tripreport Flucht vor Weihnachten ?

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concordeuser

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01.11.2011
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Werde am Sonnabend mit dem ICE von HAM nach Stockholm fahren (Fähre auf Zug, Öresundbrücke, "die Brücke"), dort einen Kurzvortrag halten, dann am Sonntag nach Berlin fliegen und 5 Tage im IC in Berlin verbringen, um in Ruhe Sport zu machen (meine Mucki-Bude schliesst über Weihnachten). Vor allem will ich dort die Kapitel eines fast fertigen Buchs zu ende zu bringen, sozusagen in Klausur mit mir selbst.

Ich weiß, First nach Stockholm im ICE und SJ 2000 ist nicht Fööörst nach MEL mit EY, aber wenn es jemanden aus dem Forum interessieren sollte, werde ich einige Fotos schießen und Impressionen hier einstellen.
 
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GAT

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27.11.2011
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STR, TYO
Sehr schön, das gefällt mir! Entfliehen wir den Diskussionen um "weise" Weihnachten....

Ich verbringe dieses Jahr die Feiertage im Iran. Und nein, die Anreise ist ohne Flug. Erst im neuen Jahr wird wieder geflogen. Ganz "katholisch" per First und Business in die Slums von Indien.

Und ich bitte um den Bericht! Die Mischung aus Schweden, Sport, ruhiger Weihnacht und Buch schreiben macht neugierig!

Grüße aus der verschneiten Türkei,
GAT
 
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bfk

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19.05.2013
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Ich kann mir zwar nicht vorstellen, dass sich das IC in Berlin Weihnachten verschließen wird, aber einen report sehe ich trotzdem gerne. Zynisch darf er dann bitte auch sein!
 
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Anonym38428

Guest
Werde am Sonnabend mit dem ICE von HAM nach Stockholm fahren (Fähre auf Zug, Öresundbrücke, "die Brücke"), dort einen Kurzvortrag halten, dann am Sonntag nach Berlin fliegen und 5 Tage im IC in Berlin verbringen, um in Ruhe Sport zu machen (meine Mucki-Bude schliesst über Weihnachten). Vor allem will ich dort die Kapitel eines fast fertigen Buchs zu ende zu bringen, sozusagen in Klausur mit mir selbst.

Ich weiß, First nach Stockholm im ICE und SJ 2000 ist nicht Fööörst nach MEL mit EY, aber wenn es jemanden aus dem Forum interessieren sollte, werde ich einige Fotos schießen und Impressionen von der Flucht vor Weihnachten hier einstellen.

Die Bahnfahrt hab ich noch vor mir, von daher wäre ich durchaus an einem Bericht interessiert. Mit dem anderen Thema bin ich zum Glück "durch" :)
 

concordeuser

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01.11.2011
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Tripreport TEIL 1

In die Reiseimpressionen werde ich einige kurze Teile des Manuskripts einfügen, an dem ich (nebenbei) arbeite. Es ist ein Rückblick auf Zeitgeschichte und persönliche Impressionen meines Vaterlands (Bundesrepublik 1949 bis 1989). My point of view.


Manuskript 1

The country I come from is called the free west. Ich bin Deutscher, ein Nachkriegskind, sechs Jahre nach Kriegsende geboren. Der Zeitpunkt hätte schlechter nicht sein können, außer ich wäre ein Kriegskind gewesen. Dann wäre es noch übler gewesen. Unser Land war besiegt, besetzt, geteilt, kein angenehmer Ort. Wir lebten im Mülleimer der Geschichte. Deutsche standen für Nationalsozialismus, Krieg und Konzentrationslager. Für Zerstörung, Not und Armut. Für Schuld und Tristesse. Deutschland eben.

Der Kampf um den nächsten Tag schützte unsere Eltern vor der Vergangenheit und den Löchern in ihren Köpfen. Optimismus und Lebensfreude gab es wenig, dafür um so mehr Zurückhaltung, Ängstlichkeit und Trauer. Die Menschen waren verletzt, distanziert und gefühlsarm, ihr Alltag verlief gedämpft und freudlos. Die Erwachsenen waren Gefangene ihrer Erlebnisse, bewacht von Erinnerungen. Die Mehrzahl war traumatisiert und psychisch beschädigt.


Manuskript 2

Mit Sechzehn hatte ich von der Welt außer einem Flug nach Berlin und Besuchen in der Ostzone noch nichts gesehen . Reisen war in meiner Jugend sehr viel weniger selbstverständlich als heute, schon weil das nötige Geld fehlte. Den Teutonengrill der Adria konnten sich nur diejenigen leisten, die im Wirtschaftswunder schon etwas mehr erreicht hatten, meine Familie also nicht. Erst 1968, dem Jahr der Revolte, habe ich meine erste Auslandsreise gemacht. Nun sollte ich Menschen kennenlernen können, die keine Naziväter hatten, die ohne deutsche Schuld geboren waren. Mit meinem Schulfreund K. bin ich mit der Eisenbahn im Sommer nach Schweden gefahren. Unser Ziel war die Kleinstadt Älmhult, in der Mitte des Landes, zwischen Wäldern und Wasser. Damals ein größeres Dorf, das wir zufällig auf der Landkarte gefunden hatten, weil es einen Bahnhof, eine Jugendherberge und einen großen See gab. Diffus hofften wir auf Freiheit, Abenteuer und schwedische Mädchen. Wir wollten möglichst weit weg sein.

Als in der ersten Nacht am See ein älterer Schwede unsere deutsche Sprache hörte, redete er sofort los. Hitler hätte mit der Judenvernichtung doch völlig recht gehabt. Da war es! Der Stich mit dem Messer ins Unterbewusstsein. Auch wenn er betrunken war, warum wurden wir auf diesen Scheiß angesprochen? Was hatten wir damit zu tun? Ich war gelähmt vor Unbehagen und Hilflosigkeit. Wir wollten Abenteuer erleben, statt besoffenes Gerede vom „Führer“ zu hören. Wir hofften auf freizügige Mädchen, die es in Älmhult nicht gab, nicht für uns. Erst aus den genialen Kriminalromanen von Sjöwall & Wahlöö habe ich begriffen, dass Skandinavien kein Paradies ist und nicht alle Schwedinnen blond und schön sind. Schon gar haben sie darauf gewartet, einem pubertierenden Jungen aus Hamburg seine Träume zu erfüllen. Meine Vorstellungen von Skandinavien und meine Hoffnungen auf freie Luft und Liebe hatten wenig mit der Realität zu tun. Wenn man Deutscher ist, trägt man seine Vergangenheit mit sich herum.

Für fünfzig Kronen kauften wir ein altes Moped und fuhren damit in den schwedischen Wäldern umher. Als der Tank leer war, ließen wir es liegen. Dann bestiegen wir wieder den Zug in Richtung Heimat. Auf dem Rückweg haben wir uns zwei Tage Malmö angesehen. Während K. und ich durch die Gassen streiften, wunderten wir uns, dass Kopenhagener beim Bäcker Wienerbrod genannt wurden, und aufgeregt staunend standen wir vor den Pornoheften am Bahnhofskiosk. Andere Länder konnten offensichtlich ganz anders leben. In unserer letzten Nacht verjagte uns die schwedische Polizei von einer Parkbank, auf der wir im Freien schlafen wollten, und nötigte uns in ein kleines Hotel in der Masterjohannsgatan.

Außer tagelang einem blonden Mädchen nach zu träumen, das wir auf dem Bahnhof von Hässleholm gesehen haben, als sie in den Zug nach Kristianstad stieg, haben wir wenig erlebt. Wir liefen unseren sexuellen Wünschen und dem Mythos von Freiheit hinterher. Make love not war, wir waren noch zu jung. Dafür hatten wir uns aus Deutschland hinausgetraut und Neues gesehen.

