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Mein Besuch im Atomkraftwerk Tschernobyl im März 2021
Prolog:
Was tun im März 2021? Einer Zeit, in der das Reisen äußerst erschwert war und man täglich neue Beschränkungen erfährt? Ich erhielt eine Mail von Ukrain Airlines, dass sie einen speziellen Flug über Tschernobyl und Kiew planen. Im Tiefflug mit der 737 inkl. Abschließender Besichtigung der Werkshallen am KBP Airport.
Leider war ich wenige Minuten zu spät mit meiner Anmeldung, sodass ich nicht daran teilnehmen konnte. Eine Warteliste wurde für den zweiten Termin geschaffen, doch da warte ich noch heute auf eine Rückmeldung, ob es je dazu kommt.
Das Interesse an Tschernobyl war jedenfalls geweckt und ich beschloss kurzentschlossen eine Besichtigung zu planen. Die Ukraine war zu diesem Zeitpunkt im Lockdown, hatte jedoch, bis auf einen PCR Test, keine Auflagen für mich als Deutschen einzureisen.
1/3
Ich möchte in meinem ersten Reisebericht hier im Forum über meinen Besuch im Kernkraftwerk Tschernobyl berichten. Es gibt ja bereits hier und da Berichte über den Besuch von Prypjat, der Stadt neben dem Kernkraftwerk Tschernobyl, jedoch wenig über das eigentliche Kraftwerk. Ich habe das Kernkraftwerk und Prypjat im März dieses Jahrs besucht und hatte Glück da es die letzte Tour mit dem langjährigen Tourleiter Stanislav war. Stanislav ging im Mai in den Ruhestand. Auch wurde die Tour aufgrund von Corona eingestellt, eine Neuaufnahme ist aktuell meines Wissens noch nicht geplant.
Viele der hier gezeigten Fotos sind “aus der Hüfte” geschossen, sprich, ich konnte aufgrund der Eile (mehr dazu im Bericht) kaum gute Fotos machen und nur minimal das Potenzial der Kamera und der Objektive rausholen. Verwendet habe ich eine EOS R mit 15-35mm, 28-70mm und 70-200mm L Objektiven. Ein iPhone hätte wohl auch ausgereicht
Die Reise startet unspektakulär mit Lufthansa von München nach Kiew in Eco. Da die Senator Lounge in G nur auf dem Papier geöffnet hat und es im Non-Schengen Bereich keine Lounge mehr gibt die offen hatte, gehe ich direkt zum Flieger. Wir sind noch voll in der Corona Pandemie, sodass der Flieger nur halbvoll ist und ich kann alleine am Notausgang sitzen.
Das Wetter ist Klasse und ich habe einen schönen Blick auf die Alpen.
Hundert Euro Bargeld sollten für 4 Tage in Kiew und Umgebung ausreichen. Im Nachhinein wäre die Hälfte Bargeld auch ausreichend, da man überall mit der Kreditkarte bezahlen kann. Dazu noch eine 15GB SIM Karte zu 8€ und mit dem Uber in das Hotel.
Ein paar Impressionen vom abendlichen Kiew. Alles wirklich sehr schön und beeindruckende Gebäude und da dies meine erste Reise nach Kiew war, habe ich zuerst ein paar touristische Attraktionen besichtigt.
Früh um 08:00 Uhr morgens ging es am nächsten Tag los. Meine Reiseführerin ist Mitte 30 und bereits seit Jahren für das Reiseunternehmen in Tschernobyl unterwegs. Auf der 1,5 Stunden langen Fahrt zum Kraftwerk erzählt sie mir einiges über die Historie, die vielen falschen Gerüchte, die falschen Informationen und Unwahrheiten über die Reaktorkatastrophe. Einiges davon ist leider durch die HBO Tschernobyl Serie erst richtig in Umlauf gebracht worden und das möchte sie unbedingt aufklären. Sie erzählt aber auch über die Versuche die Region wieder zu säubern, die Forschung die hier nach wie vor betrieben wird und die vielen Menschen die diese Region verlassen mussten.
