tripreport Flucht vor Weihnachten ?

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concordeuser

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01.11.2011
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Tripreport TEIL 12

Um die Ecke war der Apple Store am Kuhdamm. Reparatur lieber zuhause in HAM - würde ohnehin länger dauern. Schnell hin, an der hektischen Menge vorbei, einen freien Agenten abgegriffen, und gesagt, ich möchte mit einem neuen Macbook Air in drei Minuten wieder draußen sein, ohne Faxen, Schlangestehen und Nervereien. Er hat mich verstanden. Hat geklappt.

Ich will mir doch nicht meine Weihnachtspläne von Baileys in der Tastatur verderben lassen.
Wie Ihr seht ("Hust") arbeitete ich mit dem neuen Teil. Hatte meine Daten gestern Abend vorsichtshalber noch auf einen Stick geschoben.

Jetzt kommt der gute Italiener mit Freunden in Berlin, dann der Sport, dann ein Krimi.

Morgen geht es weiter.
 
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murks86

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08.12.2013
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Vielen Dank für deinen bisherigen Bericht! Er unterscheidet sich durch die Manuskript-Teile natürlich deutlich von den üblichen Berichten, die hier so gepostet werden, aber ich finde es toll! Freue mich morgen weiterlesen zu können! :)
 
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concordeuser

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01.11.2011
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Tripreport Teil 13

Montag 23.12.13 - 2230

Erst einmal ein großes Kompliment für die vielen schönen Tripreports, die hier zu
Weihnachten eingestellt werden. Respekt

Ich habe einen schönen Abend bei Due Emigranti, einem der ältesten Italiener Berlins, hinter mich gebracht. Berlin ist weihnachtlich, viel Glühweinleichen, viel Hektik, viele Verrückte. Am Potsdamer Platz wollte ein Autofahrer auf eine ältere Lady losgehen, weil sie nicht schnell genug über die Strasse kam, obwohl sie bei grüner Ampel losgegangen ist. Hätte dem Typ gerne die Nase verbogen und das Auto vernichtet, ist aber nicht mein Stil.

Manuskript 10

Meine Erinnerungen an Familie und Kindheit sind nicht außergewöhnlich, auch wenn die Last in jedem Kopf andere Formen und Ausprägungen annahm. Ich traue mich nur, darüber zu erzählen. Eine Schulfreundin sagte einmal, wir haben doch alle mit unseren Eltern gekämpft. Kein Erwachsener konnte den Fragen nach Schuld ausweichen. Trotz des Schweigens saß die Vergangenheit an jedem Familientisch. In jedem Erwachsenen versteckten sich dunkle Ecken, die nach Trauma, Verdrängung und Irrsinn stanken. Hinter der Oberfläche sah man den Friedhof der Vergangenheit. In jeder Familie lassen sich Spuren und Geheimnisse finden. Es ist unsere Geschichte.

Nach sechs Wochen Blitzkrieg kapitulierte Frankreich. Mein Vater wird dem „Luftgaukommando Belgien und Nordfrankreich“ zugeordnet und ist im „Stab Luftgauarztes Brüssel“ tätig. Am 6. Juli 1940 hat er laut Wehrmachtsauskunftsstelle den Rang eines Unteroffiziers erreicht. So wie er mir als Kind erzählt hat, verbrachte er den gesamten Krieg am Standort Brüssel. Damit hatte er großes Glück. An anderen Kriegsschauplätzen musste er nicht kämpfen, die Ostfront blieb ihm erspart. Bis zu seiner Gefangennahme lebte er in einer glückliche Nische. Doch genau das weckt mein Misstrauen.

Mein Argwohn über die militärische Karriere meines Vaters ist groß. Die Zeit zwischen Herbst 1940 und seiner späteren Gefangenschaft erscheint mir seltsam verschleiert. Was hat er im diesem Zeitraum konkret gemacht? Er war jung, fit und militärisch gut ausgebildet. Er war ein erfahrener und dekorierter Kämpfer, vom Nationalsozialismus überzeugt. Warum hat er nach erfolgreichen Kampfeinsätzen einen Verwaltungsjob ausgeübt? Es gab doch viele Kriegsschauplätze in Afrika, im Süden Europas und im Russlandfeldzug an denen er sich weiterhin hätte bewähren können. Schließlich strebte das Deutsche Reich die Weltherrschaft an.

Wollte mein Vater nicht mehr oder konnte er nicht mehr? War seine Position eine Belohnung? Welche Umstände haben ihm sein vergleichsweise sicheres und angenehmes Leben fernab der Fronten auf einem eher harmlosen Verwaltungsjob ermöglicht? War es wirklich harmlos oder hatte seine Tätigkeit verborgene oder schmutzige Ecken? War er an verborgenen Vorhaben beteiligt? Warum gibt es so konsequent keine Spuren mehr von ihm? Im Jahre 1940 verfügte die Wehrmacht noch über eine effiziente deutsche Bürokratie. Warum finde ich trotz umfangreicher Suche so gar keine Information über den Zeitraum Ende 1940 bis 1945 mehr, wie besondere Vorkommnisse oder weitere Beförderungen? Alles nur kriegsbedingter Zufall oder wurden Taten gezielt verborgen und Akten beseitigt? Von umfangreichen Aktenvernichtungen hat mein Vater mir berichtet. Er selbst hat sie angeordnet und ausführen lassen, in den letzten Tagen des Kampfes um Brüssel, als die Stadt von den Deutschen befreit wurde und er in Gefangenschaft ging. Den Alliierten sollte nichts in die Hände fallen.

Im September 1944 hatte sich das Kriegsglück gewendet. Britische Truppen rückten gegen Brüssel vor. Die höheren Offiziere flohen, und mein Vater blieb für kurze Zeit als ranghöchster Soldat zurück, so hat er mir erzählt. Im Chaos der alliierten Eroberung Brüssels will er kurzzeitig „Stadtkommandant“ gewesen sein. Wichtigtuerei? War er es wirklich? Warum soll ein Vater seinen Sohn belügen? Nach seinen Worten war er der letzte „deutsche Kommandant“ der Stadt. Nicht sehr lange, nach seinen Schilderungen inmitten der Kämpfe, höchstens für einen Tag oder vielleicht auch nur für Stunden. So niedrig wird sein Rang bei Kriegsende also nicht gewesen sein, aber in Archiven und Geschichtsbüchern wird er nicht erwähnt, zumindest finde ich nichts über ihn. Karl verbrannte alle Unterlagen und räumte auf. Dann setzte er sich auf einen Stuhl und wartete auf die Ankunft der Alliierten. Die deutschen Soldaten ergaben sich, und er wurde gefangen genommen. Diese Version hat mir mein Vater berichtet. Im Internet finde ich eine andere Darstellung. Demnach begann am 3. September 1944 die militärische Rückeroberung Brüssels. Es gab heftige Kampfhandlungen über mehrere Tage. Dann war die Stadt von deutschen Besatzern befreit. So hat mein Vater es mir nicht erzählt.

