten sich auf den Bänken oder dem, was davon noch übrig war. Zum sportlichen gibt es nichts zu sagen. Stadtliga Dnipropetrowsk sagt in Bezug Qualität alles aus. Nach dem Spiel fuhren wir mit dem Bus zurück in die Innenstadt und schauten uns das Abendspiel der Gruppe A in einer Sportsbar an.
Am morgen des ersten turniertages fand sich dann eine illustre 9-köpfige reisetruppe ein, die mit verschiedenen zielen und reisedauern den kleinbus gen östliches nachbarland betrat.
Erste pläne erst mit einem polnischen bier hinter der grenze erstmals anstoßen zu wollen, erledigten sich just mit der frage „jemand nen bier?“ beim befahren der a2, na das konnte ja heiter werden. Wurde es auch, zum ersten male insbesondere an der grenze. Kontrollen ja nur sporadisch, alle autos inkl. neunsitzern vor uns auch problemlos durch. Nur unsere besatzung erwischte es natürlich, war irgendwie auch genau so zu erwarten. Immerhin befand man sich schon auf polnischem staatsgebiet, die deutschen beamten halfen den polnischen lediglich, ausreise war also schon durch und das risiko nun doch nicht weitergelassen zu werden, hat man ja immerhin alles schon erlebt, damit eher gering. Dafür wurde man gebeten mit einer älteren, für polizisten durchaus netten, allerdings scheinbar geistig auch nicht ganz fitten beamtin der vermutlich eher niederen dienstgrade einen wissenschaftlich nicht ganz einwandfreien fragebogen auszufüllen. Gedacht für mindestens kleinbusse, schien den planern bei der frage des ziels nicht in den sinn gekommen zu sein, dass neun leute auch neun verschiedene ziele haben können. Erste, leichte überforderung bei der dame in uniform. Lautes gelächter dann auf die frage, ob man gewaltbereit sei oder nicht – die dürfte bei ner grenzkontrolle natürlich jeder betroffene völlig wahrheitsgetreu beantworten.
EM-Vorrunde, Gruppe A am 08.06.2012
Russland - Tschechien 4-1
miejski stadion wroclaw, 40803 zuschauer
Tickets für das Spiel wurden einem auf dem Weg zu den Eingängen quasi hinterher geworfen, maximal originalpreis zu zahlen. Wer zockte, konnte auch den ein oder anderen euro sparen. Na das überraschte doch irgendwie. Mit spielbeginn das stadion trotz der kartensituation vorm stadion dann fast voll, die paar hundert leere sitzschalen hatte die uefa im vorfeld sicherlich dennoch nicht auf dem plan. Optische verteilung der zuschauer ca. 8000 tschechen im einheitsrot in einer ecke,
viele russen auf der anderen seite, wie viele ließ sich ob der weißen trikots zwischen den vielen ja ebenfalls anwesenden polen aber nicht ganz ausmachen. So musste schon ein tor der russen herhalten, um die zahl derer anhänger schätzen zu können. 10000 waren es mit sicherheit, nicht schlecht. Allerdings, und das ließ ja die beobachtung mit den v8-karossen vor dem stadion vermuten, zu grossen teilen touristen inklusive familien, die über weite strecken des spiels ihre klappe hielten. Lediglich ein kern von vllt. 300 leuten feuerten stehend einigermassen durchgehend, aber eher monoton die sbornaja an. Sportlich wars ne eindeutige sache für die russen, die einen hochverdienten sieg herausspielten und dabei ein schönes tor nach dem anderen zauberten.