Gerne habe ich nie gesagt, aus welchem Land ich komme. Was für ein beschissenes Vaterland, ich gehörte zu den Verlierern. Es dauerte Jahrzehnte, bis ich im Ausland ebenso selbstverständlich aussprechen konnte, „ich bin Deutscher“, wie andere sagen „ich bin Franzose“. Völlig unbefangen bin ich auch heute noch nicht. Wie automatisch spreche ich lieber Englisch als Deutsch. Erst nach Jahrzehnten habe ich begriffen, dass es vielen meiner Generation so erging. Auch sie konnten nicht sagen, ich bin Deutscher, ohne sich befangen, schräg oder mies zu fühlen. Nie war auszuschließen, dass ein Gegenüber abweisend und feindselig reagiert oder er „Heil“ schreit und der rechte Arm zum Hitlergruß herausschießt. Lange Zeit dachte ich wie selbstverständlich, dies sei mein persönliches Problem, mit mir stimmt etwas nicht. Obwohl sechs Jahre nach Kriegsende geboren, habe ich lange Zeit für Nationalsozialismus und Zweiten Weltkrieg ein diffuses Schuldgefühl mit mir herumgetragen. Scham und Last der Elterngeneration hatten mich infiziert, eine Mischung aus undefinierbarer Befangenheit und Minderwertigkeit hatte mich geprägt. Wenn jemand „deutsch“ sagte, ging es mir schlecht. Besonders im Ausland.
 
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concordeuser

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Tripreport Teil 2

Vorab die Planungen

Sonnabend 21.12.13

7:25 HAM - CPH EC 31, an 12:14 inklusive Fährüberquerung der Ostsee, mit dem Zug !!
12:24 CPH - Stockholm central, an 17:39

Das Ticket gab es als special in fööörst, Kosten 89 Euro, all in, da der Franz bei der Bahn bekanntlich gefeuert wurde, ohne Fuel-, Verspätungs-, Begrüßungs-, Gepäck- oder sonstige idiotische Zuschläge. Außerdem kann ich im Zug gut arbeiten.


19 Uhr Bespaßung einiger Manager durch Kurzvortrag mit Q & A ("Unternehmensberatung"). Dem anschließenden Abendessen (besser Weihnachtsbesäufnis) werde ich mich entziehen. Damit ich nicht hinter ihre Firmengeheimnisse komme, werden die Gastgeber ohnehin froh darüber sein.

Übernachtung im Radisson Blu Waterfront (ich hasse den Laden nach einigem Ärger dort, aber er optimiert extrem kurze Wege am Bahnhof Stockholm. Zwar gibt es daneben, wie der Vielflieger weiß, noch ein Radisson am Hbf, aber dort ist mir einmal die Dusche aus der Wand gekommen nachdem das erste zugeteilte Zimmer schon von einer Lady belegt war, die von mir nichts wissen wollte. "Very sorry Sir, computer error")

Sonntag 22.12.13
Als Flug nach Berlin habe ich zwei Tickets
AB 8103 um 10:35 und LH 2935 um 20:40

LH hatte ich schon, AB ist Award von Miles, die Silvester ohnehin verfallen würden. Beide Tickets haben identisch um die 70 Euros gekosten.
Wenn die Verabredeung mit meinen Stockholmer Freunden noch klappt, nehme ich den späteren Flug

In Berlin werde ich dann wie angekündigt 6 Tage im Interconti verbringen, vielleicht wird es dank THE BIG WIN auch noch ein Tag mehr.
 
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01.11.2011
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@ bfk
Werde mir Mühe geben

Ja, das IC wollte mir schon das XMAS Dinner andienen, werde stattdessen in Tshirt und Shorts durch das Weihnachs-Foyer mit Baum-Deko zum Crosstrainer gehen
 
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01.11.2011
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Tripreport TEIL 3

Natürlich dürfen die Erinnerungen an meinen ersten Flug nicht fehlen

Manuskript 3


Meine Eltern waren berufstätig. Karl arbeite als Im- und Exportkaufmann, Magda als Sekretärin. Es reichte zum kargen Überleben. Erst mit großer Verspätung traf auch in meiner Familie ein klein wenig von dem deutschen Wirtschaftswunder ein. Im Sommer 1962 schenkte mein Vater meiner Mutter und mir eine Reise nach Berlin. Mit einer Vickers Viscount der British European Airways, einem Flugzeug mit vier Propellern und fünfundsechzig Sitzen, ging es nach Berlin-Tempelhof. Die Sieger flogen uns in Hitlers ehemalige Reichshauptstadt, denn nur die Alliierten durften damals die Luftkorridore nutzen. In einer langen Stadtrundfahrt besichtigten wir Brandenburger Tor, Siegessäule, Gedächtniskirche und das Kaufhaus des Westens. Dazu die ein Jahr vorher gebaute Mauer und das sowjetische Kriegsdenkmal auf der Ost-Seite. Ich sah die Stacheldrahtgrenze, das viele Militär und die Reste von Hitlers Hauptstadt. Für einen zwölfjährigen Jungen war es eine unverständliche Welt.


Klar hätte ich mir bessere Lebensumstände wünschen können, zu anderen Zeiten, an anderen Orten, in anderen Ländern, mit anderen Eltern, aber wir waren eben Deutsche, die Kriegsverlierer. Meine Mutter und mein Vater haben sich viel Mühe mit mir gegeben. Oberflächlich betrachtet bin ich gut durch die „schwierigen Zeiten„ gekommen und habe Glück gehabt. Andere Kinder wuchsen noch ärmlicher heran, wurden schlechter betreut oder hatten ihre Eltern gar in Kampfhandlungen oder Kriegswirren verloren. Auch gab es Kinder, deren Mütter und Väter körperlich beschädigt waren, Kriegsversehrte, wie das amtlich genannt wurde. Oder die Kriegsscheiße, wie Helmut Schmidt das so treffend genannt hat, tobte sich noch heftiger aus als bei Magda und Karl.
 
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01.11.2011
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Tripreport TEIL 4

Auch wenn die eigentliche Reise noch gar nicht angefangen hat, nachfolgend ein Textteil, den ich gerade im ICE zwischen Berlin und Hamburg überarbeitet habe. Reiseschilderungen aus Brüssel

Manuskript 4

Paris Brüssel mon amour

Die Kriegserlebnisse meines Vaters sind für mich die Geschichten eines Fremden, wie eine Reise in ein fremdes Land, wie das Sezieren eines Unbekannten. Obwohl der Krieg das entscheidende Ereignis in Karls Leben war, gab es in meiner Familie kaum Spuren der Vergangenheit. Keine Veteranentreffen, keine engen Freundschaften, wenig Erinnerungsstücke. Nur Schweigen. So wie die meisten Erwachsenen hatte mein Vater die Kriegsjahre aus seinem Leben verdrängt, zumindest äußerlich. Als er 1981 starb hinterließ er nur wenig Persönliches. In seinen Sachen fand ich seine militärischen Orden und einen Umschlag. Sein Inhalt war ein Brief in französischer Sprache, einige alte Schwarzweiß-Fotos und eine handschriftliche Notiz. Alles betraf seine Kriegszeit in Brüssel. Mein erster Eindruck war, dass Karl im Krieg eine Freundin hatte. Doch der Gedanke entglitt mir schnell wieder. Auf seltsame Art ließ mich das Ganze unberührt. Mit meiner Mutter habe ich nie über diesen Fund gesprochen, weder nach Vaters Beerdigung noch später. Meiner Schwester habe ich davon erzählt, aber es interessierte sie nicht. Nach einigen Tagen habe ich alles in einen Umschlag gesteckt und den Inhalt für Jahrzehnte aus meinem Gedächtnis verbannt. Erst vor wenigen Jahren habe ich ihn wieder herausgeholt und mich in die alten Notizen und Fotos vertieft. Plötzlich erkannte ich die Zusammenhänge, die Geschichte von Karl und Yvonne in den Jahren des Krieges.

