Tripreport TEIL 4
Auch wenn die eigentliche Reise noch gar nicht angefangen hat, nachfolgend ein Textteil, den ich gerade im ICE zwischen Berlin und Hamburg überarbeitet habe. Reiseschilderungen aus Brüssel
Manuskript 4
Paris Brüssel mon amour
Die Kriegserlebnisse meines Vaters sind für mich die Geschichten eines Fremden, wie eine Reise in ein fremdes Land, wie das Sezieren eines Unbekannten. Obwohl der Krieg das entscheidende Ereignis in Karls Leben war, gab es in meiner Familie kaum Spuren der Vergangenheit. Keine Veteranentreffen, keine engen Freundschaften, wenig Erinnerungsstücke. Nur Schweigen. So wie die meisten Erwachsenen hatte mein Vater die Kriegsjahre aus seinem Leben verdrängt, zumindest äußerlich. Als er 1981 starb hinterließ er nur wenig Persönliches. In seinen Sachen fand ich seine militärischen Orden und einen Umschlag. Sein Inhalt war ein Brief in französischer Sprache, einige alte Schwarzweiß-Fotos und eine handschriftliche Notiz. Alles betraf seine Kriegszeit in Brüssel. Mein erster Eindruck war, dass Karl im Krieg eine Freundin hatte. Doch der Gedanke entglitt mir schnell wieder. Auf seltsame Art ließ mich das Ganze unberührt. Mit meiner Mutter habe ich nie über diesen Fund gesprochen, weder nach Vaters Beerdigung noch später. Meiner Schwester habe ich davon erzählt, aber es interessierte sie nicht. Nach einigen Tagen habe ich alles in einen Umschlag gesteckt und den Inhalt für Jahrzehnte aus meinem Gedächtnis verbannt. Erst vor wenigen Jahren habe ich ihn wieder herausgeholt und mich in die alten Notizen und Fotos vertieft. Plötzlich erkannte ich die Zusammenhänge, die Geschichte von Karl und Yvonne in den Jahren des Krieges.
Die alten Fotos zeigen drei Personen in unterschiedlichen Konstellationen, Yvonne, Louis und meinen Vater. Yvonne war offensichtlich seine Freundin. Louis ist ein kleiner Junge. Nebeneinander gelegt sind die Fotos typisch für eine Familie aus Mann, Frau und Kind. Mein Vater und Yvonne zeigen sich als Liebes- oder Ehepaar. Louis ist zweifelsfrei ihr Sohn. Wäre mein Vater auch sein Vater hätte ich einen Halbbruder. Eines der Fotos zeigt Karl aufgeputzt in voller Uniform mit Yvonne im Arm auf einem Brüsseler Boulevard. Er ist ein stolzer deutscher Soldat mit einer schönen Frau an seiner Seite. Mich berührt dieses Foto, denn ich habe ihn nie mit diesem Körperausdruck von Stolz und Glück erlebt. Oft habe ich es betrachtet und meine Gedanken wandern lassen. Ausdruck und Haltung zeigen nicht nur meinen Vater, sondern auch die deutsche Vergangenheit. Karl war der erfolgreiche Eroberer in einem besiegten Land. Mehrfach habe ich die Fotos guten Freunden gezeigt. Alle teilten meinen Eindruck. Mein Vater hat in Brüssel mit Frau und Kind gelebt. Offenbar besaß er schon eine Familie, bevor es meine Mutter, meine Schwester und mich in seinem Leben gab. Umstände und Art der Unterlagen zeigen mir, dass es sich um eine tiefere Beziehung gehandelt haben muss. Vermutlich hat er mehrere Jahre mit Yvonne zusammengelebt. Von Wehrmachtsangehörigen habe ich erfahren, dass solche „Beziehungen“ von vorgesetzten Offizieren toleriert wurden, auch wenn Eheschließungen untersagt waren. Offensichtlich war die Beziehung zu Yvonne sehr viel mehr als ein Kriegsabenteuer, mehr als die Beute des Siegers.
Am 17. Mai 1940 eroberte die Wehrmacht die belgische Hauptstadt. Im September 1944 wurde die Deutschen wieder vertrieben. Damit habe ich die Zeitspanne von Yvonnes und Karls Beziehung eingegrenzt. Jetzt passt es, dass mein Vater so häufig in seinem freudlosen, kleinen Zimmer saß und für Stunden seine Erinnerungen anstarrte. Mehrfach habe ich ihn als Kind dabei überrascht. Immer wirkte er weit weg. Heute verstehe ich es.