Mit spielende sollte es dann schnellstmöglich zurück gen hostel gehen, immerhin hieß es am nächsten morgen früh aufzustehen und wenigstens ein bierchen sollte es ja doch noch werden. Die lokale organisation des em-spiels machte diesem plan jedoch einen gehörigen strich durch die rechnung bzw. explizit die gepäckausgabe, an welcher noch ein rucksack abgeholt werden musste. Ohne plan drängelten sich dort hunderte menschen, es gab kein system, kein vor, kein zurück und die armen volunteers, ja die mädels in den containern taten mir in dem moment tatsächlich leid, wussten bei der ausgabe gar nicht, wo ihnen der kopf steht. Irgendwann wurde es einigen russen zu bunt und kurzerhand enterte ein trupp die gepäckcontainer und übernahm die rucksackausgabe. Ohne entsprechende pfandmarken natürlich. Nach rund 30 minuten konnte man sich am ende der schlange dann aus einem ganzen haufen rucksäcke bedienen, die dort nun abgelagert worden, wir warteten noch weitere 60 minuten, ehe wir das passende gepäckstück endlich hatten. Nun war es für nen gute-nacht-bierchen natürlich bereits zu spät, zumal wir für die fahrt gen hostel nochmals gut 45 minuten benötigten. Und so gings mit nem schluck wasser gegen halb drei ins bett.
Und keine vier stunden später klingelte bereits der wecker. Dann rein in den neuner, noch zwei stündchen die augen geschlossen um dann pünktlich mit ende der autobahn kurz hinter krakow sowohl die äuglein, als auch das erste bier wieder zu öffnen. Die fahrt über polnische landstrassen erwies sich nun als sehr zäh. Nun, zumindest bis przemysl lag man im zeitplan. Geparkt wurde kostengünstig am dortigen bahnhof, dann rüber zu den kleinbussen und die paar kilometer weiter bis zur grenze in medyka. Dieses system hat sich bewährt, spart man sich doch so die nervenden beglaubigungen, die man für das befahren der ukraine mit eigenem kfz benötigen würde und sind die busverbindungen von eben przemysl via medika/shehyni nach lviv ja doch recht zuverlässig, wenn auch nicht besonders schnell. Bevor man in shehyni allerdings in den bus zum zielort steigen konnte, stand noch der grenzübertritt an. Ausreise polen mit einem netten „fusbball?“ – „ja“ – „viel spass“ – dialog überraschend schnell hinter sich gebracht. Nun standen wir also in der ukraine. Erstes ziel geld wechseln, dann die getränkereserven auffüllen und weiter nach lviv. Die letzten 80km bis lviv ging es dann im bus für vllt 15 leute, gefüllt mit rund 30 personen.
Luft stickig, bier schmackhaft und die ganzen kleinen dealereien, die die mitfahrer mit den einheimsichen bei den zwischenstopps abhielten, waren schon sehr sympathisch. Rund 3 stunden vor anpfiff des abendlichen spiels entliess uns das gefährt am bahnhof in lviv. Wenn der neubau in wroclaw schon am arsch der welt steht, dann steht der neubau hier in lviv noch ne ecke weiter, unfassbar, wo uns der linienbus so hinfuhr. Auffällig hingegen: zum einen waren viel weniger ersichtliche fans unterwegs, wie am vortag in wroclaw. Zum anderen waren die einheimischen trotz aller sprachbarrieren unglaublich nett und hilfsbereit. Als man dann ein strassenschild entdeckte, auf dem man den strassennamen unseres hotels, was sich unweit des stadions befinden sollte, ablesen konnte, ging es raus aus dem gefährt, nicht ahnend, dass die strasse scheinbar eine der längeren der stadt ist und wir noch paar km fußmarsch vor uns hatten. Gepäck in einem direkt in stadionnähe gelegenen Hotel, wo die anderen nächtigen wollten, abgelegt und im riesigen biergarten zusammen mit deutschen, portugiesen und … holländern, die hatten doch selbst spiel, verstehe die einer… noch nen bier genehmigt und auf zum spiel
EM-Vorrunde, Gruppe B am 09.06.2012
Deutschland - Portugal 1-0
arena lviv, 32990 zuschauer