Die alten Fotos zeigen drei Personen in unterschiedlichen Konstellationen, Yvonne, Louis und meinen Vater. Yvonne war offensichtlich seine Freundin. Louis ist ein kleiner Junge. Nebeneinander gelegt sind die Fotos typisch für eine Familie aus Mann, Frau und Kind. Mein Vater und Yvonne zeigen sich als Liebes- oder Ehepaar. Louis ist zweifelsfrei ihr Sohn. Wäre mein Vater auch sein Vater hätte ich einen Halbbruder. Eines der Fotos zeigt Karl aufgeputzt in voller Uniform mit Yvonne im Arm auf einem Brüsseler Boulevard. Er ist ein stolzer deutscher Soldat mit einer schönen Frau an seiner Seite. Mich berührt dieses Foto, denn ich habe ihn nie mit diesem Körperausdruck von Stolz und Glück erlebt. Oft habe ich es betrachtet und meine Gedanken wandern lassen. Ausdruck und Haltung zeigen nicht nur meinen Vater, sondern auch die deutsche Vergangenheit. Karl war der erfolgreiche Eroberer in einem besiegten Land. Mehrfach habe ich die Fotos guten Freunden gezeigt. Alle teilten meinen Eindruck. Mein Vater hat in Brüssel mit Frau und Kind gelebt. Offenbar besaß er schon eine Familie, bevor es meine Mutter, meine Schwester und mich in seinem Leben gab. Umstände und Art der Unterlagen zeigen mir, dass es sich um eine tiefere Beziehung gehandelt haben muss. Vermutlich hat er mehrere Jahre mit Yvonne zusammengelebt. Von Wehrmachtsangehörigen habe ich erfahren, dass solche „Beziehungen“ von vorgesetzten Offizieren toleriert wurden, auch wenn Eheschließungen untersagt waren. Offensichtlich war die Beziehung zu Yvonne sehr viel mehr als ein Kriegsabenteuer, mehr als die Beute des Siegers.

Am 17. Mai 1940 eroberte die Wehrmacht die belgische Hauptstadt. Im September 1944 wurde die Deutschen wieder vertrieben. Damit habe ich die Zeitspanne von Yvonnes und Karls Beziehung eingegrenzt. Jetzt passt es, dass mein Vater so häufig in seinem freudlosen, kleinen Zimmer saß und für Stunden seine Erinnerungen anstarrte. Mehrfach habe ich ihn als Kind dabei überrascht. Immer wirkte er weit weg. Heute verstehe ich es.

Auf den Fotos empfinde ich Yvonne als sympathisch und warm. Sie ist eine elegante, schöne Frau. Yvonnes Nachnamen finde ich in keinem belgischen Telefonbuch, ich kann keine Spur mehr aufnehmen. Einem Brief von Louis entnehme ich, dass Yvonne kein Französisch sprach. Wahrscheinlich war sie Flämin. Gerne möchte ich alles über ihre Jahre mit meinem Vater wissen. Ihre gemeinsame Zeit ist eine wichtige Ursache der unglücklichen Ehe meiner Eltern. Gerne möchte ich sie fragen: „Was war Karl für ein Mensch? Wie war das Leben mit ihm? Wie waren deine Jahre danach?“

Was mag die beiden verbunden haben? Hat Yvonne Karl geliebt, oder diente die Beziehung lediglich der Versorgung, dem Überleben in schwierigen Zeiten? Wollten sie heiraten, planten sie Kinder? Aus welcher Familie stammte Yvonne, welchen Beruf hatte sie? Wovon hat sie geträumt? Welche Schwierigkeiten und Anfeindungen musste Yvonne nach dem Krieg wegen ihrer Beziehung zu einem „Boche“ erdulden, zu einem deutschen Schwein? Sie wird seit vielen Jahren verstorben sein, aber die Fragen lassen mich nicht los. Wie war Karls Alltag in Brüssel? War es eher wie in einer Behörde oder lebte er militärisch wie ein Soldat, mit gelegentlichem privatem Ausgang und wenig persönlichen Freiräumen? Durfte er seine Nächte mit Yvonne verbringen? Hatte er immer eine Waffe dabei? Gab es eine Bedrohung durch den Widerstand? War sein Job Verwaltungstätigkeit oder Kriegsgeschäft? War er an der Deportation von Juden beteiligt? Wenn ich könnte, würde ich tagelang fragen. Leider sind die Recherchen durch meine geringen französischen Sprachkenntnisse begrenzt.

Aus Karls Nachlass verfüge ich über einen vergilbten Zettel mit der Brüsseler Anschrift. Wenn ich richtig verstehe, lebten Yvonne und Karl hier in den Kriegsjahren. Ich bin neugierig und fliege im Juni 2007 für einen Tag nach Brüssel. Weil französische Sprache und Lebensart dominieren, ist die belgische Hauptstadt für mich wie Frankreich. Seitdem mich London langweilt, mag ich Frankreich und liebe Paris. Es ist eine großartige Stadt, in der Stationen der Métro so schöne Namen wie Bastille, République, Stalingrad und Europe tragen. Vor Jahrzehnten war die französische Hauptstadt das Ziel meiner Wochenendausflüge mit den Mädels Birgit und Maria. Später haben meine Frau Jurate und ich unsere Hochzeitsreise dort verbracht. Im kalten November Regen haben wir uns auf dem Eiffelturm ganz fürchterlich erkältet. Wir waren glücklich. Liebende sollten den Louvre sehen, durch die Gassen von der Métro-Station Barbès hinauf zum Sacré-Cœur spazieren und gemeinsam über das Häusermeer blicken. Paris ist meine Stadt, mein unerfüllter Lebenstraum. I was lost in France in love. Gerne hätte ich an der Sorbonne studiert, würde an der Universität über Verstand und Bewusstsein lehren oder kluge Bücher schreiben. Vielleicht würde ich mit einer Claire, Fabienne oder Madeleine am Boulevard St. Michel leben, täglich zu den „blauen Vögeln“ von Matisse gehen und die Gesichter der Menschen im Café Louvre studieren. Unsere Kinder könnten im Jardin du Luxembourg spielen. Jeder Mensch sollte Träume haben.

Mit solchen Gedanken fliege ich nach Brüssel. Die Vergangenheit meines Vaters hat mich gepackt. Das Viertel ist eine bunte Mischung aus Verfall, Romantik und Moderne. Der Boulevard Emile Jacqmain liegt nur wenige Minuten Fußweg vom Gare du Nord. Als Hausnummer 114 steht dort ein älteres gelbliches Haus, das es schon 1940 gab. Es ist das Eckgebäude zur Rue Saint Roche. In einem der Stockwerke werden Karl und Yvonne also gewohnt haben. Links befindet sich ein heruntergekommenes Hotel mit Namen Queen Anne, rechts das Restaurant La Mélodie du Goût, die Melodie des Geschmacks. Endlos stehe ich vor dem Haus und versuche ein Gefühl für meinen Vater zu entwickeln. Hier hat er also gelebt, in Wehrmachtsuniform, mit Orden auf der Brust, mit einer anderen Frau, möglicherweise mit einem anderen Sohn. Irgendwann ist der Tag vorbei und ich fliege zurück.