Auf den Fotos empfinde ich Yvonne als sympathisch und warm. Sie ist eine elegante, schöne Frau. Yvonnes Nachnamen finde ich in keinem belgischen Telefonbuch, ich kann keine Spur mehr aufnehmen. Einem Brief von Louis entnehme ich, dass Yvonne kein Französisch sprach. Wahrscheinlich war sie Flämin. Gerne möchte ich alles über ihre Jahre mit meinem Vater wissen. Ihre gemeinsame Zeit ist eine wichtige Ursache der unglücklichen Ehe meiner Eltern. Gerne möchte ich sie fragen: „Was war Karl für ein Mensch? Wie war das Leben mit ihm? Wie waren deine Jahre danach?“
Was mag die beiden verbunden haben? Hat Yvonne Karl geliebt, oder diente die Beziehung lediglich der Versorgung, dem Überleben in schwierigen Zeiten? Wollten sie heiraten, planten sie Kinder? Aus welcher Familie stammte Yvonne, welchen Beruf hatte sie? Wovon hat sie geträumt? Welche Schwierigkeiten und Anfeindungen musste Yvonne nach dem Krieg wegen ihrer Beziehung zu einem „Boche“ erdulden, zu einem deutschen Schwein? Sie wird seit vielen Jahren verstorben sein, aber die Fragen lassen mich nicht los. Wie war Karls Alltag in Brüssel? War es eher wie in einer Behörde oder lebte er militärisch wie ein Soldat, mit gelegentlichem privatem Ausgang und wenig persönlichen Freiräumen? Durfte er seine Nächte mit Yvonne verbringen? Hatte er immer eine Waffe dabei? Gab es eine Bedrohung durch den Widerstand? War sein Job Verwaltungstätigkeit oder Kriegsgeschäft? War er an der Deportation von Juden beteiligt? Wenn ich könnte, würde ich tagelang fragen. Leider sind die Recherchen durch meine geringen französischen Sprachkenntnisse begrenzt.
Aus Karls Nachlass verfüge ich über einen vergilbten Zettel mit der Brüsseler Anschrift. Wenn ich richtig verstehe, lebten Yvonne und Karl hier in den Kriegsjahren. Ich bin neugierig und fliege im Juni 2007 für einen Tag nach Brüssel. Weil französische Sprache und Lebensart dominieren, ist die belgische Hauptstadt für mich wie Frankreich. Seitdem mich London langweilt, mag ich Frankreich und liebe Paris. Es ist eine großartige Stadt, in der Stationen der Métro so schöne Namen wie Bastille, République, Stalingrad und Europe tragen. Vor Jahrzehnten war die französische Hauptstadt das Ziel meiner Wochenendausflüge mit den Mädels Birgit und Maria. Später haben meine Frau Jurate und ich unsere Hochzeitsreise dort verbracht. Im kalten November Regen haben wir uns auf dem Eiffelturm ganz fürchterlich erkältet. Wir waren glücklich. Liebende sollten den Louvre sehen, durch die Gassen von der Métro-Station Barbès hinauf zum Sacré-Cœur spazieren und gemeinsam über das Häusermeer blicken. Paris ist meine Stadt, mein unerfüllter Lebenstraum. I was lost in France in love. Gerne hätte ich an der Sorbonne studiert, würde an der Universität über Verstand und Bewusstsein lehren oder kluge Bücher schreiben. Vielleicht würde ich mit einer Claire, Fabienne oder Madeleine am Boulevard St. Michel leben, täglich zu den „blauen Vögeln“ von Matisse gehen und die Gesichter der Menschen im Café Louvre studieren. Unsere Kinder könnten im Jardin du Luxembourg spielen. Jeder Mensch sollte Träume haben.
Mit solchen Gedanken fliege ich nach Brüssel. Die Vergangenheit meines Vaters hat mich gepackt. Das Viertel ist eine bunte Mischung aus Verfall, Romantik und Moderne. Der Boulevard Emile Jacqmain liegt nur wenige Minuten Fußweg vom Gare du Nord. Als Hausnummer 114 steht dort ein älteres gelbliches Haus, das es schon 1940 gab. Es ist das Eckgebäude zur Rue Saint Roche. In einem der Stockwerke werden Karl und Yvonne also gewohnt haben. Links befindet sich ein heruntergekommenes Hotel mit Namen Queen Anne, rechts das Restaurant La Mélodie du Goût, die Melodie des Geschmacks. Endlos stehe ich vor dem Haus und versuche ein Gefühl für meinen Vater zu entwickeln. Hier hat er also gelebt, in Wehrmachtsuniform, mit Orden auf der Brust, mit einer anderen Frau, möglicherweise mit einem anderen Sohn. Irgendwann ist der Tag vorbei und ich fliege zurück.
Einige Monate später reise ich ein zweites Mal in die belgische Hauptstadt. Die Vergangenheit meines Vaters lockt mich. Mit dem Thalys-Express fahre ich durch das kleine Land, das er vor fast siebzig Jahren erobert hat. In der Abendsonne gleitet der Zug in Richtung Brüssel und ich hänge bei einem Glas Wein meinen Gedanken nach. Warum haben sich bloß Jahrhunderte lang Menschen ihre Köpfe eingeschlagen?