Auch hier im umfeld ein enormes kartenangebot, für nen zwanni war man locker dabei. Bullen locker, deutsche fans nervig, portugiesen kaum zu sehen, so kann man das stadionumfeld wohl passend umschreiben. Einmal rum um den neubau am stadtrand, der trotz vergleichsweise geringem fassungsvermögen (33000, damit nur ungleich mehr, als unser heimisches hks und damit stadion mit dem geringsten fassungsvermögen bei diesem turnier) unglaubliche 270 mio euro gekostet haben soll, von aussen aber durchaus gigantisch wirkte. Dennoch unken nicht wenige menschen, dass hier der ein oder andere euro auch in so manch dunklem kanal versickert ist. An unserem einlass direkt hinter der schland-kurve dann chaos. Dies war erste das vierte oder fünfte spiel in dem stadion überhaupt, der eigentliche nutzer karpaty lviv war nach keinem sieg im neuen stadion ins alte ukrainija-stadion zurückgekehrt und sicherte sich dort dann den klassenerhalt, funktionierte das ticketsystem nicht. Der scanner wollte schlichtweg keinen strichcode erfassen, die erneut armen beiden freiwilligenmädels standen hilflos da. Schnell öffneten ein paar ordner ein tor die ecke rum, die anfänglichen versuche die drückende menge noch zu kontrollieren mussten natürlich schief gehen, zudem kletterten nun auch etliche leute einfach über die zäune in den block. Hier wäre also auch eintritt für lau drinne gewesen, ich wurde jedenfalls zu keinem zeitpunkt kontrolliert. Nächstes highlight: die imbissstände. Bereits eine dreiviertel stunde vor Spielbeginn hiess es bei essensbestellungen: sorry, sold out! Für bier galt ab der halbzeit das gleiche. Für dieses kleine chaos abseits der durchgeplanten westlichen welt liebe ich solche länder. Ca. 15000 schland-anhängern standen maximal 2000 portugiesen gegenüber, die sich zu keinem zeitpunkt gehör verschaffen konnten. der deutsche anhang hingegen erreichte oftmals, wenn auch mit einfachstem liedgut, beachtliche lautstärken, die länderspielerfahrenen mitfahrer bezeichneten das ganze für länderspielverhältnisse als überdurchschnittlich gut. Optisch präsentierte man zum einlaufen zudem ne simple pappen-choreo und nutzte die pappen im anschluss auch als wurfgeschosse. Die empörung des stadionsprechers, schiris, der presse, ja der ganzen westlichen welt ob dieser umstände… lächerlich. Die dinger wogen keine 3 gramm, aber es passte halt nicht ins friedliche bild. Schön, dass sich viele fans nen jux daraus machten, gerade nach den ansagen der stadionsprecher ne papierkugel gen spielfeld düsen zu lassen.
Direkt nach dem ersten Deutschland-Spiel begann das eigentliche Abenteuer Europameisterschaft. Eigentlich wollten wir in der Nacht einen Nachtzug in Richtung Kiew nehmen. Aus welchen Gründen auch immer wurden aber einige Nachtzüge zwei Monate vor dem EM aus dem Fahrplan genommen. Nicht nur wir waren davon betroffen, mussten wir nun die Nacht durchmachen, der erste Zug nach Kiew fuhr erst halb sieben, vor allem die ukrainische Bevölkerung regte sich maßlos drüber auf, da die Nachtzüge das beliebteste Fortbewegungsmittel im Land darstellt. Wir verabschiedeten uns von der Truppe, die am nächsten Morgen zurück fuhr und machten uns mit sieben Leuten auf den Weg in die Innenstadt. Darunter waren zwei Magdeburger, die ebenfalls das Deutschland-Spiel gesehen hatten und unsere Plätze im Neuner einnahmen. Auf deren Empfehlung suchten wir ein Restaurant auf. Wir wurden im Untergeschoss platziert und die Kellnerin brachte uns die sehr dicken Speisekarten. Als wir zehn Minuten später bestellen wollten, sagte die Kellnerin, wir können nichts mehr bestellen. Das Essen sei alle. Kurioserweise wurde genau in dem Moment, wo sie uns das sagte, am Nachbartisch ein großes Menü serviert und auch oben waren alle Gäste kräftig am essen. Einer der beiden aufgegabelten FCM-Fans untermalte mit sagenhaften Handbewegungen seinen Hunger. Er sprach auf Deutsch, was die Kellnerin natürlich nicht verstand, sie soll uns doch mal einen Berg Pommes und ein bisschen Brot bringen. Dazu formte er mit seinen Händen einen Berg Pommes und führte sich imaginär das Brot zum Mund. Gigantisch! Als es oben leerer wurde, zogen wir um und siehe da, nun konnten wir auch bestellen. Es gab zwar nur noch Hähnchenspieße ohne jegliche Beilagen, aber immerhin. Um drei machte das Restaurant und wir zogen weiter zum Marktplatz, wo wir bis um fünf bei einem zwischenzeitlichen kleinen Regenguss weitere Biere auf den deutschen Sieg vernichteten.