Einige Monate später reise ich ein zweites Mal in die belgische Hauptstadt. Die Vergangenheit meines Vaters lockt mich. Mit dem Thalys-Express fahre ich durch das kleine Land, das er vor fast siebzig Jahren erobert hat. In der Abendsonne gleitet der Zug in Richtung Brüssel und ich hänge bei einem Glas Wein meinen Gedanken nach. Warum haben sich bloß Jahrhunderte lang Menschen ihre Köpfe eingeschlagen?

Dann erreiche ich den Gare du Nord. Es ist Freitagabend, eine warme Herbstnacht, und die Straßen sind voller Menschen. Das Leben quirlt. In einer seltsamen Anwandlung wähle ich das Queen Anne, das heruntergekommen Hotel unmittelbar neben dem ehemaligen Wohnhaus von Yvonne. In der Mélodie du Goût esse ich Pasta Melanzane, vernichte Weißwein und gebe mich meinen Gedanken hin. Nach dem dritten Glas sehe ich meinen Vater in Wehrmachtsuniform um die Ecke kommen, doch es ist nur ein grauer EU-Beamter. Später, im Bett, wird mir bewusst, dass mein Vater nur wenige Meter hinter den Wänden gelebt hat. Ich erlebe eine seltsame Nacht aus verdrängten Gefühlen und bizarren Gedankenblitzen. Dort hat Karl gelacht und gevögelt. Mein Verstand springt hin und her. Würgend greift der Zensor nach mir. Zunehmend überkommt mich das Gefühl, ich tue etwas fürchterlich Verbotenes. Es ist, als wäre ich wieder ein kleiner Junge und würde unerlaubterweise den Schrank meines Vaters durchwühlen. Was mache ich hier? Aber ich kann mich aus meinen Zweifeln befreien. Nie war ich Karl so nahe wie in diesen Stunden.

Wie zwanghaft marschieren meine Gedanken zurück in die Kindheit. In Brüssel hat mein Vater eine Lebensphase verbracht, die ihm offensichtlich mehr bedeutete als sein späteres Leben mit meiner Mutter, meiner Schwester und mir. Dabei kann er höchstens vier Jahre mit Yvonne zusammengelebt haben. Doch manche Beziehungen sind derart prägend, dass ihre Bedeutung nicht nach Kalenderjahren zu messen ist. Der Krieg im Westen war gewonnen. Mein Vater gehörte zu den Siegern, lebte in einer schönen Stadt, mit einer schönen Frau, und fuhr seinen Lebenserfolg ein. Die Ostfront und Rommels Wüstenkrieg lagen weit entfernt. Es wird Karl gut gegangen sein, er wird Zukunftspläne mit Yvonne gehabt haben. Wie sollte er die Realität hinter der Realität erkennen können? Wie sollte er ahnen, dass der Krieg, der für ihn so großartig begonnen hatte, in der totalen Niederlage enden würde, dass er alles verlieren könnte?

Heute wäre Yvonne über neunzig Jahre alt. Wie mag ihr weiteres Leben verlaufen sein? War sie glücklich Und was wurde aus Louis? Er müsste etwa Siebzig sein. Lebt er ihn noch? Würde er sich heute noch an Monsieur Karl erinnern? In seltenen Momenten von Nähe hat mein Vater mir erzählt, dass in Belgien die glücklichste Zeit seines Lebens war. Es wird stimmen, in Brüssel hat er mehr persönliches Glück erlebt als je in seinem Leben. Obwohl die Welt in Flammen stand, war sein Alltag relativ friedlich. Aber es war Krieg, Karl war Soldat und seine Lebenssituation basierte auf Unrecht.

Wie mögen Yvonne und er ihre letzten gemeinsamen Stunden verbracht haben? War es wie im Filmklassiker Casablanca, als Ilsa und Rick auf dem Bahnhofsteig in Paris standen und die Kämpfe schon zu hören waren? Wie mag Yvonne diesen Tag erinnert haben? Das Ende wird wenig glücklich gewesen sein. Nach Kriegsende sind die Sieger mit Kollaborateuren brutal umgesprungen, besonders mit Frauen. Einerseits kann ich es verstehen, andererseits waren Kollaborateure ein wichtiges Feindbild, das nach Kriegsende half, eigene Schuldanteile zu verdrängen. Kollaborateure wurden verfolgt, gedemütigt und bestraft. Berichte und Fotos zeigen, wie die Résistance Freundinnen von Deutschen mit kahl geschorenen Köpfen, Schlägen und Beschimpfungen durch die Straßen gejagt hat. Sex mit dem Feind ist eine tiefe narzisstische Kränkung, die sich in Rache austobte. Bei Kriegsende wird es Yvonne nicht gut ergangen sein. Was hat ihr mein Vater bedeutet? Was hat sie nach 1945 über ihn gedacht? War er das wert?

Der Verlust von Yvonne hat meinen Vater lebenslang beschäftigt. Aber erst viele Jahre nach Kriegsende hat er aktiv gehandelt und erneut Kontakt zu ihr gesucht. Nach den Unterlagen in seinem Nachlass ist er im Juni 1961 zurück in seine Vergangenheit gefahren. Obwohl ich erst zehn Jahre alt war, erinnere ich diese Reise. Anlass war ein Fußballspiel in der belgischen Hauptstadt, HSV gegen Barcelona, ein legendäres Ereignis im Europacup. Jetzt verstehe ich, warum ich nicht mitfahren durfte. Als Kind war ich darüber enttäuscht, konnte ich meinen Vater doch sonst zu allen wichtigen Fußballspielen begleiten. Eltern glauben immer, Kinder würden nichts merken.

Karls Verlustgefühle müssen groß gewesen sein, um ihn zu veranlassen, fünfzehn Jahre nach Kriegsende nach Yvonne und Louis zu suchen. Welche Gedanken sind auf der Fahrt durch seinen Kopf gegangen? Einem Brief von Louis an Monsieur Karl entnehme ich, dass er Yvonne gefunden und getroffen hat. Sie hat sich über ihn gefreut. Also werden sie sich 1945 nicht im Streit getrennt haben. Wie verlief ihr zweiter Abschied?

Manchmal frage ich mich, warum er nicht schon vorher zu Yvonne gefahren ist? Schon in der unmittelbaren Nachkriegszeit wäre es ihm möglich gewesen. In den fünfziger Jahren musste er häufiger beruflich über Holland und Belgien nach England reisen. Trotz unserer Armut hatte er also Möglichkeiten, nach Brüssel zu gelangen. Ist er aus Resignation nicht gefahren, weil es für seine Lebenssituation keine glückliche Auflösung gab, oder war er vielleicht vorher schon in Brüssel? Wollte er seine Nachkriegsfamilie nicht verletzen?

Oder fürchtete mein Vater Belastendes aus seiner Vergangenheit? Gibt es doch noch etwas Verborgenes? War er wirklich nur ein kleiner Bürokrat oder an besonderen Kommandos und Schmutz beteiligt. Hatte er Angst? Hat er deswegen nie meine Mutter und uns Kinder in die DDR begleitet? Ich fühle mich zerrissen. Einerseits begleitet mich ein gewisses Misstrauen über die Kriegszeit meines Vaters, besonders die Jahre, in denen ich nichts über ihn finden kann, andererseits halte ich ihn nicht für einen „Mörder oder eine Nazibestie“. Wie Monster haben sich auch nur wenige Nazis aufgeführt. Die meisten verhielten sich rational, waren so deutsch und normal wie mein Vater.

Mehr denn je verstehe ich, dass Karl bis zu seinem Tod an seiner Zeit in Brüssel gehangen hat. Erfolg, Glück, Identität und Yvonne. Der Krieg, der ihm alles gab, entriss ihm alles und stellte seine Lebensuhr auf Null zurück. So gut wie in Brüssel ist es ihm nie wieder gegangen. Immer tiefer begreife ich, wie meinen Vater psychisch funktionierte. Liebte er Louis mehr als mich?