Meinen Vornamen habe ich nach Großvater erhalten. Er kam 1885 als siebtes von zehn Kindern eines Tagelöhners in einem kleinen Dorf am Main zur Welt. Im evangelischen Franken gehörte er zur katholischen Minderheit und wuchs in einer armseligen Holzhütte am Fluss auf. Michael erlernte den Beruf des Zimmermanns. Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts machte er als Geselle die im Handwerk übliche Wanderschaft und traf in einer Kleinstadt der Lüneburger Heide auf die Köchin Frieda, 1890 geboren. Kurze Zeit später heirateten sie und zogen nach Hamburg. Mein Großvater arbeitete einige Jahre in seinem Beruf, dann musste er im Sommer 1914 als Soldat in den Ersten Weltkrieg ziehen. Ob er wollte, werden sie ihn nicht gefragt haben. Weihnachten sei er wieder zu Hause sagten sie. Tatsächlich dauerte es vier Jahre und siebzehn Millionen Tote, dann hatte Deutschland verloren. Auf alten Fotos ist mein Großvater ein schöner und würdevoller Mann. So erinnere ich ihn auch. Ich mochte sehr, er war ein Guter. Zu mir war er immer geduldig, freundlich und fürsorglich. Heute kommt er mir so liebenswert altmodisch vor wie der siebzigjährige Leonard Cohen auf der Bühne, wenn er Suzanne anstimmt.


Damit es nicht zu düster wird, die Einstimmung auf die Swinging Sixties


Im Sommer 1966 bin ich ein fünfzehnjähriger Junge. Pubertätshormone toben. In der Hauptstadt Bonn führen die Bundestagswahlen zur großen Koalition. Die Schwarzen müssen Macht teilen, heraus kommt ein stinkendfauler Kompromiss. Bundeskanzler wird der frühere Nazi Kurt-Georg Kiesinger, Vizekanzler der Emigrant Willy Brandt. In der Regierung sitzen ehemalige NSDAP-Mitglieder wie Karl Schiller neben dem kommunistischen Führungskader Herbert Wehner.

Schnell verliere ich das Interesse an Filmen von Karl May und dem Lesen der Bravo. Die Nachmittage verbringe ich mit Freunden beim Fußball und im Schwimmbad. Mich begeistern Raumfahrt und Fotographie. Unsere Väter schicken uns regelmäßig zum Friseur und Mädchen sind fremde Wesen. Noch rede ich mit meinen Eltern. Mit der Schule komme ich nun besser zurecht und fange an, meinen Platz zu suchen. Ich will da raus, ich träume vom Erwachsensein.

Aus England tönt die Beatmusik herüber, die begonnen hatte, ihre Weltherrschaft anzutreten. 1963 feierten die BEATLES ihren ersten großen Hit. „I want to hold your hand“, untermalt von unkontrolliertem Gekreische, Geschrei und Jubel. Auch Deutschland wird angesteckt. 1966 spielen die BEATLES in Hamburg. Einer meiner Klassenkameraden bekommt von seinen Eltern eine Eintrittskarte für das Konzert in der Ernst-Merck-Halle. Am nächsten Morgen berichtet er von den Stunden danach, von den Krawallen mit der Polizei und der Schlacht gegen die Wasserwerfer am Dammtorbahnhof. Er war dabei. Ich bin noch nicht so weit, doch mein Körper und meine Gedanken entwickeln sich. Das Leben lässt sich nicht aufhalten. Immer weniger glaube ich an das, was uns Eltern und Lehrer erzählen. Das Verhältnis zu meinen Großeltern hat sich durch das Gymnasium entfremdet, große Nähe zu meinen Eltern gab es ohnehin nie. Meine engsten Schulfreunde stehen mir nahe, sonst niemand. Weltsicht und Lebensweise der Erwachsenen werden täglich fremder und gleichgültiger. Sie haben nichts für mich.

Unsere Mütter bekommen feuchte Augen, wenn sie Lieder von Roy Black hören. Ganz in Weiß, verlogener Scheiß. Mein Vater begeistert sich für den Schlagersänger Billy Mo und seinen Hit „Tiroler Hut“. Lobend presst er sich den Satz ab, „für einen Neger kann er ja gut singen und ist lustig“. Nachkriegshumor. Über die Lebensbilder deutscher Schlager lachen die meisten Jugendlichen. Meine Freunde und ich schwärmen für die frühen Hits der BEATLES und ROLLING STONES. Doch wir erkennen sie nicht als Boten der Zeitenwende, die am nächsten Morgen wie ein Orkan über uns hereinbrechen wird. Es ist der Vorabend des Aufruhrs.


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Coming next:

Mehr übers Interconti
Heiligabend auf dem Crosstrainer
Die Kriegslehrer
Die Swinging Sixties

Tune in - merry xmas

Der Clip zum Buch

 
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gruenmann

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04.02.2012
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Wenn Du keine Lust auf das weihnachtliche Tamtam hast komm doch einfach in den Wedding, hier ist nichts geschmückt und ich habe erst eben mit Schrecken erfahren das heute der 24. ist als ich auf mein Handy geschaut habe. Nur die Kiddies welche hier alle 5 Minuten Böller mit der Wucht von 13 Hiroshimabomben loslassen nerven eventuell ein bisschen beim schreiben :)
 

concordeuser

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01.11.2011
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Tripreport TEIL 14

Früh aufgestanden. Sonnenaufgang in berlin

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Mein Lieblingshotel

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Ich habe Zeit für mich, was für ein Privileg.

Vielleicht sollte ich für heute Abend drei Mädels bestellen, damit sie auf dem großen Konferenztisch tanzen, aber ich bin nicht Friedman. Das ist nicht mein Stil.

Die Kriegslehrer sind mir heute zu düster, lieber ein wenig Aufruhr

Manuskript 10

Alles begann im Radio. Täglich hörten wir den BFBS, den Sender der britischen Soldaten in Deutschland. Zuerst heimlich, später offen. Dort spielten sie Beatmusik, die englische Hitparade rauf und runter. Die Musiker hatten lange Haare und schräge Outfits. Eltern und Lehrer waren entsetzt. Es waren Klänge, wie die Welt sie noch nicht gehört hatte. Die Musik war laut und fröhlich, schmutzig und rebellisch. Tag und Nacht hörten wir die BEATLES und ROLLING STONES, die WHO, SMALL FACES, HOLLIS, KINKS und TROGGS, ANIMALS, PRETTY THINGS und Dave Dee. Und unzählige andere. Beatmusik erweckte uns zum Leben. Mit jedem neuen Song stieg die Entfremdung zu den Erwachsenen. In der Musik entdeckten wir die Welt außerhalb Deutschlands.

Wie über Nacht kommt der Sommer, der nie hätte zu Ende gehen sollen. Fenster und Türen gehen weit auf und endlich strömen Sonnenlicht und frische Luft hinein. Menschen lächeln. Durch Deutschland weht ein kräftiger Wind von Aufbruch und Freiheit, der alles verändert. Uns erwarten die aufregendsten Jahre des Zwanzigsten Jahrhunderts, die Swinging Sixties. Wie ein ansteckender Virus verbreiten sich Wandel und Veränderung. Der deutsche Gestank beginnt zu weichen. Für Heranwachsende ist es eine großartige Zeit.

Schnell entwickelt sich die fröhliche Beatmusik von 1962 und 1963 zu Rebellion und Aufruhr der Jahre 1967 und 1968. Hits der BEATLES verkünden nicht mehr züchtig „I want to hold your hand“ oder „She loves you“, sondern „Why don’t we do it in the road“. Statt der Klage über vergangene Liebe „Last time“ spielen die ROLLING STONES nun „2000 light years from home“ und „Street fighting men“. Viele Songs verbreiteten Protest und Träume einer besseren Welt. Die Musik der Jugend wandelte sich zur beißenden Kritik an gesellschaftlichen Verhältnissen.