Um kurz vor halb sieben bestiegen wir zu zweit den Schlafwagen für die bevorstehende achtstündige Zugfahrt nach Kiew. Beim Einstieg mussten wir unsere Fahrkarten abgeben, die wir kurz vor der Ankunft in Kiew wiederbekamen. Wir holten unsere Bettwäsche ab, bezogen die Betten und dank zwei schlafarmer Nächte entschlummerten wir trotz Innentemperaturen von 28 Grad, die sich zur Mittagszeit auf 31 Grad erhöhten (Fenster gingen selbstverständlich nicht zu öffnen), ziemlich schnell ins Land der Träume. Das 52er-Abteil, in dem wir untergebracht waren, war ausgebucht. Dementsprechend war das WC des Waggons, drücken wir es freundlich aus, nicht der hygienischste Ort. Beim Besuch des WCs kam mir die Geschichte in Erinnerung, dass ein weiterer Magdeburger vor einigen Jahren auf dieser Strecke drei Stunden auf dem Klo geschlafen hat. Und dass bei einem Ort, wo man sich als Mann schon ekelt, wenn man sein kleines Geschäft im Stehen erledigt. Für diese ganzen Abenteuer zahlten wir aber auch nur 8 Euro pro Person. Wenn das nichts ist. Pünktlich rollten wir in Kiew ein und nach einer halbstündigen Hot Dog-Pause fuhr unser nächster Zug nach Dnipropetrowsk, der glücklicherweise klimatisiert war und in dem ein Fernseher abtruse Filme zeigte.
Nach weiteren sechs Stunden erreichten wir Dnipropetrowsk, wo wir für die nächsten drei Nächte eine Privatunterkunft bei Yuri „gebucht“ hatten. Die Verbindung zu Yuri hat ein Magdeburger für uns hergestellt, der ihn auch nur übers Internet kannte. Insofern war es eine Reise ins Unbekannte, wir hatten keinen blassen Schimmer, welche Leute uns erwarten und was es für eine Unterkunft ist. Auf dem Bahnsteig konnten wir ihn, obwohl wir nicht wussten, wie er aussieht, sofort erkennen. Yuri begrüßte uns mit einem „Dynamo-Fans gegen den 1.FCM“-T-Shirt. Vielleicht nicht die feine englische Art, aber so fanden wir direkt zueinander. Mit dem Auto fuhren wir zur Wohnung von Yuri und seiner Frau Katya. Als wir den Wohnblock von außen sahen, wurden unsere Befürchtungen, die man bei einer solchen Reise irgendwie nicht abschütteln kann, wahr. Renovierungsbedürftig ist noch milde ausgedrückt. Ganz anders sah das Bild aber aus, als wir die Wohnung betraten. Die Wohnung war topmodern eingerichtet, alle Möbel neu, eine neue Einbauküche, gefliestes Bad usw. Wir waren äußerst positiv überrascht. Die beiden erzählten uns, dass sie erst drei Monate zuvor eingezogen waren. Der Grundriss hatte ihnen nicht ganz zugesagt, so dass sie noch ein paar Wände versetzt hatten, um die Wohnung nach ihren Wünschen einrichten zu können. Zur Begrüßung bekamen wir eine Menükarte für das Drei-Gänge-Abendessen mit persönlicher Widmung und FCM-Emblem.