Im Herbst 2010 fliege ich erneut in die belgische Hauptstadt. Ich will herum stöbern und weitere Informationen suchen. Doch es gelingt mir nicht mehr, neue Hinweise zu finden. Deutsche, die nach dem Krieg fragen, sind nicht besonders willkommen. Doch meine Gedanken verkleben und entgleiten mir. Mein Vater interessiert mich zunehmend weniger. Die Nacht verbringe ich in einem uralten Hotel, das aussieht und riecht, als wäre es 1940 Gestapo-Hauptquartier gewesen. Charmant. Langsam verliere ich meine Befangenheit. Die Stadt der Gegenwart ist nicht das Brüssel der deutschen Herrschaft. Zwar gibt es schmutzige Ecken, in denen es unangenehm nach Pisse stinkt und ich besser nicht stehen bleibe, aber ich fühle mich in Brüssel wohl. Meine Gedanken verlassen Karl und den Krieg. Es ist vorbei, die Tür zu Karls Vergangenheit schließt sich. Ich gucke einigen Frauen in die Augen und denke an die vielen Tausend Leben, die ich hätte führen können, mit anderen Menschen, in anderen Zeiten, an anderen Orten, in anderen Ländern. Was ich wissen wollte, habe ich erfahren. Mehr kann ich nicht herausbekommen. Nach Brüssel werde ich nie wieder reisen, nicht wegen meines Vaters.
 
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concordeuser

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So, geklappt hat schon einmal der (fristgerechte!!!) vorab Transport meines Koffers nach Berlin durch die Bahn. Mit durch Skandinavien und zurück wollte ich ihn nicht transportieren.
 

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Tripreport TEIL 5

Es werden sozusagen zwei Tripreports in einem, die Fahrt nach Stockholm und Berlin und die Reise zurück in die Vergangenheit im Buchmanuskript

Manuskript 5

Auf dem Universitäts-Campus lief im Abaton Kino jeden Freitagabend „Erotik im Underground“. Fortschrittliche Filme mit nackten Menschen. Neuartige Worte wie „Gruppensex“ machten die Runde. Es gab nichts, was es nicht gab. Ende der Sechziger werden die St. Pauli-Nachrichten zu einer fast normalen Zeitung. Sogar mein Vater hat sie gelesen, zumindest habe ich einmal ein Exemplar bei ihm gefunden. Sicherlich hat er nicht beabsichtigt, dass ich es entdecke. Der umstrittene Anführer einer christlichen Regionalpartei sucht in New York die Gesellschaft von zwei Straßennutten. Statt ihn zu beglücken, entwendeten sie ihm die Brieftasche. Heute ist ein großer Flughafen in den Südprovinzen nach ihm benannt. Nichts war schöner, als Tabus zu brechen. Unsere Gefängnisse hatten nur noch Pappwände, in jede Himmelsrichtung konnten wir hinausgehen. „Set the Night on Fire“, „Let‘s spend the Night together“, „All you need is Love“ oder „Ring of fire“, alles gängige Hits. „The taste of love is sweet, when hearts like ours meet, I fell for you like a child, oh, but the fire went wild!“ Allein die Miniröcke von Mary Quant wirkten wie der Übergang vom Schwarzweiß- zum Farbfernsehen.

Eine Zeitlang fuhr der Rest meiner Familie an den Wochenenden regelmäßig nach Fehmarn, weil sie in dem Leuchtturmwärter von Staberhuk einen entfernten Verwandten entdeckt hatten. Für mich war es schön, denn dann hatte ich zweieinhalb Tage unsere Wohnung für mich alleine. Einige Male lud ich meine Freunde ein und wir sahen uns alte 8mm Filme an. Sie hatten Titel wie „Mit den Kindern an der Ostsee“, „Wolfgang und Marion in Rettin“, „Mein erster Opel Kapitän“ oder „Italien-Urlaub 1958“. Mein Schulfreund Wolfgang stellte die filmischen Erinnerungen seiner Familie zur Verfügung. Das waren wir? Obwohl nur ein Jahrzehnt vergangen war, löste der Rückblick ungläubiges Lachen aus. Nächtelang saßen wir herum und hörten Bob Dylan, Leonard Cohen oder Exile on main street, schmutzige Songs von den ROLLING STONES, großartige Musik. Dazu betranken wir uns mit billigem Rotwein. Gelegentlich habe ich befreundeten Pärchen mein Zimmer überlassen. Das war nicht ohne Risiko, denn viele Eltern, auch meine, hatten Angst wegen Kuppelei angezeigt zu werden, wenn sie es denn zu sexuellen Situationen ihrer Kinder kommen ließen. Nur konnten sie es nicht verhindern.
 

concordeuser

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Tripreport Teil 6

Sonnabend 21.12.13 - 0700

Es geht los. Ich freue mich auf die nächsten Tage. Manchmal geht es mir wie dem Foristen GmK, ich muss einfach raus und unterwegs sein.

Fast wäre alles schief gegangen. Auf dem Bahnsteig der U Bahn sehe ich, dass ich 19 Minuten auf den Zug warten soll. Normalerweise fährt er alle 5 Minuten. Mit einem Taxi schaffe ich es zum Hbf, gewinne sogar noch etwas Zeit. Ich freue mich auf einen Kaffee. Doch nächste Panne: die DB Lounge ist geschlossen. Dabei ist es 7:05 nicht 5:05 Uhr. Ich bin nicht der Einzige, der vor verschlossener Tür steht. Servicewüste D. Wäre doch eine gute Idee für weitere Serviceverwüstungen des Dr. F, die LH Lounges erst nach Abflug des Morgenknotens zu öffnen.

Statt des ICE fährt ein winziger Dieseltriebwagen der dänischen Bahn ein, ein Kurz-Kurz-Kurz-Zug. Offenbar muss man ihn mit kräftigem Zwischengas fahren. Es ruckelt ohne Ende. Wer sich an das Getriebe des VW 1200 Käfer von 1958 erinnert, weiß was ich meine. Wahrscheinlich bin ich seekrank, bevor wir die Fähre in Puttgarden erreichen. Dann kommt die Schaffnerette. Nach sorgfältigem Studium der Fahrkarten verteilt sie ein Frühstück an die Mehrheit der Gäste in der fööörst. Ich fahre auch fööörst, gehöre aber wohl nicht dazu. Fragen ist mir zu doof. Eine Steckdose gibt es auch nicht.

An sich hatte ich mir den Trip anders vorgestellt. Nach nur vier Stunden Schlaf nervt mich das alles. So kommen wir Lübeck. Es ist noch dunkel und ich schlafe erst einmal. In Oldenburg steigen Zoll und Grenzorgane in den Zug. Wir werden vom Rauschgifthund beschnüffelt und einzelne Reisende müssen Ausweis zeigen und werden kurz verhört. Zwei Paxe der 2. Klasse werden selektiert und aus dem Zug entfernt.

Dann kommen wir an der Fähre an. Mittlerweile ist es hell geworden. Die Überfahrt dauert 45 Minuten. Aus Sicherheitsgründen müssen wir den Zug verlassen und auf die oberen Decks gehen, fall sich das Schiff wie die Herold of Free Enterprise auf die Nase legt und absaufen sollte. An Bord ist eine Gruppe britischer Hooligans, die sich für die nächsten Tage mit Faxe Öl ausstattet. Für Billigsex fahren sie doch in die falsche Richtung? Ich gehe auf dem Oberdeck ins Freie. Die kalte Luft und der Nieselregen tun mir gut.