Unvorstellbar schnell entwickelte sich eine alles umfassende Jugendkultur, die das ganze Land veränderte. Beatmusik war der elektrisierende Soundtrack der Befreiung. In ihr fanden wir uns wieder. Ich fühlte mich verstanden und angekommen. Das neue Lebensgefühl war mit den Händen zu greifen. Täglich wurde der Graben zwischen den Kriegsgenerationen und ihren Kindern größer. Köpfe und Körper begannen sich gegen die erstarrten Verhältnisse aufzulehnen, die uns so lange gedrückt hatten. Noch nie vermutlich hat sich ein so großer Teil einer Generation so schnell und konsequent von Werten, Verhaltensweisen und Kultur ihrer Eltern abgewandt wie wir. Große Teile der Jugend fühlten distanziert, zornig und rebellisch. Am liebsten hätten wir die Erwachsenen für immer verjagt.

Leicht konnten wir die beschädigte Generation unserer Eltern verunsichern: Lebendigkeit, freche Worte, laute Musik, lange Haare, kurze Röcke, ungebührliches Verhalten, Anfassen und Küssen in der Öffentlichkeit, ein dahingeworfenes Zitat des chinesischen Führers Mao oder bunte Kleidung. Schrie einer meiner Mitschüler im Unterricht aus heiterem Himmel „Mao die Leuchtsonne“, so war unser Klassenlehrer für Minuten gelähmt. Schnell lebte die Jugend nach eigenen Regeln und Werten, als wären die Erwachsenen in die nächste Galaxie verbannt. Die Alten saßen hinter einem unüberwindbaren Graben und verstanden die Welt ihrer Kinder nicht mehr. Besonders sichtbar wurde der gesellschaftliche Umbruch an den Röcken der Mädchen und der Haarlänge bei Jungen. Während die ersten Langhaarigen noch schikaniert und aus Ausbildungsverhältnissen geworfen wurden, waren längere Haare bei Jungen und Miniröcke bei Mädchen innerhalb weniger Monate zum Massenphänomen geworden. Es waren Symptome und Ausdruck der neuen Zeit. In fast allen Familien gab es erbitterte Auseinandersetzungen um Kleidung, um Frisuren und Friseurbesuche der Söhne. Ich erinnere stundenlanges Geschrei mit meinem Vater, endlose brutale und verletzende Streitereien um meine Kleidung und meine Haare. Warum mussten sie über den Ohren rasiert werden? Warum sollte der Nacken frei sein? Wer hatte das zu bestimmen und warum? Sah das nicht aus wie bei Hitler?

Eines Tages gab es auf dem Schulhof einen ersten Schüler mit langen Haaren. Wie ein Fabelwesen vom Mars wurde er bestaunt und bewundert. Er war der Großen und stand kurz vor dem Abitur. Ungläubig und nur flüsternd wurde von ihm erzählt, seine Zensuren seien so gut, dass die Schulleitung ihn nicht hinauswerfen könne. Nur wenige Monate später stellten Schüler mit längeren Haaren die Mehrheit. Viele Lehrer hätten es gerne verhindert, doch sie konnten sich nicht mehr durchsetzen. Der Sturm der Veränderung tobte zu heftig.

Anfangs wurden die gesellschaftlichen Veränderungen erbittert bekämpft. Volkes Stimme forderte, alle Langhaarigen, Gammler und Mädchen, die zur Verhütung die Pille nehmen, in Lager einzusperren, so als hätte es nie Konzentrationslager in Deutschland gegeben. Wie in Hitlers Kampfblatt „Der Stürmer“ pöbelten die Massenmedien gegen den sittlichen Verfall, voran die Zeitung mit den vier Buchstaben. Fördern lange Haare den Kommunismus? Schwächen lange Haare den Wehrwillen? Nutzt laute Musik den Russen? Darf man sich in der Öffentlichkeit küssen? Zerstören kurze Röcke die Kultur? Ist die sittliche Ordnung gefährdet? Wie konnte eine Gesellschaft solche Fragen stellen, die über Konzentrationslager und Kriegsverbrechen schwieg? War Auschwitz sittlich? Es war auch egal, die alte Zeit war unwiderruflich abgelaufen. Das Geschrei der Erwachsenen und ihr Orkan der Empörung waren nur Rückzugsgefechte einer untergehenden Ordnung.
 
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Manuskript 11

Für unsere Väter, die das autoritäre Sagen in den Familien hatten, waren die Frisuren ihrer Söhne gleichbedeutend mit Unordnung, Schmutz und Ungehorsam. Jungen mit langen Haaren waren Sturmangriffe auf diejenigen deutschen Werte und Tugenden, die das „Dritte Reich“ ermöglicht hatten. Der Geist des Nationalsozialismus war ja nach 1945 nicht aufgearbeitet oder verschwunden, sondern hatte sich nur versteckt. Wir zogen den Erwachsenen die Stühle unter dem Hintern weg. Unsere Haare und unser Verhalten zerstörten die kümmerlichen Reste von Autorität und Selbstwert der Vätergeneration. Als Hitlers Verlierer besaßen sie ohnehin oft nur ein schwaches und maskenhaftes Ego. Mit den äußerlichen Veränderungen ihrer Kinder entglitt ihnen die Autorität über ihre Söhne und Töchter. Wie schon bei der Niederlage von 1945 wurde das Weltbild der Erwachsenen 1967 und 1968 erneut in Trümmer zerschlagen, diesmal von ihren eigenen Kindern.


Der Aufruhr der Jugend war nicht auf Deutschland beschränkt. Wir fühlten uns als Teil einer globalen Bewegung. Große Teile der Welt erlebten eine Kulturrevolution, von Berlin bis Berkeley, von Prag nach Paris. Während in Amerika Rassentrennung und der eskalierende Vietnam-Krieg den sozialen Wandel anheizten, befeuerte in Deutschland die Verdrängung von Krieg und Nazi-Verbrechen die gesellschaftliche Entwicklung. Dazu wurde das Land von einem Nazi-Bundeskanzler regiert. Die politischen Verhältnisse Deutschlands waren in einer großen Koalition zur Salzsäule erstarrt. Auch wenn es uns Heranwachsenden nicht bewusst war, viele unserer Verhaltensweisen sollten für Jahre und Jahrzehnte eine Reaktion auf die Taten unserer Eltern und ihre gesellschaftliche Verdrängung sein.

In den Jahren 1962 bis 1966 drückte sich unsere Abgrenzung von Eltern und Vaterland zunächst in kulturellen Erscheinungen wie Beat-Musik, bunter Kleidung, Miniröcken, langen Haaren und provozierendem Verhalten aus, später dann sollten Teile der Jugend auf den Straßen demonstrieren, die Autorität der Erwachsenen bekämpfen, von der Revolution träumen und sich zum Terrorismus der Rote Armee Fraktion entwickeln.

Die wachsende Bedeutung angelsächsischer Kultur und die neue Beat-Musik wirkten wie Brandbeschleuniger für Wertewandel und Demokratisierung. Je lauter, härter und schneller der Beat erklang, je weniger Erwachsene uns Jugendliche verstanden, je tiefer der Graben zwischen den Generationen wurde, desto höher loderten die Flammen. Auch wenn es uns so vorkam, die gesellschaftlichen Veränderungen kamen nicht über Nacht und fielen nicht vom Himmel, nicht in Deutschland und nicht im Rest der Welt. Rückblickend lassen sich viele Vorboten finden. Besonders in der Kultur Amerikas. Nur davon konnten heranwachsende Jungen wie ich noch nichts wissen, die in Deutschland lebten, in Schulen wie in meinem Gymnasium eingesperrt waren und von Kriegslehrern bewacht wurden.