Als das Kraftwerk geplant wurde, versuchte man einen Lage zu finden, in dem die Landwirtschaft so wenig wie möglich beeinträchtigt ist. Es wurde die Region rund um Tschernobyl direkt an der Grenze zu Belarus ausgewählt, da es hier sehr sandigen Boden mit wenig Feuchtigkeit und dennoch ausreichend Kühlwasser durch den Fluss Prypjat gibt. Nach diesem Fluss wurde auch der Ort neben dem Reaktor benannt, der 1972 gebaut wurde. Er wurde praktisch ausschließlich für die Bauarbeiter und später für die Mitarbeiter und deren Familien genutzt. Mit ca. 50.000 Einwohnern, wovon ca. 10.000 Kinder waren, eine sehr junge und lebendige Stadt. Ein Mitarbeiter am Kraftwerk zu sein war eine Ehre und es gab unzählige Privilegien die heute, in Form von Kinos, Theatern und zahlreichen Kaffees noch immer in der Stadt zu besichtigen sind.
Wir fahren über wahnsinnig kaputte und schlechte Straßen und unser Fahrer, gibt sein Bestes die größten Schlaglöcher zu umfahren. Nichtsdestotrotz fahren wir mit teilweise 120 KM/h hoppelig über Landstraßen und ich hoffe der Mercedes Vito ist halbwegs gut gewartet und überprüft worden, um nicht bei der nächsten Kurve von der Straße zu fliegen. Weit und breit sind keine Menschen oder Häuser zu sehen – und das bereits 20 Kilometer vor der eigentlichen Sperrzone. Die Landwirtschaft ist hier fast zum erliegen gekommen, da der Makel Tschernobyl auf der ganzen Region lastet.
30 Kilometer vor dem Reaktor beginnt die erste Sperrzone. Wir sind komplett alleine und werden mit einem Dosimeter ausgestattet. Dieses Dosimeter werden wir nun um den Hals tragen, um die Strahlenbelastung des Tages zu messen. Zusätzlich dazu erhalte ich noch einen kleinen Geigerzähler, der die aktuelle Strahlung misst. Das ist aber eher etwas für Touristen, die einfach nur die Strahlung am jeweiligen Ort beziehungsweise an Gegenständen messen möchten. Mehr dazu später. Vom Checkpunkt selber darf man keine Fotos machen und da wir komplett alleine waren, umzingelt von mindestens 20 Soldaten und Sicherheitsmitarbeitern, habe ich es auch nicht gewagt, Fotos zu machen. Spannendes gab es aber auch nicht zu sehen.
Wir fahren weiter und kommen an einem Kindergarten vorbei. Dieser Kindergarten ist der erste “Kontakt” für mich zur verlassenen Gegend.
Vor dem Eingang des Kindergartens befindet sich ein sehr großer Baum. Meine Reiseleiterin sagt mir, ich solle hier den Geigerzähler an den Fuß des Baumes sowie an dessen Rinde halten. Der Geigerzähler schlägt sofort auf über 11 Millisievert pro Stunde aus. Das ist ziemlich heftig, denn vergleichsweise niedrig ist die Strahlung mit 0,01 - 0,4 Millisievert in der Umgebung. Der Grund für die extrem hohe Strahlung ist relativ simpel: genau an diesem Baum wurden die Fußmatten der Autos ausgeklopft. Sie sagt mir, dass alle Autofahrer und Lkw-Fahrer, die aus der Region damals gekommen sind, sowie dort gearbeitet und geholfen haben, an diesem Kindergarten das erste Mal halten durften. Aufgrund der Strahlenbelastung wurde sofort die Fußmatte ausgeschlagen und das erfolgte an dem entsprechenden Baum vor dem Kindergarten. Der Kindergarten war zu diesem Zeitpunkt zum Glück schon geräumt.
Wir gehen weiter in den Kindergarten und ich Falle in eine Zeitkapsel aus dem Jahr 1986. Kinderspielzeuge, Betten, Bücher - alles noch vorhanden.