Der aufmerksame Leser des Reiseplans wird entdeckt haben, dass meine Fahrt zeitlich sehr eng geplant ist. Für Verspätungen hatte ich Plan B (Flug CPH – ARN) und Plan C (Flug Malmö – ARN). Doch ich erreiche pünktlich Kopenhagen und wechsele in den X2 nach Stockholm.

Nun rolle ich durch das nasse und dunkle Schweden. Gegen 14:30 wird es wieder dunkel draußen. Ich nutze die Zeit und arbeitete. Nur in Lund und Hässleholm gucke ich hinaus. Doch ich entdecke weder Wallander noch das blonde Mädchen aus meinen Erinnerungen.

Die Route für heute

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HAM CPH in der fööörst

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auf der Fähre

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weihnachtlich ist mir nicht

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In zwei Stunden werde ich in Stockholm Central eintreffen und schnell ins Hotel gehen. Ob sie mir drei Sterne in der EDV gegeben haben als Querulant, nachdem ich mich letztes Mal so sehr geärgert hatte (sie oben)?

Das kostenlose W LAN im X2 funktioniert perfekt, sollte die Bahn mal nachmachen.

So versuche ich schon einmal für beide Flüge morgen einzuchecken. Welchen ich nehme entscheidet sich ohnehin erst morgen.

Bei AB klappt alles problemlos

LH leitet meine Buchung trotz LH Flug zu SAS weiter, dort wird mir am Ende des Vorgangs mitgeteilt "sorry Sir, check in not possible" Die besondere Wertschätzung für unsere besten Kunden GRRRR

es ist doch nur ein scheißeinfacher Flug von ARN nach TXL. Ich sehe mich schon 1:45 auf dem Mittelsitz des Campingstuhls
 
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SuperConnie

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18.10.2011
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Das ist eine schöne Kombi aus (Bahn-) Reisebericht und persönlicher Geschichte.

In den 60ern, als deutsche Blage in Singapur, sind mir auch welche über'n Weg gelaufen, die den Hitlergruß zeigten. Legte sich schnell, nachdem ich des amerikanischen Englischs (American School) mächtig war. Mein Vater war am Ende des Krieges fahnenflüchtig, hat als einer der ersten deutschen Studenten nach dem Krieg ein Sipendium für Oxford bekommen und hat uns Pänz entsprechend erzogen. Wohingegen der Großvater entnazifiziert wurde.

Die Verbindung von Gestapo-Quartier und "charmant" lese ich als ironisch gemeint ;)

Ich fliehe zwar nicht vor Xmas, habe aber morgen eine lange Bahnfahrt vor mir: 7 1/2 Stunden im TGV von Frankfurt nach Aix-en-Provence. Bin mal gespannt, wie bequem man in jener Föörst sitzt; warmes Essen haben die wohl ich nicht (nur Barwagen). Auf Fliegen hatte ich keine Böcke (Aix ist für meine Abholer auch günstiger).
 
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Anne

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20.06.2010
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2
In einer langen Stadtrundfahrt besichtigten wir Brandenburger Tor, Siegessäule, Gedächtniskirche und das Kaufhaus des Westens. Dazu die ein Jahr vorher gebaute Mauer und das sowjetische Kriegsdenkmal auf der Ost-Seite.

Bist Du sicher???


Im Jahr 1 nach dem Mauerbau hat sich eigentlich so gut wie niemand nach Ost-Berlin verirrt.

Womöglich warst Du am sowjetischen Mahnmal an der Straße des 17. Juni, nahe Brandenburger Tor?


Ansonsten vielen herzlichen Dank an Einblicke in Deine Vita!:resp:
 

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01.11.2011
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Tripreport Teil 7

Sonnabend 21.12.13 - 2300

Ich muss wirklich ein tief gestörtes Verhältnis zu den Radisson Hotels in Stockholm haben. Natürlich habe ich mich vertan. Auch wenn ich zu erst irrtümlich dorthin gegangen bin, war ich nicht in der Hütte gebucht, wo ich mich so geärgert hatte, sondern dort, wo ich die Lady in ihrem Zimmer überrascht habe. Also zurück, Blu waterfront direkt am Bahnhof. Ist ohnehin das höherwertige Haus.

Offensichtlich ist mein verunglückter Aufenthalt dort gespeichert. Ich bekomme ein tolles Eckzimmer im 12. Stock mit Blick auf die nächtliche Stadt. Der Check in Agent ist trotz perfekten Queens englisch sehr freundlich und ich bin versöhnt.

Pünktlich werde ich am Hotel abgeholt. Dann bespaße ich gut zehn Zuhörer mit Einsichten in deutsche Gesundheitsökonomie. Q&A dauern diesmal lange. Die Mädels und Jungs sind wirklich interessiert. Die Gage ist dieselbe. Wenn mein Eindruck richtig ist, werden Essen und Besäufnis bis tief in die Nacht dauern. Ich vermute, sie wollen einige Krankenhäuser übernehmen, ein neues Medikament auf den Markt werfen oder irgend so etwas. Also das übliche. Davon gibt es viele.

Ich laufe noch ein wenig durch das nächtliche Stockholm. Warum wird am Bahnhof immer gebaut, warum werden die nicht mal fertig? Warum stinkt in einem Kreis von 2 qkm um den Bahnhof jeder Meter nach Pisse? Lange bin ich in Versuchung, in den Nachtexpress nach Kiruna nördlich des Polarkreises zu steigen und mich die nächsten Tage treiben zu lassen. On the road. Doch ich gehe ins Hotel. Besuch im Gym. Endlich kann ich schlafen. Weihnachtlich ist mir nicht.

Manuskript Teil 6

„Bombardiert Amerika! Zahlt es ihnen heim! Tötet sie! Tötet sie!“ Gut erinnere ich das wilde Geschrei von Tante Grete. Es war der Abend einer kleinen Familienfeier im Behelfsheim meiner Großeltern. Immer wieder stieß die Schwester meines Vaters ihren Hass auf Amerikaner und Engländer heraus. Meine Großmutter versuchte sie zu beruhigen. Doch meine Tante hatte getrunken und ließ sich nicht stoppen. Ihre Erinnerungen waren zum Leben erwacht. Todesängste, Bomben, endlose Stunden im Bunker. Der Verlust ihres Zuhauses. Lange tobte rasende Wut. Grete hatte als junge Frau die Kriegsnächte erlebt, den Feuersturm, die Vernichtung großer Teile Hamburgs im Hagel der Bomben alliierter Flugzeuge. „Rache, Bomben, New York“. Endlos schrie sie herum.

Ich war ein vierjähriger Junge. Wie sollte ich meine Tante begreifen? Ihr Verhalten war auch keineswegs außergewöhnlich. In Kinderaugen verhielten sich viele Menschen seltsam, wenn es um den Krieg und Hitler ging. Was war mit den Erwachsenen? Warum gab es so viele Ruinen und Trümmer? Nichts ahnte ich von den Zeiten, in denen ich geboren war, nichts von der deutschen Last, nichts von den Umständen, unter denen ich leben würde.

Nahe unserer Wohnung führte die Trümmerbahn aus dem zerstörten Zentrum zum Stadtrand. In offenen Loren wurde der Kriegsschutt abtransportiert. Die Endstation war ein großes Kieswerk. Dort stand auf einem Hügel bis in die neunzehnhundertsechziger Jahre eine riesige Steinmühle, die tagein tagaus die heran gekarrten Überreste von Hitlers Krieg zermahlte. Ich kann diese Trümmerbahn nicht mehr erinnern, aber ein altes Foto zeigt meinen Kinderwagen neben ihren Schienen. Im zweiten oder dritten Schuljahr machten wir einen Ausflug dorthin. Für Kinderaugen war es ein seltsamer Ort. Eine weitläufige, mondartig aussehende Landschaft, kalt und unangenehm. Wie ein riesiges fremdes Wesen stand die Mühle vor dem grau-blauen Horizont. Ich erinnere einen kalten beklemmenden Tag. Später wurde das Gelände zu einer weitläufigen Parklandschaft umgewandelt. Die Hügel am See enthalten die Trümmer unserer Stadt. Die Loren konnten den Bombenschutt abtransportieren, doch nicht die Schuld und die Toten in den Köpfen der Menschen.
 