Die deutsche Nachkriegsgesellschaft war keineswegs so geordnet, sittsam und heil wie uns gerne erzählt wurde. In den späten Fünfzigern galten viele Jugendliche als „Halbstarke“. Es waren junge Männer, vorwiegend aus der Unterschicht, die in Jeans, damals noch „Nietenhosen“ genannt und Lederjacken herumliefen. Mit ihrem Erscheinungsbild grenzten sie sich bewusst ab. Beliebt waren Mopeds und Motorräder, mit denen sie sinnlos durch die Gegend fuhren. Halbstarke verbrachten ihre Freizeit häufig im Freien. Sie trafen sich in Gruppen an Straßenecken, in Parks oder auf öffentlichen Plätzen und wirkten aggressiv. Häufig gab es nach Konzerten oder Filmvorführungen heftige Krawalle. Im Dezember 1956 zogen nach einer Vorführung des Films „Außer Rand und Band“ mit Bill Haley rund viertausend Jugendliche randalierend durch die Innenstadt von Dortmund. Sie belästigten Passanten und prügelten sich mit der Polizei. Ihr Verhalten war Massenprotest gegen eine als streng und trostlos empfundene Gesellschaft und ihre Autoritäten.

Hinter den deutschen Sonntagsreden und der verlogenen Oberfläche war der soziale Frieden brüchig. In München explodierte er. Weil eine Gruppe von jugendlichen Straßenmusikanten im Juni 1962 nach 22.30 Uhr noch spielte, riefen ein Stadtrat und einige Anwohner der Leopoldstraße die Polizei, nachdem es ihnen nicht gelungen war, für Ruhe zu sorgen. Bei dem Versuch der Polizei die Gruppe aufzulösen und die Musiker festzunehmen, kam es zu Rangeleien. Die Situation eskalierte. In der Nacht und an den folgenden vier Tagen kam es in der Umgebung der Ludwig-Maximilians-Universität zu Straßenschlachten zwischen 40.000 überwiegend jugendlichen Protestteilnehmern und der Polizei. Zu den letzten Abenden kamen auch Viele aus anderen Städten angereist um mitzutun. Es entstand hoher Sachschaden. Insgesamt wurden mehr als vierhundert Personen festgenommen und einige später zu geringen Geld- oder Freiheitsstrafen verurteilt. Die zahlreichen Anzeigen gegen Polizisten blieben folgenlos.

Schon in den Fünfzigern begann das amerikanische Kino neue Rollenmuster zu vermitteln, die auch nach Deutschland herüberschwappten. In „The Wild One“ spielte Marlon Brando den harten Rebellen, der in Ledermontur auf dem Motorrad sitz und die braven Bürger ärgert. In „Denn sie wissen nicht was sie tun“ verkörperte James Dean einen sanften, verstörten „Rebellen ohne Grund“, am Rande der Psychose. Musikalisch hatte schon Elvis Presley Ende der fünfziger Jahre die Erwachsenen erschreckt, mit Rock’n Roll und Hüftschwung. Anfangs galten seine Auftritte als unzüchtig und wurden als Neger- oder Hottentottenmusik diffamiert. Die weiße Mittelschicht Amerikas hasste und fürchtete ihn. Ein weißer Mann, der laut schreit, dazu öffentlich und unkontrolliert seinen Unterleib zur Musik bewegt, erzeugte Angst. Dazu verbreiteten sich die Musik von Little Richard, Chuck Berry, Bo Diddely und Jerry Lee Lewis. Musiker, die laut sind und ihre Hose herunterlassen. Sie verdrängten das brave „Sing-a-long“ angepasster Teenager, die auf ihre Eltern hören, an das Gute glauben, Gesetz und Anstand achten, Sonntags zur Kirche gehen, sich immer die Hände waschen und sich höchsten auf dem Rücksitz des Autos befummeln. Tell your ma, tell your pa, our love is gonna grow. Haha.

Nichts sollte bleiben wie es war. Sam Cook sang „A Change is gonna come“. In Greenwich Village stromerte Bob Dylan mit seinen Freunden herum und verkündete, die Zeiten würden sich ändern. The times they are a-changing. Schon 1962 hatte er einen anderen Song geschrieben, der zur Hymne der Veränderung wurde, A hard rain’s a-gonna fall. Die Klage über den Sterben im Kalten Krieg, „where black ist the color and none is the number“, die das Bewusstsein von Generationen prägte.

Ähnlich wie Deutschland waren auch England und Frankreich nach dem Krieg konservativ erstarrt und bildeten eine kalte deprimierende Umgebung für Heranwachsende. Auch in England kam es Ende der fünfziger Jahre zu sozialen Unruhen. Rivalisierende Jugendbanden der Teds und Mods lieferten sich heftige Krawalle und Schlachten. Zwar gehörte England dank Amerika zu den Siegermächten, aber das Land das sein Empire verloren, war materiell zerstört und gesellschaftlich auseinandergebrochen. Es wirkte arm, grau und trist. Wer als Jugendlicher nicht gerade Eltern aus der Oberschicht oder das seltene Glück einer Mittelschicht-Enklave hatte, lebte in einer perspektivlosen Welt. England war in einer undurchlässigen Klassengesellschaft eingefroren. Jungen Männern blieb meist nur der Weg in eintönige und schlecht bezahlte Jobs oder der Gang in Armee. Dazu das abendliche Besäufnis. Cheers Paddy. Alles sah unendlich trostlos aus. THE WHO pressten diese Realität in Worte für die Ewigkeit. „Things they do look awful cold, I hope I die before I get old, talking of my generation“. Megahit des Jahres 1965.

Doch das Aufbegehren von Teilen der Jugend in den Fünfzigern und frühen Sechzigern war nur ein kleiner Anfang, nur ein laues Lüftchen, gemessen an den Veränderungen der Swinging Sixties. Anfang der Sechziger begannen unzählige junge Männer in England, die Musik ihrer amerikanischen Vorbilder aus Rhythm & Blues und Rock Roll nachzuspielen. Pete Townsend, Eric Burdon, Reg Presley, Ray und Dave Davis, Eric Patrick Clapton, John Lennon oder Michael Phillip Jagger hießen einige von ihnen. Sie spielten in Bands, machten musikalische Karrieren und waren Taktgeber der Revolte. Angeführt vom Sound der britischen Beatmusik fegte der Orkan einer jugendlichen Kulturrevolution um den Globus, ergänzt durch die Kultur und Kleidung der Londoner Carnaby Street, die Mode von Mary Quant und Stilikonen wie Twiggy.

Anfangs klangen die großen Hits der BEATLES und ROLLING STONES noch romantisch, „I want to hold your hand“, dann ging es zur direkter Sache, „Uh I need your love babe, eight Days a Week“. Meine Eltern schenkten mir einen billigen Plattenspieler und ich kaufte meine erste Schallplatte. „Last Time“ von den ROLLING STONES. Wenige Wochen später erschien ihr Megahit „I Can‘t get no Satisfaction“. Es ging nicht um Mick Jaggers Orgasmus, wie viele Erwachsene glaubten, die STONES schrien heraus, wie langweilig, unbefriedigend und beschissen die Lebensverhältnisse für Jugendliche waren. Abend für Abend hämmerten THE WHO im Stakkato in den Clubs ihr „My Generation“. Wenn Keith Moon am Ende der Shows sein Schlagzeug umwarf und Pete Townsend seine Gitarren zerschlug, tobte die Wut über den Zustand der Welt. „I hope I die before I get old“, treffender konnten die Verhältnisse der Nachkriegsjahre nicht beschrieben werden. Zuviel hatte sich aufgestaut. Weltweit heulte der Geist der Befreiung, er tobte und zerrte an den Ketten seiner Gefangenschaft.