Leider haben wir nicht viel Zeit, denn um 11:00 Uhr müssen wir pünktlich auf dem Kraftwerksvorplatz stehen, um die Tour im Reaktor zu starten.
Auf der Fahrt zum Kraftwerk kommen wir an den Ruinen von Reaktor 5 und 6 vorbei. Beide sind nicht fertig gestellt worden und eine Besichtigung ist, offiziell, nicht erlaubt. Auch das Fotografieren wäre problematisch und nur durch das Auto möglich. Bei meinem zweiten Besuch im August dieses Jahr, war es überhaupt kein Problem Fotos zu machen – welche Aussage nun stimmt?
Vor dem Kraftwerk angekommen erwartet uns Stanislav, unser Führer durch das Kernkraftwerk. Wir gehen in einem separaten Bereich das Kernkraftwerks, um dort von einer Dame auf Radioaktivität geprüft zu werden. Leider durfte man keine Fotos machen, deshalb nur eine Beschreibung des Vorgehens: Man sitzt ca. 15 Minuten auf einem regulären Bürostuhl, der jedoch verkabelt ist mit einem uralten PC. Der Rechner läuft noch auf MS-DOS und hat eine Software, die die Messwerte der Sensoren auf dem Bürostuhl auswerten. Es wird eine Eingangsmessung durchgeführt die später beim Verlassen des Kernkraftwerkes erneut durchgeführt und verglichen. Wir sind 6 Leute und entsprechend lange warten wir, bis jeder die Messprozedur hinter sich geführt hat.
Zur Orientierung habe ich ein Screenshot von Google Maps gemacht -> Reaktor 4-3-2-1 sowie die Verwaltung (der blaue Positionspunkt auf der Karte).
Weiter geht es in das Hauptgebäude in dem Fotografieren verboten ist, da es sich um eine militärischen Sicherheitsbereich handelt. (Auch hier unterschiedliche Aussagen. Bei meinem zweiten Besuch waren Fotos problemlos möglich - unter Aufsicht der Sicherheitsmitarbeiter). Ein Übersichtsfoto wurde mir jedoch gestattet.
Ich halte mich natürlich daran und mache keine Fotos im Inneren des Gebäudes, wirklich viel zu fotografieren gibt es aber auch nicht, denn es werden einfach nur ständig Pass und Anmeldung verglichen, mit einer Sonde der Körper abgetastet, verschiedenste Metalldetektoren eingesetzt und ich muss meine Digitalkamera auseinander bauen, da diese mit meinen großen Objektiven doch etwas ungewöhnlich für die Sicherheitsmitarbeiter erscheint.
Zuerst besuchen wir den Katastrophen Schutz- und Lage-Raum der heute auch als kleines Museum dient. Es werden verschiedene Geigerzähler erklärt, die über die Jahre im Kraftwerk verwendet worden. In diesem Bereich haben sich laut Stanislav nie Menschen aufgehalten, auch nicht während der Reaktorkatastrophe von Reaktor 4. In der HBO Serie ist das leider falsch dargestellt. Man sei schlicht davon ausgegangen, dass es gar keinen wirklichen Unfall gegeben hatte, und die Verantwortlichen haben den Vorfall heruntergespielt so dass sie die Räume nur in Übungen genutzt haben.
Interessant finde ich die Details, wie zum Beispiel das Atomzeichen auf den Fliesen des Bodens.