Und dann kam, was kommen musste. Wir hatten im Vorfeld schon ob der allgemein bekannten Gastfreundschaft der Ukrainer gemunkelt, dass Wodka auf dem Tisch landen dürfte. Womöglich auch noch selbstgebrannter, was für uns nicht geübte Wodkatrinker böse enden könnte. Yuri sagte, als er den Markenwodka auf den Tisch stellte, dass er nicht gern Wodka trinkt. So blieb es an diesem Abend bei einer Flasche, die wir uns zu dritt teilten. Katya vergnügte sich derweil mit einer Flasche Wein. Wir tauschten uns über den Fußball in Deutschland und beim FCM sowie in der Ukraine und Russland aus. Yuri stammt ursprünglich aus der Gegend von Moskau und ist Fan von ZSKA. Er hat Russland vor einigen Jahren aus Gründen, die er nicht nennen wollte, verlassen und lebt seitdem in der Ukraine, wo er einen Online-Shop für Ultras betreibt. Mit der leeren Wodka-Flasche und ein paar Bier im Magen, hatten wir die nötige Bettschwere erreicht, um den Schlaf der letzten Nächte nachholen zu können.
Mit Dima stand am nächsten morgen um neun ein Freund von Yuri vor der Tür, der uns mit dem Auto nach Donezk chauffieren sollte. Leider hatte der Wagen keine Klimaanlage, so dass wir zu fünft in den Genuss offener Fenster bei Tempo 80 über eine mit einigen Schlaglöchern versehene ukrainische Landstraße kamen. Etwas mehr als drei Stunden Fahrzeit später parkten wir den Wagen in unmittelbarer Stadionnähe. Auf dem Weg in das, was sich so Innenstadt nennt, trafen wir einen Magdeburger aus unserer 9er-Besatzung wieder, der mit tausend besoffenen Engländern im Nachtzug aus Kiew angereist war und für zwei Nächte eine Herberge in der Bahnhofsmission fand. Zum Essen suchten wir die Bar „Schwein“ auf. Und warum heißt die Bar „Schwein“?
Ganz einfach. Im Keller der Bar, direkt neben dem Eingang zum WC, wohnt ein Schwein. Beim ersten Besuch dort unten ist mir das gar nicht aufgefallen, auf den Hinweis der anderen sah ich mir das Schwein beim zweiten Mal an. Und es stimmte tatsächlich. Das Wildschwein lag da faul in der Ecke. Nach dem Essen folgte der spannendste Teil des Tages: wie werde ich möglichst ohne Eintrittskarten für ein Spiel los, das nicht ausverkauft ist und es somit noch ausreichend Karten an den Tageskassen gibt? Die Frage wird sich die UEFA auch gestellt haben. Vor allem wird die UEFA beim Spiel England-Frankreich im Vorfeld nicht im Traum daran gedacht haben, dass Plätze frei bleiben könnten. Wir mussten auf jeden Fall neun Tickets loswerden. Bei einem normalen England-Spiel bei einem großen Turnier hätten wir überhaupt keine Probleme gehabt. Nur aufgrund der im Vorfeld teilweise völlig überzogenen Preise hatten viele Engländer die Reise in die Ukraine nicht gebucht. Wobei das sonst bei denen auch nie ein Problem war. Vielleicht hatten sie ja doch nur Angst? Sei’s drum. Wir boten die Tickets etwas unter Normalpreis von 35 Euro (Einkaufspreis bei ebay waren um die 10 Euro) an, was viele Einheimische misstrauisch werden ließ. Doch dank der Übersetzungs- und Überredungskünste von Katya gelang es uns tatsächlich alle Karten loszuwerden. Das konnten wir von einem Kategorie 2-Ticket für das Halbfinale in Donezk leider nicht behaupten. Das wollte einfach keiner haben. Und dann war die Zeit auch schon gekommen, um den Prunkbau des reichsten Mannes der Ukraine zu betreten:
EM-Vorrunde, Gruppe D am 11.06.2012
Frankreich - England 1:1
Donbass Arena Donezk, Z: 47.400
Mit Spielbeginn war auch die Zeit des Rätselratens vorbei. Rätselraten bezüglich der anwesenden Fans aus England und Frankreich sowie der Zuschauerzahl insgesamt. Wir hatten im Vorfeld das Gerücht gehört, dass in Frankreich im offiziellen Kartenverkauf vor der EM gerade einmal 51 Karten verkauft wurden. Der kümmerliche Haufen, der da in einer Ecke versuchte, etwas vor sich zu singen, bestätigte das. Wir schätzten sie auf 200 Leute und als offizielle Zahl wurde nach dem Spiel irgendwas um die 230 bestätigt. Und so ein Land richtet die nächste EM aus, unglaublich. Etwas anders sah es auf der anderen Seite aus, wenngleich es keinen Vergleich zu den vorangegangenen Turnieren darstellt, als die Engländer in Herrscharen in die Gastgeberländer einfielen. Es mögen um die 4.000 gewesen sein. Doch gerade diese geringe Anzahl mag ganz gut gewesen sein. Es waren keine 0815-Fans da, sondern fast der gesamte Block beteiligte sich an den Gesängen. Als die offizielle Zuschauerzahl bekannt gegeben wurde, konnten wir uns ein Schmunzeln nicht verkneifen. Das Stadion fasst 51.500 Zuschauer und es waren deutlich mehr als 4.000 Plätze frei. Solch eine Blamage kann sich die UEFA dann wohl doch nicht leisten. Für die größte Überraschung im Stadion sorgten hingegen die anwesenden Russen. Bis zur russischen Grenze sind es keine 200 km, aber dass die Russen in solchen Massen einfallen würden, war verblüffend. Aufgrund der sehr häufigen und dann auch sehr lauten Rufe Rußland-Rufe im Stadion schätzten wir deren Anzahl auf gut und gern 30.000. Das Geschehen auf dem Rasen war leider nicht das Gelbe von Ei. Da stand eine ganze Reihe von Weltstars auf dem Rasen, heraus kam meistens nur Grütze. Wir waren froh, dass wir zumindestens zwei Tore bei den tropischen Temperaturen gesehen haben und hofften nur, dass wir hier nicht noch einmal her müssen, was im Halbfinale der Fall gewesen wäre, wenn Deutschland Gruppenzweiter geworden wäre. Trotz des stadionnahen Parkplatzes konnten wir fast ohne Abfahrtsstau wieder abreisen und kurz nach Mitternacht landeten wir nach drei Stunden Fahrt und einer erfrischenden Dusche wieder im Bett in Dnipropetrowsk.
Ein Tag ohne EM-Fußball in der Ukraine, was macht man da? Fußball schauen! Yuri hatte für den Abend Stadtligaspiele in Dnipropetrowsk ausfindig gemacht, von denen wir uns das im größten Stadion aussuchten. Bevor es so weit war, bekamen wir eine Stadtbesichtigung. Zunächst ging es zum aktuellen Stadion von Dnipr Dnipropetrowsk, welches wir leider nur von außen besichtigen konnten. Dnipropetrowsk hatte sich mit dem Stadionneubau auch für die EM beworben, hat aber als einzige der fünf großen Städte der Ukraine keinen Zuschlag bekommen. Im Stadionumfeld waren etliche Graffitties der einheimischen Ultragruppe zu sehen. Weiter ging es zum alten Stadion von Dnipr, ein typisches altes Ostblockstadion mit großen Flutlichtmasten, bei dem Stadionromantikern wie uns das Herz aufgeht.