Betrachte ich Videos von Konzerten der TROGGS aus dem Jahr 1964 auf Youtube, fange ich an zu verstehen, was ich mit vierzehn nicht begriff und mich auch nie getraut hätte auszusprechen. Es war Sex, purer Sex, der intensivste dem ich je zugesehen habe. Wenn die Band ihr „Wild Thing“ rausrotze, standen vor dem Sänger dichtgedrängt kreischende und zuckende Mädchen mit feuchten Höschen. „Wild Thing, you make my heart ring“, der Song erzählte von einem Mädchen, das vor der Bühne stand. Ihre rote Hüfthose hing so tief hing, dass der Sänger ihre Haare sah. Nach dem Konzert trieben sie es im Auto.

Nur ahnungslose Erwachsene konnten fragen, warum beim ROLLING STONES Konzert in Berlin 1965 zwanzigtausend Jugendliche die Waldbühne in Trümmern schlugen und der Polizei eine stundenlange Schlacht lieferten. Es erzeugte die so lange vermissten Gefühle von Leben und Lebendigkeit. Die Mehrheit der Jugendlichen hatte die Nase von der Welt der Erwachsenen voll.

Unzählige Songs explodierten in jugendlichen Köpfen wie Bomben, unzählige Liedtexte waren Manifeste der Rebellion, die Ungehorsam gegen das Bestehende verkündeten. Bob Dylan sagte in einem Interview, lange vor Patriots Act und dem Konzentrationslager Guantanamo, „wenn ich dir erzähle wovon der Song handelt, stecken sie uns beide ins Gefängnis“. Musik der Jugend war Anstiftung zum Aufruhr. „It’s my life and we do what we want, It’s my head and I think what I want“ (Eric Burdon). Gesellschaftskritik und Freiheitsträume kamen als Rock’n Roll aus den Lautsprechern. „The time is right for fighting in the streets“ verkündeten die ROLLING STONES. Songs waren eine mächtige Waffe, die uns half, erwachsen zu werden. Sie vermittelten Sinn und Ideale, stellten Fragen und gaben Antworten, die unsere Eltern nicht hatten. Ohne meine täglichen Songs von Bob Dylan hätte ich mich in der Schule erhängt. Seine Musik und seine Worte haben mich am Leben erhalten. Millionfach habe ich diese Worte gehört, Oh, where have you been, my blue-eyed son? And where have you been my darling young one? Where hunger is ugly, and souls are forgotten. An anderen Tagen retten mich Songs und Stimme von Joan Baez, der heiligen Johanna der Revolution, vor dem Fall in die Tiefe. We shall be alright. We are are not afraid. We shall live in Peace. Some day. Teile meines Bewusstseins lebten in einer Parallelwelt.

Wie viele Wege muss man gehen, bis man ein Mann wird? Wie lange wird es dauern, bis wir frei werden? Wie viele Tote sind erforderlich, bis wir einsehen, dass schon zu viele gestorben sind? Wie wird es als Erwachsener sein, ohne Eltern, to be all alone, to be on your own, to be complete unknown, to be like rolling stone.

- - -

Genug für heute - Fortsetzung folgt
 
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Manuskript 12


Das Thema „Vater“ war nach seinem Tod für mich erledigt. Perfekt funktionierte meine Verdrängung. Jahrzehntelang. Nie hätte ich gedacht, mich noch einmal für Karls Wehrmachtszeit zu interessieren. Der Anlass hierfür ergab sich zufällig. Die Werkstatt der Geschichte bat mich um ein Interview zur Jugendrevolte in den späten sechziger Jahren. Aber statt nach Rolling Stones, Mao-Bibeln, Miniröcken oder der Weltrevolution zu fragen, wollte meine Gesprächspartnerin anfangs wissen, „was hat Ihr Vater im Krieg getan?“ Meine Antwort kam schnell und spontan. „Er hat mit der Stadtauswahl Brüssels gegen Paris Fußball gespielt“. Diese Worte wurden zum Beginn eines langen Gesprächs. Danach entwickelte sich meine Neugierde.

Das Interview mit der Werkstatt der Geschichte hat mich dazu gebracht, sehr viel tiefer meine Familie und die Zeitgeschichte meines Lebens zu betrachten als ich es je getan hatte. Gleichzeitig hat es mir möglich, herauszutreten und alles aus der Distanz wahrzunehmen. Es war spannend.
 

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Es geht voran

Manuskript 13


1945 ging der Krieg militärisch zu Ende. Aber es gab keinen Friedensvertrag und keinen Frieden. Aus den militärisch besetzten Zonen entstanden Westdeutschland und Ostdeutschland, die Bundesrepublik und die DDR, abhängige „Operettenstaaten“ ihrer großen Brüder. Für Jahrzehnte unterstanden beide Länder den Besatzungstruppen, von der jeweiligen Propaganda „Verbündete“, „Freunde“ oder „Beschützer“ genannt. In der DDR versuchten sie eine sozialistische Demokratie aufzubauen, im Westen eine kapitalistische Demokratie. Im Osten wie Westen war der „Freund“ des einen der „Feind“ des anderen. Ich lebte in der alten Bundesrepublik, im „freien Westen“.

Nach kurzer Zeit standen sich die USA und Sowjetunion im Kalten Krieg gegenüber. Europa war ihr zentrales Schlachtfeld. Beide Supermächte strebten die Weltherrschaft an und wollten ihr besetztes Terrain behalten. Jede Seite bedrohte die andere mit Atombomben. A push on the button, there’s no running away, two day’s in space and the world is the same old place. Eve of destruction. In beiden deutschen Staaten waren Politiker hörige Vasallen ihrer großen Brüder, ohne wirklichen Einfluss, Gefangene in der Logik des Kalten Krieges. In Westdeutschland erklärten sie der Bevölkerung, dass die Atombomben des Sozialismus „böse“ seien und die der Freiheit „gut“. Sie würden uns ja verteidigen. Drüben, in der Zone, erzählten sie es den Menschen genau so, nur umgekehrt. Propaganda und Bullshit. Die Mehrzahl der Atombomben war auf Europa gerichtet. Einmal gezündet hätten sie getötet, bevorzugt Deutsche. Schnell wurde in beiden Teilen Deutschlands wieder eine Armee aufgebaut, schnell war vergessen, dass es nie wieder deutsche Soldaten geben sollte, dass nie wieder Krieg von deutschem Boden ausgehen sollte.

Unsere Wirtschaftsordnung nannte sich „soziale Marktwirtschaft“, um herauszustellen, dass jeder eine Chance auf materiellen Erfolg hätte, dass es gerecht zuginge, und keiner ins Bodenlose fallen konnte. Rückblickend war es „Kuschelkapitalismus“, nicht wie heute, ohne Working Poor, ohne Arbeits- oder Wohnungslose und Armutsbettler. Ohne Uringestank an den Bahnhöfen. Die Raubtiere sollten erst später von der Kette gelassen werden, wenn die Beute fett ist.

In Geschichtsbüchern wird das militärische Kriegsende oft als „Stunde Null“ bezeichnet, so als hätte es einen großen Neuanfang gegeben. Tatsächlich begann das Leben aber nicht neu, sondern ging weiter, am Tag der Kapitulation und am Morgen danach. Die Menschen, ihre Familien, die psychischen, sozialen und politischen Strukturen deutscher Gesellschaft waren dieselben, die den nationalsozialistischen Staat getragen hatten. Hitler war tot und in Nürnberg wurde seine führende Clique, bis auf Albert Speer, konsequent zum Tode verurteilt. Dem Unrecht wurde der Kopf abgeschlagen. Viel mehr ist nicht passiert. Die deutschen Charakterzüge und Tugenden, die Hitler ermöglicht hatten, lebten weiter. Zwar begannen nach den Prozessen der Siegermächte auch die Behörden der neu gegründeten Bundesrepublik damit, einzelne Täter abzuurteilen, doch nach den Amnestiegesetzen von 1949 und 1954 erlahmte das Bemühen um Gerechtigkeit schnell wieder. Wie sollte ausgerechnet das Justizwesen, wo sich unzählige ehemalige Nazis tummelten, an einer breiten Aufklärung Interesse haben? Nichts getan, nichts gewusst, nur gehorcht. Die alte Leier. Besonders das Straffreiheitsgesetz von 1954 erlaubte es, Verbrecher der nationalsozialistischen Zeit mit großer Nachsicht zu behandeln wenn Betroffene als „minder belastet“ galten. Die deutsche Justiz vertrat die Sichtweise, dass vor allem die Haupttäter Himmler, Speer, Göring und eine Handvoll anderer verantwortlich waren. Die anderen galten mehr oder weniger als „Gehilfen“ und wurden mit großer Milde betrachtet. Schon die Bezeichnung „Straffreiheitsgesetz“ war eine Verhöhnung der Opfer.
 