Nach unzähligen weiteren Überprüfungen kommen wir in eine Umkleidekabine, in der wir uns bis auf die Unterwäsche ausziehen müssen und die gestellte Wäsche des Kraftwerkes anziehen. Diese besteht aus 4 Lagen Baumwolle in unterschiedlichen Größen. Also 4 Hosen und 4 Overalls übereinander. Dazu eine dicke Winterjacke, Handschuhe, eine Stoffmütze, Schutzmaske und ein Sicherheitshelm. Die Schutzmaske nicht aufgrund COVID-19, sondern um Alpha Strahlen zu blockieren. Alles muss überlappend getragen werden was durch eine Dame am Ausgang kontrolliert wird. Als Schuhe dienten Baumwollslipper, ähnlich der aus Hotels, jedoch mit höherem Schaft und etwas festerer Sohle. Mit Schuhgröße 45 konnte ich nur ein Paar in Größe 50 tragen, entsprechend schlecht war der Gang. Da halfen auch die 3 Lagen Socken, die ich anziehen musste, nicht wirklich. Offensichtlich sind die ukrainischen Männer im Kraftwerk alle wohlgeformt, denn mir, 182cm groß bei 77KG, ist selbst die kleinste Größe viel zu groß und alles hängt an mir wie ein Kartoffelsack. Das wird mir später noch zu einem lästigen Problem. (Die Winterjacke ist auf dem Foto noch nicht angezogen)
Erneut werden wir unzählige Male auf Strahlung und verbotene Gegenstände kontrolliert und dürfen dann Stück für Stück näher Richtung Reaktor 1.
Tschernobyl steht aus 6 Reaktoren. Der berühmte Reaktor 4, der in der Nacht am 26. April 1986 explodierte, Reaktor 3 der bis zum Jahr 2000 noch in Betrieb war, Reaktor 2 der bis 1991 in Betrieb war sowie Reaktor 1 der bis 1996 Strom produzierte. Reaktor 5 und 6 befanden sich bis zum Jahr 1986 im Bau und haben zirka 80% Fertigstellung erreicht. Laut Stanislav war geplant, den größten Reaktorkomplex der Welt zu betreiben und Final 11 Reaktoren auf dem Gelände zu bauen. Dazu ist es, wie wir alle wissen, nicht mehr gekommen.
Wir laufen durch unzählige Gänge, Treppen und teilweise enge Katakomben bis wir in den berühmten “Golden Corridor” kommen. Dieser Korridor geht von Reaktor 1 - 4 und hat unzählige Türen rechts und links die zu Kontrollräumen und Wartungsräumen führen. Man kann nicht erkennen auf welcher Höhe des Kernkraftwerks man sich befindet, da es keinerlei Fenster gibt. Auf den Korridoren sieht man immer wieder Arbeiter die von einem Raum in den anderen laufen, um ihrer Arbeit nachzugehen.
Erschreckend zu sehen, finde ich, dass sämtliche Türen kaputt oder nur extrem unzureichend gesichert sind. Überall gibt es “Einbruchspuren” an den Türen, so, als ob man diese aufgehebelt hat, weil das Schloss defekt war. Auch sieht man überall improvisierte Abdichtungen mit Klebeband, komplett kaputte Fliesen, undichte Rohrleitungen aus denen es tropft, etc. - ziemlich erschreckend, dass hier bis in das Jahr 2000 noch ein Kernreaktor in Betrieb war und auch heute die Gefahr, von einer radioaktiven Verstrahlung, noch lange nicht gebannt ist.
Ein Mitarbeiter, der durch ein dünnes Brett vom “Golden Corridor” getrennt, in seinem 2 Quadratmeter kleinem Büro Strahlenmessgeräte ausgibt.
Laut Stanislav ist geplant, bis in das Jahr 2065 Mitarbeiter vor Ort zu haben die 24/7 den Betrieb überwachen. Erst dann könne man die Arbeiten etwas reduzieren und sich um die Sicherung, und den dann sicher notwenigen Neubau des aktuellen Sarkophags von Reaktor 4, kümmern. Eine never ending story also.
Wir haben das riesige Glück mit Stanislav diese Tour machen zu dürfen, denn er arbeitet seit 35 Jahren (genau ein Jahr nach der Reaktorkatastrophe ist er in den Dienst eingetreten) im Kernkraftwerk Tschernobyl und hat unzählige Positionen innegehabt. Überall im Kernkraftwerk wird er von den Arbeitern gegrüßt und hält einen kurzen Schnack. Das ermöglicht uns auch in verschiedenste Überwachungsräume zu gelangen, die sonst verschlossen wären. Er führt uns in den Elektro-Kontrollraum das Reaktor 1 und wir dürfen 2 Minuten den Arbeitern über die Schulter schauen.