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@ Anne

Bin mir sicher, dass unsere Tour der Stadtrundfahrt auch in den Osten ging, aber ich kann mich täuschen. Es sind die Erinnerungen als ich 11 Jahre alt war.
 
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Tripreport Teil 8

Sonntag 22.12.13 - 0715

Mission Stockholm completed, zumindest der berufliche Teil. Nach nur sechs Stunden Schlaf bin ich wach. Da das Treffen mit Freunden nicht zustande kommt, habe ich keinen Grund in Stockholm zu bleiben. Es ist nass und stürmisch draußen. Im Sommer wäre ich gerne geblieben. So nehme den Früh-Flug mit AB. „Wenn bei LH nicht einmal das online Check In funktioniert.....“ Ein Flug mit Air Berlin ist wie er ist, er bringt einen günstig von A nach B, nichts worüber man im Forum schreiben müsste, wenn man mit der Concorde unterwegs war.

Ich freue mich auf Berlin, auf das Interconti, meinen Sport, auf Zeit für mich und das Buch. Es war ein vollgepacktes Jahr. Vom Manuskript habe ich bis heute etwa 160 Seiten fertig, die ich noch verfeinern und finishen möchte. Dazu fehlen mir die Kapitel über die Siebziger und Achtziger Jahre und der Anhang.

Wie der Leser ahnt, wird das Manuskript zeitlich im November 1989 enden. Da einige hier mit Interesse mitlesen, werde ich bis zur Abreise aus Berlin am 27.12.13 jeden Tag einige Auszüge der Erzählung hier einstellen. Take part. Feedback ist willkommen. Dieser tripreport ist (natürlich) auch ein Test, ob das Buch zum Lesen verführt.

Sonntag 22.12.13 - 1300

Arlanda Airport

Organisation und Dauer des Check In der Air Berlin Stockholm waren derart, dass ich noch nie so tief wie heute verstanden habe, wie Einzelne zu Terroristen werden. Immer weniger verstehe ich aber, dass Menschen sich dieses Herumgeschubse in Gattern und diese unwürdigen Proceduren an Airports wehrlos gefallen lassen. Irgendwann werden wir erleben, dass es dabei zu Unruhen und Toten kommt. Wegen Schuldunfähigkeit würde ich alle Beklagten freisprechen. „There is no such thing like human rights when you walk the New York streets“ (Lou Reed, RIP)

Heute springt meine Sicherung heraus. Ich pöbel gefühlte 10 Minuten mit Willy Wichtig, der sich vordrängeln will, („Sir, very important, Sir,“) dann bin ich wieder ganz friedlich und relaxed. In einem Land mit umfassendem Konsens- und Bevormundungsalltag wie Schweden kommt das gut an. Die Check In Mädels tun mir leid, es ist doch nur ein schlecht bezahlter Job.

Safety geht schnell, Kaffe, Croissant und Juice tun mir gut

Der Flug ist ereignislos und angenehm, obwohl die 737 im Querschnitt enger ist als die 320 (fällt immer wieder mal auf). Der Sitzabstand ist ausreichend, so bequem hatte ich das gar nicht in Erinnerung. Trotz der üblichen drängelnden Trottel und Problempaxe im Weihnachtsverkehr (travelling idiots) wird das boarding konsequent nach Gruppen gemacht und geht schnell. Die Einführung des "Idiotenschalters" wäre eine der größten Erfindungen der modernen Luftfahrt. Langsam warte ich darauf, dass die ersten Paxe innereuropäisch anfangen, lebende Hühner und Kühlschränke mit an Bord zu nehmen.

Die Crew ist freundlich und motiviert, der Kaffe OK. Bis auf den ungewöhnlich hohen Anteil blasenkranker Paxe, die in Scharen zu den WC laufen, ein angenehmer Flug.

So, mittlerweile habe ich es bis ins Interconti Berlin geschafft. Heute Abend folgt die Fortsetzung

Manuskript 7

Vielleicht sollte ich nun das Inhaltsverzeichnis des entstehenden Buches preisgeben

Inhaltsverzeichnis

1. Buch: Unsere Mütter, unsere Väter

Tötet sie, tötet sie
Nachkriegskinder
Der Krieg, der Krieg
Brüssel mon amour
Familie 16 & 32

2. Buch: Land der Verlierer

Verlierer & Verlierer
Wut & Schweigen
Sweet Home
Der Ernst des Lebens
Das andere Deutschland
Last & Schuld

3. Buch: Schlimme Zeiten

Die Kriegslehrer
Auslese und Unterdrückung
Übergriffe und Missbrauch
Wenn du nicht brav bist
Deutscher Gestank

4. Buch: I want to hold your hand

Alles begann im Radio
Readin’ no good
Mädchen & die weite Welt
Sie schießen wieder
Sommer der Revolte

5. Buch: Die Zeiten ändern sich

Power to the people
Mehr Demokratie wagen
Ende & Aus

6. Buch: Am Ende des Tages

I feel fine
 
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01.11.2011
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Tripreport Teil 9

Ergänzend noch einige Fotoimpressionen von unterwegs

der Charme einer Eisenbahnfähre

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fööörst im X2000

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Radisson Stockholm


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13. JPG.jpg

und Air Berlin

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01.11.2011
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Tripreport Teil 10

die tägliche Fortsetzung.

Nach Jahrzehnten als Stammgast ist das Interconti Berlin immer noch mein Lieblingshotel. Wohlmeinend erhalte ich eine Senior Suite (Fotos später), treffe Freunde, mache Sport, arbeite am Manuskript. Mir geht es gut.


Manuskript 8


Wie in einer kollektiven Neurose konnten die meisten Erwachsenen nicht über ihre Erlebnisse reden, nicht sagen, dass sie Täter und Opfer waren, nicht zu sich selbst, nicht zu ihren Kindern. Ihr Spiegelbild muss sie so erschreckt haben, dass sie in Verdrängung und Vergessen flüchteten, obwohl die Last in den Köpfen fürchterlich drückte. Sie wog so schwer, dass Viele zu Leugnung griffen. Das Versteck vor der Vergangenheit waren so nichtssagende Sätze wie „keiner hat etwas gewusst“, „ich konnte doch nichts tun“ oder „ich habe doch nur gehorcht“. Psychische Abwehrmechanismen.

Manchmal wurde die Verdrängung durch bizarre Übersprungshandlungen offenbart, wie im Geschrei von Tante Grete. Fast alle Nachkriegskinder kennen solche Situationen. Erwachsene rasteten plötzlich aus, schrien im Schlaf oder „grüßten den Führer“. Manche redeten wie zwanghaft über ihre Kriegserlebnisse und das Reich. Wie aufgezogene Spieluhren erzählten sie immer dieselben Geschichten, von der Front, vom Russen, von den getöteten Kameraden. Den übrigen Erwachsenen schien das peinlich zu sein. Erklärungen gab es selten. Am liebsten schwiegen die Erwachsenen, so als hätte es kein Leben vor 1945 gegeben.