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concordeuser

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Manuskript 14


Auf verhängnisvolle Weise ermöglichten diese Gesetze unzähligen Tätern den Zugang zum öffentlichen Dienst. Wie Ratten einer Pest bringenden Plage, machten sich im neuen Staat, in Amt und Würden, an den Schaltstellen von Politik, Verwaltung und Wirtschaft Hitlers willige Helfer wieder breit, so als wäre nichts gewesen. Viele Politiker, Beamte und Diplomaten der neuen Bundesrepublik hatten vorher ihrem „Führer“ freiwillig und loyal gedient, oft mit großem Eifer, oft in höheren Positionen. Nun waren sie überzeugte Demokraten. Nach kurzer Zeit gab unendlich Viele in Politik, Justiz, Polizei, Militär und Geheimdienst, die nach 1945 weitermachten wie vor 1945. Später sollte ein Mitglied der SS sogar Arbeitgeberpräsident werden können.

Anfang der fünfziger Jahre arbeitete der Staatssekretär Hans Globke als Leiter des Bundeskanzleramts der Regierung. Im nationalsozialistischen Staat war er einer der zentralen Förderer von Rassenwahn und Judenvernichtung. Als Verwaltungsjurist und überzeugter Anhänger Hitlers hatte Globke die Nürnberger Rassengesetze entworfen und an entscheidender Position umgesetzt. Anstatt einer drastischen Strafe und Wiedergutmachung zugeführt zu werden, bekleidete er ein hohes Regierungsamt. Seine Person ist das abschreckende Beispiel der Kontinuität nach 1945. Kein Rückblick auf die Nachkriegszeit kommt an ihm vorbei.

Eine besonders fragwürdige Vergangenheit besaß der ehemalige baden-württembergische Ministerpräsident Hans Filbinger, der Mordrichter der letzten Kriegstage. Mit der Mitgliedsnummer 117 war er einer der Gründungsväter der NSDAP in Baden. Noch wenige Tage vor Kriegsende hat er militärischen Ungehorsam und Deserteure zum Tode verurteilt. Die ihm zugeschriebene Entschuldigung, „was damals Recht war kann heute nicht unrecht sein“, zeugt von fehlender Einsicht und schlechtem Charakter. Nachdem seine Vergangenheit öffentlich diskutiert wurde und er wegen seiner Nazivergangenheit endlich zurücktreten musste, überschritten seine Äußerungen immer stärker die Grenzen zur Psychopathologie. Filbinger war krank im Kopf. Er gehörte zu den Pestbeulen der Nachkriegszeit.

Ein anderer herausragender Nachkriegspolitiker mit Nazivergangenheit war Kurt Georg Kiesinger, der verdrängte und vergessene Nazi-Bundeskanzler der sechziger Jahre. In seiner Biografie erfährt man, dass er schon 1933 der nationalsozialistischen Partei beigetreten ist. Der Zeitpunkt spricht für Überzeugung. Nach Kriegsende wurde er von 1945 bis 1946 achtzehn Monate im Lager Ludwigsburg inhaftiert. Ob wegen seiner Tätigkeit im Auswärtigen Amt als stellvertretender Leiter der rundfunkpolitischen Abteilung, die für die antijüdische Beeinflussung ausländischer Rundfunkanstalten verantwortlich war, oder einer Denunziation konnte nie aufgeklärt werden. Was mag in Kiesingers Kopf vor sich gegangen sein? Warum hat er nie über seine persönliche Schuld gesprochen? Wie konnte er morgens in den Spiegel sehen und dann die Bundesrepublik vertreten? Herrschten in Teilen seines Gehirns Leugnung und Verdrängung oder war ein übler, kalkulierender Lügner? Konnte er sich eingestehen, dass er zu den Nazis gehörte? Glaubte er selbst, was er über seine NS-Vergangenheit erzählte? Einsicht und Selbstkritik waren nicht seine Wesensmerkmale. Wegen seiner braunen Jahre hätte er das Amt des Bundeskanzlers besser nicht übernommen. Selbst als Kiesinger im November 1868 während eines CDU-Parteitags von der Jüdin Beate Klarsfeld für seine nationalsozialistische Vergangenheit geohrfeigt wurde, setzte keine Selbstreflexion ein.

Der ehemalige Bundeskanzler Helmut Schmidt, Minister der Regierung Kiesinger, für viele der herausragende Politiker der Nachkriegszeit, hat in einem Interview bedauert, dass man mit „ehemaligen Nazis zu milde umgegangen ist“. Offenbar zielte er auch auf den Nazi-Bundeskanzler. Ich liebe den Alten.
 

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01.11.2011
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Manuskript 15


Die Jahre in der Wehrmacht hatten Persönlichkeit, Charakter und Sozialverhalten meines Vaters derart deformiert, dass nur noch Trümmer und Karikaturen eines Menschen übrig waren. Besonders seine Sprache hat den Soldaten offenbart. Niemand weiß das besser als ich. Wenn er gesprochen hat, klang es dominant und aggressiv, beleidigend und herabsetzend, nicht nur in seinen Wut- und Tobsuchtsanfällen. Er war der König der Fäkalsprache. War ihm meine Mutter im Weg, so schrie er, „nimm die Kackstelzen weg“. Tod war für ihn „verrecken am Straßenrand“. Der Schmutzschriftsteller Charles Bukowski hätte ihn geliebt. Täglich kotzte mein Vater seine Sicht der Welt auf den Tisch und breitete seine Vorurteile aus, über Flüchtlinge, unseren Stadtteil und unser armseliges Leben. Kein Tag verging, ohne dass Aggressionen aus seinem Mund spuckten, derb und hässlich, oft in epischer Breite. Nichts auf der Welt war so, wie er sich das vorstellte. Seine Familie, die Bundesrepublik, die Demokratie, eigentlich hat er alles gehasst. Nähe zu Menschen gelang ihm nicht mehr.

Mein Vater funktionierte wie eine zu tiefst gespaltene Persönlichkeit. Er bezog Identität und Selbstbewusstsein nicht aus der Gegenwart seiner Nachkriegsrealität, sondern Teile seines Unbewussten hielten sich in glücklicheren Lebenszeiten in Brüssel auf, in seinen Tagen als Unteroffizier, in seinem Leben mit Yvonne. Daran gemessen konnten der Alltag unserer Familie und Nachkriegsdeutschland nicht mithalten. Wir konnten ihm nicht das Gefühl von „Gott in Frankreich“ geben. Karl musste verbergen, dass er lieber ein anderes Leben geführt hätte. Lebenslang lief die Realität seinen Wünschen und Erwartungen hinterher und sollte sie nie erreichen. Karl war psychisch defekt. Diffus und unbestimmbar führte er einen aussichtslosen Kampf gegen sich selbst, den er nicht gewinnen konnte. Eigentlich hat er zweimal verloren, den Zweiten Weltkrieg und die Nachkriegszeit.
 