Morgen geht es mit Teil 2 weiter.
Prolog:
Was tun im März 2021? Einer Zeit, in der das Reisen äußerst erschwert war und man täglich neue Beschränkungen erfährt? Ich erhielt eine Mail von Ukrain Airlines, dass sie einen speziellen Flug über Tschernobyl und Kiew planen. Im Tiefflug mit der 737 inkl. Abschließender Besichtigung der Werkshallen am KBP Airport.
Leider war ich wenige Minuten zu spät mit meiner Anmeldung, sodass ich nicht daran teilnehmen konnte. Eine Warteliste wurde für den zweiten Termin geschaffen, doch da warte ich noch heute auf eine Rückmeldung, ob es je dazu kommt.
Das Interesse an Tschernobyl war jedenfalls geweckt und ich beschloss kurzentschlossen eine Besichtigung zu planen. Die Ukraine war zu diesem Zeitpunkt im Lockdown, hatte jedoch, bis auf einen PCR Test, keine Auflagen für mich als Deutschen einzureisen.
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Ich möchte in meinem ersten Reisebericht hier im Forum über meinen Besuch im Kernkraftwerk Tschernobyl berichten. Es gibt ja bereits hier und da Berichte über den Besuch von Prypjat, der Stadt neben dem Kernkraftwerk Tschernobyl, jedoch wenig über das eigentliche Kraftwerk. Ich habe das Kernkraftwerk und Prypjat im März dieses Jahrs besucht und hatte Glück da es die letzte Tour mit dem langjährigen Tourleiter Stanislav war. Stanislav ging im Mai in den Ruhestand. Auch wurde die Tour aufgrund von Corona eingestellt, eine Neuaufnahme ist aktuell meines Wissens noch nicht geplant.
Viele der hier gezeigten Fotos sind “aus der Hüfte” geschossen, sprich, ich konnte aufgrund der Eile (mehr dazu im Bericht) kaum gute Fotos machen und nur minimal das Potenzial der Kamera und der Objektive rausholen. Verwendet habe ich eine EOS R mit 15-35mm, 28-70mm und 70-200mm L Objektiven. Ein iPhone hätte wohl auch ausgereicht
Die Reise startet unspektakulär mit Lufthansa von München nach Kiew in Eco. Da die Senator Lounge in G nur auf dem Papier geöffnet hat und es im Non-Schengen Bereich keine Lounge mehr gibt die offen hatte, gehe ich direkt zum Flieger. Wir sind noch voll in der Corona Pandemie, sodass der Flieger nur halbvoll ist und ich kann alleine am Notausgang sitzen.
Das Wetter ist Klasse und ich habe einen schönen Blick auf die Alpen.
Hundert Euro Bargeld sollten für 4 Tage in Kiew und Umgebung ausreichen. Im Nachhinein wäre die Hälfte Bargeld auch ausreichend, da man überall mit der Kreditkarte bezahlen kann. Dazu noch eine 15GB SIM Karte zu 8€ und mit dem Uber in das Hotel.
Ein paar Impressionen vom abendlichen Kiew. Alles wirklich sehr schön und beeindruckende Gebäude und da dies meine erste Reise nach Kiew war, habe ich zuerst ein paar touristische Attraktionen besichtigt.
Früh um 08:00 Uhr morgens ging es am nächsten Tag los. Meine Reiseführerin ist Mitte 30 und bereits seit Jahren für das Reiseunternehmen in Tschernobyl unterwegs. Auf der 1,5 Stunden langen Fahrt zum Kraftwerk erzählt sie mir einiges über die Historie, die vielen falschen Gerüchte, die falschen Informationen und Unwahrheiten über die Reaktorkatastrophe. Einiges davon ist leider durch die HBO Tschernobyl Serie erst richtig in Umlauf gebracht worden und das möchte sie unbedingt aufklären. Sie erzählt aber auch über die Versuche die Region wieder zu säubern, die Forschung die hier nach wie vor betrieben wird und die vielen Menschen die diese Region verlassen mussten.