Nach dem typisch ukrainischen Mittagessen, das sich für mich aufgrund eines dienstlichen Telefonats um eine halbe Stunde verzögerte (können die nicht mal zehn Tage ohne mich auskommen? Aber wenn der Chef die Handyrechnung bezahlt…), noch eine paar kleinere Gebäude abgelaufen und ein paar Minuten an der Dnipr geschlendert. Bis zum Spiel war noch immer etwas Zeit und so suchten wir eine Kneipe der Einheimischen auf. Hier wird das Bier in Ein-Liter-Plaste-Flaschen ausgeschenkt, was ulkig aussieht. Mehr als 20 Zapfhähne hängen hinter der Bar, wo die Flaschen mit einer Art Schraubstock hineingehangen werden und befüllt werden.
Auf dem Weg zum Stadion holte Yuri fünf weitere der Ein-Liter-Flaschen. Wir mussten ja zwei Stunden überstehen, hehe.
Championship of Dnipropetrovsk city. First league
RimStroy (Dnipropetrovsk) - Skif (Mirniy) 1:3
Stadium VRZ im. Kirova, Dnipropetovsk, Z: 42
Als wir das Stadion von weitem das erste Mal sahen, wirkte es sehr gut. Immerhin acht Reihen, die fast um das ganze Stadion gingen und dazu ein schöner Sprecherturm. Unter dem Sprecherturm waren einige Leute in einheitlicher Kleidung, so dass wir kurzzeitig auf einen Fanblock hoffen konnten. Dem war leider nicht so. Yuri erzählte, dass das die Gastmannschaft ist, die sich auf den Rängen umzieht. Das Umziehen in der Kabine hätte zusätzliches Geld gekostet.
Von nahem wurde uns gewahr, dass das Stadion eine einzige Bruchbude ist. Mehr als zwei Drittel der Holzbänke waren kaputt, rausgerissen oder hingen kreuz und quer auf den Rängen. Zwischen den Bänken lag allerlei Abfall, in erster Linie leere Bierflaschen.
Der Gang durch die Reihen wurde so mehr oder weniger zu einem einzigen Hindernislauf. Auf Höhe einer Torlinie fanden wir ein paar unversehrte Bänke, wo wir niederließen, um den Rasen zu begutachten. Aber welchen Rasen? Das Spielfeld schloss sich in seiner Qualität direkt den Rängen an. Im Mittelkreis und einem Umkreis von 30 Metern sowie dem direkten Mittelweg in Richtung der Tore war gar kein grün zu sehen sondern schlichter Staub.
Etwas weiter außen waren erste Rasenansätze zu erkennen und im Bereich der Eckfahnen stand das Gras dafür 15 cm hoch.
Kurz nach Spielbeginn gesellte sich ein Freund von Yuri zu uns, der die Nummer eins unter den ukrainischen Groundhoppern ist. Selbstverständlich mit drei Ein-Liter-Flaschen Bier um Rucksack. Vom Spiel sah er nichts, da er die ganze Zeit mit dem Rücken zum Spielfeld stand und sein Bier trank. Immerhin 42 Zuschauer, wenn die meisten auch nicht über die ganzen 90 Minuten anwesend waren, trollten sich auf den Bänken oder dem, was davon noch übrig war. Zum sportlichen gibt es nichts zu sagen. Stadtliga Dnipropetrowsk sagt in Bezug Qualität alles aus. Nach dem Spiel fuhren wir mit dem Bus zurück in die Innenstadt und schauten uns das Abendspiel der Gruppe A in einer Sportsbar an.
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