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Tripreport TEIL 15

Es ist mir jetzt gelungen, von meinem iphone

www.live365.com Bob Dylan radio

auf die Anlage in meiner Suite zu streamen, passend zu den Kapiteln, die ich heute in Angriff nehmen werde. Mir geht es immer noch gut, ich habe Zeit für mich, dazu Sport und die Arbeit am Manuskript.


Noch ein wenig fertiger Text

Manuskript 16


Aus Sicht der Herrschenden hat mein Vater seine Aufgaben in der Wehrmacht hervorragend erfüllt. Er hat an das Dritte Reich geglaubt und war ein perfekt funktionierender und loyaler Teil der nationalsozialistischen Machtmaschine. Dafür wurde er gut belohnt. Schnell machte er militärische Karriere und fand sein privates Glück mit einer schönen Frau. Je mehr ich zum Kriegsgeschehen an der Westfront recherchiere, um so klarer kann ich erkennen, wie unverschämt gut deutsche Besatzer wie mein Vater nach Beendigung der Kampfhandlungen mit Wein, Weib und Gesang gelebt haben.

Will ich die Kriegsjahre meines Vaters einordnen, so gehörte er nicht zu dem oberen gesellschaftlichen Drittel, nicht zu den Globkes, Kiesingers oder Filbingers, die den nationalsozialistischen Staat getragen hatten. Mein Vater war nur Soldat, einer der kleineren Täter. Er entsprach auch nicht dem Zerrbild amerikanischer Kinofilme, denn er war kein hackenschlagender, Monokel tragender Trottel, wie Wehrmachtsangehörige gerne in Hollywood-Filmen dargestellt wurden. Er war normal, deutsch, Nazi, überzeugter Soldat eines brutalen Unrechtsstaats. Dafür mache ich ihm keinen Vorwurf, ich möchte nur sein Leben verstehen. Mein Vater hat im Krieg getan, was er eben getan hat. Er ist mein biologischer Ursprung. Ich verdanke ihm meine Gene und das Überleben der Kindheit. Er hat mich geprägt, im Guten wie im Bösen. Lebensgeschichten von Kriegs- und Nachkriegskindern sind immer konkret und persönlich so wie in meiner Familie.

Unser Stadtteil gehörte zu den ärmeren Gegenden Hamburgs. Paradise City sieht anders aus. In der öffentlichen Wahrnehmung vergessen, für die meisten Hamburger eine Ungegend. Schon in meiner Kindheit wurden einzelne Straßenzüge von Banden beherrscht. Als Kind habe ich Armut und Trostlosigkeit unseres Stadtteils nicht so deutlich wahrgenommen. Ich kannte es nicht anders und sollte Vergleichsmöglichkeiten erst später kennenlernen.
 
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TRIP IM TRIP


Hinter der Zonengrenze gab es noch den anderen deutschen Staat, der sich auch demokratisch nannte. Immer wieder wurde uns erzählt, die dort drüben behaupten nur, sie seien demokratisch, wir aber sind die wahre Demokratie, fast so wie bei Heino und dem Wahren Heino. Doch die Welt ist selten schwarz oder weiß. Durch unsere Verwandtenbesuche habe ich das „Land Drüben“ gut kennengelernt.

Viel Spaß haben mir die regelmäßigen Besuche bei der Familie meines Onkels gebracht. Er als kleiner Junge nach dem Krieg bei seinen Pflegeeltern geblieben und lebte in Sachsen, in dem Land ohne Westkaffee, Apfelsinen und Bananen, im anderen Deutschland. Fast jeden Sommer haben wir mehrere Wochen dort verbracht.

Für mich waren die endlos langen Fahrten in den Interzonenzügen anstrengend. Manchmal mussten wir stundenlang in überfüllten Waggons stehen. Für mich war die Zone ein unverständliches Land. An der Grenze gab es jedes Mal schikanöse Kontrollen, von den DDR-Soldaten und Grenzorganen geradezu zelebriert. Alle Reisenden mussten aus dem Zug steigen, wurden herumgeschubst und standen endlos auf dem Bahnsteig. Erst nach langwierigen Kontrollen der Waggons mit Hunden und großen Spiegeln durften wir wieder einsteigen. Irgendwann, nach endlos langer Zeit, ging die Fahrt weiter. Angekommen sprachen die Erwachsenen immer mit gedämpfter Stimme. Innerhalb von 24 Stunden musste sich meine Mutter bei der örtlichen Volkspolizei anmelden. Dazu wurde unser Besuch in das Buch der Hausgemeinschaft eingetragen.

Für mich aus dem Westen waren das unverständliche Vorgänge. Eigentlich war in Kinderaugen die ganze DDR seltsam und fremd. Überall hingen Schilder, die ich nicht verstand: „Dies ist ein fortschrittlicher Betrieb“, „Der Sozialismus wird siegen“ oder “Hier arbeitet ein tüchtiges Kollektiv“. Die Betriebe nannten sich VEB und gehörten dem Volk, aber so glücklich sah das alles nicht aus. Jedes Mal schleppten wir für riesige Gepäckmengen mit, die üblichen Mitbringsel aus Bananen, Apfelsinen, Waschmittel, Kakao und Kaffee, diejenigen Dinge, die es Drüben nicht gab. Es waren die klassischen Verwandtenbesuche im geteilten Deutschland.
 

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Another day in paradise

Wie angekündigt ein wenig zu den Kriegslehrern

Manuskript 17

Ich verstand zunächst gar nicht, wozu der Schulwechsel gut sein sollte, noch ahnte ich, was mich erwartete. Schnell wurde das Gymnasium zu einem bizarren und furchtbaren Ort. Die Atmosphäre von Angst und Schrecken erinnere ich noch gut. Selbstgefälligkeit, autoritäres Verhalten und Sadismus waren mit den Händen zu greifen. Ein eigenartiger Gestank durchströmte die Räume, eine Mischung aus Bohnerwachs und Angstschweiß. Die ersten Jahre am Gymnasium wurden zum Albtraum meines Lebens.

Fast alle Lehrer waren vom autoritären Menschenbild des Dritten Reiches bestimmt. Zwar äußerte sich keiner offen nationalsozialistisch, doch die Vergangenheit hatten sie weder verstanden noch bewältigt. Einige Mitschüler bezeichnen unser Gymnasium heute als ein „braunes Rattenloch“. Doch für mich waren unsere Lehrer keine nationalsozialistischen Bestien, die sich nach 1945 noch austoben wollten, wie es sie in der Nachkriegszeit auch noch gab. Keiner feierte Hitlers Geburtstag, hisste die Reichskriegsfahne oder gehörte zu den verdrehten Psychopathen, die nachts im Garten standen und in Stiefeln nackt den Führer grüßten. Sprachliche oder weltanschauliche Missgriffe waren selten. Sie passierten eher unabsichtlich oder unbewusst, in unbedachter Wortwahl etwa. Kein Lehrer trauerte offen dem Dritten Reich hinterher oder bekannte sich zur nationalsozialistischen Ideologie. Eigentlich war sie wie meine Eltern, armselige Teufel, psychisch und sozial traumatisierte Kriegsversehrte. Wir Kinder konnten spüren, dass sie tief verstrickt waren, gefangen in dem, was sie erlebt hatten, jeden Tag wieder.