Als das Kraftwerk geplant wurde, versuchte man einen Lage zu finden, in dem die Landwirtschaft so wenig wie möglich beeinträchtigt ist. Es wurde die Region rund um Tschernobyl direkt an der Grenze zu Belarus ausgewählt, da es hier sehr sandigen Boden mit wenig Feuchtigkeit und dennoch ausreichend Kühlwasser durch den Fluss Prypjat gibt. Nach diesem Fluss wurde auch der Ort neben dem Reaktor benannt, der 1972 gebaut wurde. Er wurde praktisch ausschließlich für die Bauarbeiter und später für die Mitarbeiter und deren Familien genutzt. Mit ca. 50.000 Einwohnern, wovon ca. 10.000 Kinder waren, eine sehr junge und lebendige Stadt. Ein Mitarbeiter am Kraftwerk zu sein war eine Ehre und es gab unzählige Privilegien die heute, in Form von Kinos, Theatern und zahlreichen Kaffees noch immer in der Stadt zu besichtigen sind.
Wir fahren über wahnsinnig kaputte und schlechte Straßen und unser Fahrer, gibt sein Bestes die größten Schlaglöcher zu umfahren. Nichtsdestotrotz fahren wir mit teilweise 120 KM/h hoppelig über Landstraßen und ich hoffe der Mercedes Vito ist halbwegs gut gewartet und überprüft worden, um nicht bei der nächsten Kurve von der Straße zu fliegen. Weit und breit sind keine Menschen oder Häuser zu sehen – und das bereits 20 Kilometer vor der eigentlichen Sperrzone. Die Landwirtschaft ist hier fast zum erliegen gekommen, da der Makel Tschernobyl auf der ganzen Region lastet.
30 Kilometer vor dem Reaktor beginnt die erste Sperrzone. Wir sind komplett alleine und werden mit einem Dosimeter ausgestattet. Dieses Dosimeter werden wir nun um den Hals tragen, um die Strahlenbelastung des Tages zu messen. Zusätzlich dazu erhalte ich noch einen kleinen Geigerzähler, der die aktuelle Strahlung misst. Das ist aber eher etwas für Touristen, die einfach nur die Strahlung am jeweiligen Ort beziehungsweise an Gegenständen messen möchten. Mehr dazu später. Vom Checkpunkt selber darf man keine Fotos machen und da wir komplett alleine waren, umzingelt von mindestens 20 Soldaten und Sicherheitsmitarbeitern, habe ich es auch nicht gewagt, Fotos zu machen. Spannendes gab es aber auch nicht zu sehen.
Wir fahren weiter und kommen an einem Kindergarten vorbei. Dieser Kindergarten ist der erste “Kontakt” für mich zur verlassenen Gegend.
Vor dem Eingang des Kindergartens befindet sich ein sehr großer Baum. Meine Reiseleiterin sagt mir, ich solle hier den Geigerzähler an den Fuß des Baumes sowie an dessen Rinde halten. Der Geigerzähler schlägt sofort auf über 11 Millisievert pro Stunde aus. Das ist ziemlich heftig, denn vergleichsweise niedrig ist die Strahlung mit 0,01 - 0,4 Millisievert in der Umgebung. Der Grund für die extrem hohe Strahlung ist relativ simpel: genau an diesem Baum wurden die Fußmatten der Autos ausgeklopft. Sie sagt mir, dass alle Autofahrer und Lkw-Fahrer, die aus der Region damals gekommen sind, sowie dort gearbeitet und geholfen haben, an diesem Kindergarten das erste Mal halten durften. Aufgrund der Strahlenbelastung wurde sofort die Fußmatte ausgeschlagen und das erfolgte an dem entsprechenden Baum vor dem Kindergarten. Der Kindergarten war zu diesem Zeitpunkt zum Glück schon geräumt.
Wir gehen weiter in den Kindergarten und ich Falle in eine Zeitkapsel aus dem Jahr 1986. Kinderspielzeuge, Betten, Bücher - alles noch vorhanden.
Leider haben wir nicht viel Zeit, denn um 11:00 Uhr müssen wir pünktlich auf dem Kraftwerksvorplatz stehen, um die Tour im Reaktor zu starten.