Auch in meiner Familie wurde nur wenig über die Vergangenheit gesagt. Von meinen Großeltern hörte ich Sätze wie „Dein Vater war im Krieg“ oder „Wir haben verloren“. Ihre Stimmen klangen müde und resigniert. Ich verstand die Worte, nicht aber ihre Bedeutung. Mehr konnten sie nicht, mehr wollten sie nicht sagen. Hitler, der Krieg, die Konzentrationslager, die deutschen Verbrechen, es waren verbotene Themen. „Darüber spricht man nicht“, war der Lieblingssatz der Erwachsenen.

Als Kind versuchte ich mir manchmal vorzustellen, wie es wohl wäre, wenn Deutschland gewonnen hätte, wenigstens einmal. Ich verstand es nicht. Keiner verliert gerne, nobody loves looser.


Manuskript 9


Eines Tages stand in der U-Bahn ein Mädchen in einem kurzen gelben Rock vor mir. Ich musste sie die ganze Zeit anstarren und wusste nicht, wohin mit mir. Gott war sie toll. Für mich stand die Zeit still. Ich muss ihr ziemlich lästig gewesen sein. Nach drei Stationen wechselte sie in einen anderen Waggon. Noch heute kann ich sie vor mir sehen. Im Herbst 1967 feierte ich meinen sechzehnten Geburtstag. Unser Klassenlehrer meinte, wir sollten nun Mädchen kennenlernen. So luden wir eine Mädchenklasse des Charlotte-Paulsen-Gymnasiums ein und veranstalteten ein Klassenfest im Café Symphonie. Jimi Hendrix hatte gerade seinen Hit „Hey Joe“ herausgebracht und wir tanzten danach. In meiner Erinnerung war es kein Fest des Lebens, sondern ein befangener, seltsamer Abend. Die Mädchen waren noch komischer und unsicherer als wir. Ich wunderte mich über diese Wesen, die wir da getroffen hatten. Wahrscheinlich waren wir ihnen genau so fremd wie sie uns.

Später lernte ich Anett kennen. Ich traute mich, nach ihrer Telefonnummer zu fragen. Als ich sie anrief, schrie ihr Vater, „wer ist das“. Das kam mir vertraut vor, sie lebte so wie ich. Wir verabredeten uns und verbrachten einen langen Abend in einer schmuddeligen Studentenkneipe im Keller an der Stadthausbrücke, dort wo heute die Klinik Fleetinsel liegt. Anett und ich mochten uns und hatten uns viel zu erzählen. Nach Mitternacht standen wir verloren im Regen am Rödingsmarkt und warteten auf unsere Straßenbahnen. Sie musste nach Westen, ich nach Osten. Wir küssten uns lange. Heute verstehe ich nicht, warum ich sie nicht mehr angerufen habe. Mir war nicht klar, dass sie darauf wartete. Die Tür war offen, aber ich sah es nicht. Einige Wochen später war ich mit Viktoria verabredet. An einem Nachmittag saßen in ihrem kleinen Zimmer auf ihrem alten Klappbrett, waren am fummeln und schon halb ausgezogen. Dann kam unerwartet ihre Mutter herein. Unsere Unbefangenheit war dahin. Wir haben uns nicht wieder gesehen.

Wie im Film kann ich ein anderes Mädchen vor mir sehen, das ich fast jeden Morgen mit meinem Freund K auf dem Weg zur Schule im Bus 116 getroffen habe. Sie war ein Jahr jünger und besuchte das Mädchengymnasium. Ihr Zuhause lag im Armutsgebiet südlich der H. Landstraße. Anfangs war sie ein pummeliger Trampel mit pickeliger Haut im Gesicht. Meist trug sie einen Plastikmantel und weiße Stiefel aus PVC, wie sie damals Mode waren. K fand sie wie alle Mädchen höchst ekelig. Wahrscheinlich aber war sie nett und wird die Welt nicht anders gesehen haben als wir auch. So wie aus einer Raupe ein bunter Schmetterling steigt, wurde sie fast über Nacht groß, blond und schön. Ganze Schülerjahrgänge wollten ihr ans Höschen. Suche ich heute im Internet nach ihr, sieht mich eine alte weißhaarige Frau an. Oft habe ich auch Steffanie auf dem Weg zur Schule getroffen. Leider dauerte es lange, bis wir uns trauten, miteinander zu reden. Erst als es zu spät war, konnte ich mir eingestehen, wie gut sie mir gefallen hat. Gerne wäre ich ihr Held gewesen.

And the ladies treat me kindly. Nie werde ich Isa vergessen, ein wunderschönes, selbstbewusstes Mädchen. Einige Male hatten wir uns in einer Arbeitsgruppe getroffen, bei einem Workshop zur Selbsterkundung und Vorbereitung der Weltrevolution. Plötzlich nahm sie mich in den Arm, sagte ich wäre toll, Dann küsste sie mich. Mit so viel Zuneigung konnte ich nicht umgehen. Ich hatte doch gar nichts gemacht. Sie hatte einen Freund, so einen ganz erwachsenen, der studierte, mit eigener Wohnung und Auto, der schon wusste, was er vom Leben wollte. I was stuck inside of Mobile with the Memphis Blues again. Ob sie sich an mich erinnert?

Anfangs war ich nicht gerade der Held der sexuellen Befreiung und habe mich in der gruseligen Verklemmtheit meiner Familie und Schule mit Gefühlen und Mädchen nur langsam entfaltet. Kann man sich beim Fummeln anstecken? Wird man vom Küssen schwanger? Ist es schöner, wenn man das Licht anlässt? Darf man nach Verhütung fragen? Und wie macht man das? In der Generation unserer Nazi-Väter hatten die meisten Jungen nicht gerade gute Vorbilder für das Dasein als Mann und eine befriedigende Sexualität. Zwar habe ich einmal Kondome in der Nachttischschublade meines Vaters gefunden, aber nie wäre ich auf die Idee gekommen, ihn um Rat zu fragen.

Nie werde ich die Tage vergessen, an denen ich bei einer meiner ersten Freundinnen zu Hause war. Sie wohnte im etwas besseren Teil unseres Viertels. Ihr Abitur war gefährdet, und sie brauchte dringend Unterstützung in Mathematik. Mehrere Monate habe ich ihr erfolgreich Nachhilfe gegeben. Viele Jahre war ich heftig verliebt in sie, body, spirit and soul. Heute wären wir seit Jahrhunderten geschieden wie alle anderen auch. Im Winter 68/69 nahm mich mein Vater beiseite und fragte, wie ernst es denn sei. Müssen wir ihr denn etwas zu Weihnachten schenken? Ich hätte ihn umbringen können. Die Mutter meiner Freundin mochte mich, vermutlich erschien ich ihr weniger schlimm als die anderen Freunde ihrer Tochter. Später erfuhr ich den Grund. Ich sah nicht so aus, als würde ich Haschisch rauchen. Beeindruckt hat mich das respektvolle Verhalten ihrer Eltern. Es war so völlig anders als bei mir zuhause. Immer wenn wir zu zweit in ihrem kleinen Zimmer saßen, hat ihr Vater angeklopft, bevor er hereinkam. Dies Verhalten erschien mir damals als eine unglaubliche Geste von Achtung. Jahrzehnte später sagte meine Freundin, „sie wollten doch nur kontrollieren, ob ich rummache“. Dass ihr freundlicher Vater als junger Leutnant wahrscheinlich überzeugter Anhänger des Nationalsozialismus war, sollte ich erst in diesem Jahrtausend erfahren.
 
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01.11.2011
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Hamburg
Tripreport TEIL 11

Nun habe ich das unglaublich dumme Kunststück fertig gebracht, ein Glas Baileys in mein Apple Macbook zu gießen. Habe nun erst einmal einen neuen besorgt, um weiter schreiben zu können. Idiot wind.

Heute abend wird es mehr vom Interconti und aus der Vergangenheit geben.

Anybody out there?
 
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