Mein Klassenkamerad Dieter hat mich dazu gebracht, mich an eine besonders belastende Situation zu erinnern, die mir längst entfallen war. Einmal stand ein Lehrer vor uns, fuchtelte mit den Armen und schrie wie von Sinnen: „Ich erschieß euch, ich erschieß euch, ich erschieß euch alle“, bis seine Lehrerkollegen ihn endlich sanft hinausgeführten. Er war im Krieg war verschüttet gewesen und ihm fehlten mehrere Finger. Ab und zu brachen seine Traumata unkontrollierbar heraus. Noch heute fragt Dieter entgeistert, warum niemand mit uns über dieses Erlebnis geredet hat. Wie sollten wir das verstehen? Dieser Lehrer gehörte zu den Anständigen, er war kein Böser und hat sich sehr für Schüler engagiert. An den Wochenenden veranstaltete er Wandertage für Unterstufenschüler und reiste in den Ferien mit Schülergruppen nach Moskau oder auf die Krim. Ohne ein hohes Maß an Einsicht und Zivilcourage in der damalige Zeit unmöglich. Und trotz seiner seltsamen Vorliebe für kurze Hosen an Schülerbeinen gehörte er nicht zu denjenigen, die uns Jungen anglotzten, betatschten oder sexuell belästigten. In einigen Lehrerköpfen lagen Vernunft und Wahnsinn dicht beieinander.

Besonders unangenehm war ein Erdkundelehrer Schon bevor er das erste Mal unsere Klasse betrat, ging ihm der Ruf des „Menschenschinders“ voraus. Ein Mitschüler bezeichnet ihn noch heute als „das Schwein“. Er war die lebende Verkörperung von Sergeant Waurich, „das Vieh“, aus dem Gedicht von Erich Kästner. Monatelang mussten wir in seinem Unterricht ausgewählte Städtenamen Osteuropas auswendig lernen. Dann wurden wir einzeln nach vorne befohlen und mussten diese Orte wie dressierte Zirkusratten blitzschnell mit dem Finger auf der Landkarte vor der Tafel zeigen. Dazu hörten wir herabsetzende und verachtende Bemerkungen. Seine Rituale galten unserer Demütigung. Er wirkte eiskalt. Wären wir in seinem Unterricht über Stöckchen gesprungen oder in Reih und Glied geschlagen worden, hätte ich mich auch nicht gewundert. Empathie und demokratische Tugenden waren ihm fremd.

Seinen Sadismus hat er perfekt inszeniert, seine Dressur wirkt bis in die Gegenwart. Noch heute könnte man manchen Mitschüler nachts anrufen, und sie würden so wie ich, aus dem Bett springen und diese Orte zeigen können: Workuta, Minsk, Smolensk, Lwow, Rostow, Odessa oder Kiew, die Stationen der Ostfront. Selbstverständlich mussten wir auch Kursk und Charkow zeigen, Orte großer Panzerschlachten gegen die Rote Armee. In diesen Schulstunden funktionierten wir wie dressierte Hunde mit anerzogenen Reflexen.


Vieles an unserem Gymnasium war bizarr. Ein Lehrer hat im Kreise seiner Kollegen erklärt, dass für ihn der Lehrplan von 1938 maßgeblich sei. Diesen hätte er schließlich erlernt. Ich erinnere seine behaarten Hoden, die beim Schwimmunterricht der sechsten Klasse oft zu sehen waren. Selbst wenn er die ausgeleierten Badehosen nur zufällig getragen hat, Schüler der sechsten Klasse sollten vor fremden Hoden verschont werden. Wegen seiner Kriegserzählungen nannten ihn die älteren Jahrgänge „den Russentöter“.
 

SuperConnie

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18.10.2011
5.018
56
Nordpfalz
Organisation und Dauer des Check In der Air Berlin Stockholm waren derart, dass ich noch nie so tief wie heute verstanden habe, wie Einzelne zu Terroristen werden. Immer weniger verstehe ich aber, dass Menschen sich dieses Herumgeschubse in Gattern und diese unwürdigen Proceduren an Airports wehrlos gefallen lassen.

Mir behagt der neue Zugang zur Priority-SiKo A in FRA nicht, das geht irgendwie etwas durcheinander mit den anderen Paxen; oder man kommt nicht rein, wenn die Online-Bordkarte (Beispiel: LG) nicht richtig kodiert ist. (Doch ging es bei meinen letzten Flügen immer noch recht flott.)

Früher bin ich des Öfteren längere Strecken mit der Bahn gereist; Frankfurt - Budapest oder Belgrad, Belgrad - Rom, Bukarest - Triest (meist waren (Teil-)Strecken mit Schlafwagen dabei). So bin ich dieser Tage erstmals eine längere Strecke mit dem TGV hin und zurück gefahren (Ffm - Aix-en-Provence, rd. siebeneinhalb Stunden). Das ist im Grunde doch ein anderes Reisen als die Fliegerei; in der "Première" auch bei 320 km/h in gewisser Hinsicht "beschaulich" und ohne die typischen Airport- Ärgernisse. Vom Oberdeck kann man meist auch über die scheußlichen Lärmschutzwände hinausblicken. Leider gibt es keinen Speisewagen; die wenigen erhältlichen warmen Speisen (Currywurst mit Pommes oder Gemüsepasta) kann man entweder aus und mit Plastik im spartanischen Barwagen verzehren, oder selbst zum Platz mitnehmen. Nicht gerade "Reisekultur", aber wo gibt es die noch? (Ich sehe immer die SBB-Speisewagen der Linie Zürich - Hamburg auf der Rheinstrecke, muss ich mal wieder testen :) Zuhause "Le grand livre du TGV" konsultiert und gestaunt, dass die Doppelstock-TGV doch schon ca. 15 Jahre auf dem Buckel haben.

Negativ: Aix TGV ist ein ätzender "Autobahn-Bahnhof", auf Erreichbarkeit mit dem Auto hin gebaut. (Direkt unter einer vierspurigen Straße). Keine weiteren Bahnanschlüsse; der frz. Fokus auf die Verbindung der Metropolen mittels LGV (lignes à grande vitesse) führt zum langsamen Hinschied regionaler Verbindungen (fuhr am 14.12. im letzten Zug Chalons - Verdun mit :). Der Bahnhof ist kalt (nach außen nicht richtig abgeschlossen, keine richtigen Aufenthaltsräume); dann fährt zu allem Überfluss noch ein Ouigo-Billig-TGV ab (so'n Ding, das ab €10 nur periphere Bahnhöfe wie Marne-la-Vallée-Chessy bedient und wo man für ein extra Gepäckstück zahlt usw.); Check-in eine halbe Std. davor. Man kommt gegen den Strom der zur "Sortie D" strömenden Massen kaum an. Der Zug nach Frankfurt fährt (da mithin ein Gleis wegen dieses Vorgangs blockiert ist) am "falschen" Gleis der Gegenrichtung ab (das wird in Frankreich ja immer erst kurz vorher angekündigt). Also entweder mit Gepäck die vielen Treppen zur Traverse herauf, oder in den kleinen Aufzug (gehen mit Gepäck vielleicht vier Leute rein).

Jedenfalls ist der Zug nicht ganz ausgebucht wie bei der Hinfahrt, nur von Belfort / Montbéliard bis Mannheim teile ich mir die Vierergruppe mit einer Familie. Äußerst löblich die wiederholte - und befolgte - Aufforderung, die Mitreisenden nicht mit Telefonieren zu belästigen, sondern dies ggf. in den Vorräumen zu tun :)

Im Grunde hat mir in Aix bei einer Wartezeit von anderthalb Stunden (nach Busankunft) nur der "Salon Grand Voyageur" gefehlt; aber dort, wo diese existieren, kommt man anscheinend ohnehin nur mit SNCF-Status rein. (Nicht, wie bei der DB, mit 1.-Klasse-Fernfahrschein.)
 
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