Auf der Fahrt zum Kraftwerk kommen wir an den Ruinen von Reaktor 5 und 6 vorbei. Beide sind nicht fertig gestellt worden und eine Besichtigung ist, offiziell, nicht erlaubt. Auch das Fotografieren wäre problematisch und nur durch das Auto möglich. Bei meinem zweiten Besuch im August dieses Jahr, war es überhaupt kein Problem Fotos zu machen – welche Aussage nun stimmt?
Vor dem Kraftwerk angekommen erwartet uns Stanislav, unser Führer durch das Kernkraftwerk. Wir gehen in einem separaten Bereich das Kernkraftwerks, um dort von einer Dame auf Radioaktivität geprüft zu werden. Leider durfte man keine Fotos machen, deshalb nur eine Beschreibung des Vorgehens: Man sitzt ca. 15 Minuten auf einem regulären Bürostuhl, der jedoch verkabelt ist mit einem uralten PC. Der Rechner läuft noch auf MS-DOS und hat eine Software, die die Messwerte der Sensoren auf dem Bürostuhl auswerten. Es wird eine Eingangsmessung durchgeführt die später beim Verlassen des Kernkraftwerkes erneut durchgeführt und verglichen. Wir sind 6 Leute und entsprechend lange warten wir, bis jeder die Messprozedur hinter sich geführt hat.
Zur Orientierung habe ich ein Screenshot von Google Maps gemacht -> Reaktor 4-3-2-1 sowie die Verwaltung (der blaue Positionspunkt auf der Karte).
Weiter geht es in das Hauptgebäude in dem Fotografieren verboten ist, da es sich um eine militärischen Sicherheitsbereich handelt. (Auch hier unterschiedliche Aussagen. Bei meinem zweiten Besuch waren Fotos problemlos möglich - unter Aufsicht der Sicherheitsmitarbeiter). Ein Übersichtsfoto wurde mir jedoch gestattet.
Ich halte mich natürlich daran und mache keine Fotos im Inneren des Gebäudes, wirklich viel zu fotografieren gibt es aber auch nicht, denn es werden einfach nur ständig Pass und Anmeldung verglichen, mit einer Sonde der Körper abgetastet, verschiedenste Metalldetektoren eingesetzt und ich muss meine Digitalkamera auseinander bauen, da diese mit meinen großen Objektiven doch etwas ungewöhnlich für die Sicherheitsmitarbeiter erscheint.
Zuerst besuchen wir den Katastrophen Schutz- und Lage-Raum der heute auch als kleines Museum dient. Es werden verschiedene Geigerzähler erklärt, die über die Jahre im Kraftwerk verwendet worden. In diesem Bereich haben sich laut Stanislav nie Menschen aufgehalten, auch nicht während der Reaktorkatastrophe von Reaktor 4. In der HBO Serie ist das leider falsch dargestellt. Man sei schlicht davon ausgegangen, dass es gar keinen wirklichen Unfall gegeben hatte, und die Verantwortlichen haben den Vorfall heruntergespielt so dass sie die Räume nur in Übungen genutzt haben.
Interessant finde ich die Details, wie zum Beispiel das Atomzeichen auf den Fliesen des Bodens.
Nach unzähligen weiteren Überprüfungen kommen wir in eine Umkleidekabine, in der wir uns bis auf die Unterwäsche ausziehen müssen und die gestellte Wäsche des Kraftwerkes anziehen. Diese besteht aus 4 Lagen Baumwolle in unterschiedlichen Größen. Also 4 Hosen und 4 Overalls übereinander. Dazu eine dicke Winterjacke, Handschuhe, eine Stoffmütze, Schutzmaske und ein Sicherheitshelm. Die Schutzmaske nicht aufgrund COVID-19, sondern um Alpha Strahlen zu blockieren. Alles muss überlappend getragen werden was durch eine Dame am Ausgang kontrolliert wird. Als Schuhe dienten Baumwollslipper, ähnlich der aus Hotels, jedoch mit höherem Schaft und etwas festerer Sohle. Mit Schuhgröße 45 konnte ich nur ein Paar in Größe 50 tragen, entsprechend schlecht war der Gang. Da halfen auch die 3 Lagen Socken, die ich anziehen musste, nicht wirklich. Offensichtlich sind die ukrainischen Männer im Kraftwerk alle wohlgeformt, denn mir, 182cm groß bei 77KG, ist selbst die kleinste Größe viel zu groß und alles hängt an mir wie ein Kartoffelsack. Das wird mir später noch zu einem lästigen Problem. (Die Winterjacke ist auf dem Foto noch nicht angezogen)
Erneut werden wir unzählige Male auf Strahlung und verbotene Gegenstände kontrolliert und dürfen dann Stück für Stück näher Richtung Reaktor 1.
Tschernobyl steht aus 6 Reaktoren. Der berühmte Reaktor 4, der in der Nacht am 26. April 1986 explodierte, Reaktor 3 der bis zum Jahr 2000 noch in Betrieb war, Reaktor 2 der bis 1991 in Betrieb war sowie Reaktor 1 der bis 1996 Strom produzierte. Reaktor 5 und 6 befanden sich bis zum Jahr 1986 im Bau und haben zirka 80% Fertigstellung erreicht. Laut Stanislav war geplant, den größten Reaktorkomplex der Welt zu betreiben und Final 11 Reaktoren auf dem Gelände zu bauen. Dazu ist es, wie wir alle wissen, nicht mehr gekommen.
Wir laufen durch unzählige Gänge, Treppen und teilweise enge Katakomben bis wir in den berühmten “Golden Corridor” kommen. Dieser Korridor geht von Reaktor 1 - 4 und hat unzählige Türen rechts und links die zu Kontrollräumen und Wartungsräumen führen. Man kann nicht erkennen auf welcher Höhe des Kernkraftwerks man sich befindet, da es keinerlei Fenster gibt. Auf den Korridoren sieht man immer wieder Arbeiter die von einem Raum in den anderen laufen, um ihrer Arbeit nachzugehen.
Erschreckend zu sehen, finde ich, dass sämtliche Türen kaputt oder nur extrem unzureichend gesichert sind. Überall gibt es “Einbruchspuren” an den Türen, so, als ob man diese aufgehebelt hat, weil das Schloss defekt war. Auch sieht man überall improvisierte Abdichtungen mit Klebeband, komplett kaputte Fliesen, undichte Rohrleitungen aus denen es tropft, etc. - ziemlich erschreckend, dass hier bis in das Jahr 2000 noch ein Kernreaktor in Betrieb war und auch heute die Gefahr, von einer radioaktiven Verstrahlung, noch lange nicht gebannt ist.
Ein Mitarbeiter, der durch ein dünnes Brett vom “Golden Corridor” getrennt, in seinem 2 Quadratmeter kleinem Büro Strahlenmessgeräte ausgibt.
Laut Stanislav ist geplant, bis in das Jahr 2065 Mitarbeiter vor Ort zu haben die 24/7 den Betrieb überwachen. Erst dann könne man die Arbeiten etwas reduzieren und sich um die Sicherung, und den dann sicher notwenigen Neubau des aktuellen Sarkophags von Reaktor 4, kümmern. Eine never ending story also.
Wir haben das riesige Glück mit Stanislav diese Tour machen zu dürfen, denn er arbeitet seit 35 Jahren (genau ein Jahr nach der Reaktorkatastrophe ist er in den Dienst eingetreten) im Kernkraftwerk Tschernobyl und hat unzählige Positionen innegehabt. Überall im Kernkraftwerk wird er von den Arbeitern gegrüßt und hält einen kurzen Schnack. Das ermöglicht uns auch in verschiedenste Überwachungsräume zu gelangen, die sonst verschlossen wären. Er führt uns in den Elektro-Kontrollraum das Reaktor 1 und wir dürfen 2 Minuten den Arbeitern über die Schulter schauen.
Morgen geht es mit Teil 2 weiter.