Dann erreiche ich den Gare du Nord. Es ist Freitagabend, eine warme Herbstnacht, und die Straßen sind voller Menschen. Das Leben quirlt. In einer seltsamen Anwandlung wähle ich das Queen Anne, das heruntergekommen Hotel unmittelbar neben dem ehemaligen Wohnhaus von Yvonne. In der Mélodie du Goût esse ich Pasta Melanzane, vernichte Weißwein und gebe mich meinen Gedanken hin. Nach dem dritten Glas sehe ich meinen Vater in Wehrmachtsuniform um die Ecke kommen, doch es ist nur ein grauer EU-Beamter. Später, im Bett, wird mir bewusst, dass mein Vater nur wenige Meter hinter den Wänden gelebt hat. Ich erlebe eine seltsame Nacht aus verdrängten Gefühlen und bizarren Gedankenblitzen. Dort hat Karl gelacht und gevögelt. Mein Verstand springt hin und her. Würgend greift der Zensor nach mir. Zunehmend überkommt mich das Gefühl, ich tue etwas fürchterlich Verbotenes. Es ist, als wäre ich wieder ein kleiner Junge und würde unerlaubterweise den Schrank meines Vaters durchwühlen. Was mache ich hier? Aber ich kann mich aus meinen Zweifeln befreien. Nie war ich Karl so nahe wie in diesen Stunden.
Wie zwanghaft marschieren meine Gedanken zurück in die Kindheit. In Brüssel hat mein Vater eine Lebensphase verbracht, die ihm offensichtlich mehr bedeutete als sein späteres Leben mit meiner Mutter, meiner Schwester und mir. Dabei kann er höchstens vier Jahre mit Yvonne zusammengelebt haben. Doch manche Beziehungen sind derart prägend, dass ihre Bedeutung nicht nach Kalenderjahren zu messen ist. Der Krieg im Westen war gewonnen. Mein Vater gehörte zu den Siegern, lebte in einer schönen Stadt, mit einer schönen Frau, und fuhr seinen Lebenserfolg ein. Die Ostfront und Rommels Wüstenkrieg lagen weit entfernt. Es wird Karl gut gegangen sein, er wird Zukunftspläne mit Yvonne gehabt haben. Wie sollte er die Realität hinter der Realität erkennen können? Wie sollte er ahnen, dass der Krieg, der für ihn so großartig begonnen hatte, in der totalen Niederlage enden würde, dass er alles verlieren könnte?
Heute wäre Yvonne über neunzig Jahre alt. Wie mag ihr weiteres Leben verlaufen sein? War sie glücklich Und was wurde aus Louis? Er müsste etwa Siebzig sein. Lebt er ihn noch? Würde er sich heute noch an Monsieur Karl erinnern? In seltenen Momenten von Nähe hat mein Vater mir erzählt, dass in Belgien die glücklichste Zeit seines Lebens war. Es wird stimmen, in Brüssel hat er mehr persönliches Glück erlebt als je in seinem Leben. Obwohl die Welt in Flammen stand, war sein Alltag relativ friedlich. Aber es war Krieg, Karl war Soldat und seine Lebenssituation basierte auf Unrecht.
Wie mögen Yvonne und er ihre letzten gemeinsamen Stunden verbracht haben? War es wie im Filmklassiker Casablanca, als Ilsa und Rick auf dem Bahnhofsteig in Paris standen und die Kämpfe schon zu hören waren? Wie mag Yvonne diesen Tag erinnert haben? Das Ende wird wenig glücklich gewesen sein. Nach Kriegsende sind die Sieger mit Kollaborateuren brutal umgesprungen, besonders mit Frauen. Einerseits kann ich es verstehen, andererseits waren Kollaborateure ein wichtiges Feindbild, das nach Kriegsende half, eigene Schuldanteile zu verdrängen. Kollaborateure wurden verfolgt, gedemütigt und bestraft. Berichte und Fotos zeigen, wie die Résistance Freundinnen von Deutschen mit kahl geschorenen Köpfen, Schlägen und Beschimpfungen durch die Straßen gejagt hat. Sex mit dem Feind ist eine tiefe narzisstische Kränkung, die sich in Rache austobte. Bei Kriegsende wird es Yvonne nicht gut ergangen sein. Was hat ihr mein Vater bedeutet? Was hat sie nach 1945 über ihn gedacht? War er das wert?
Der Verlust von Yvonne hat meinen Vater lebenslang beschäftigt. Aber erst viele Jahre nach Kriegsende hat er aktiv gehandelt und erneut Kontakt zu ihr gesucht. Nach den Unterlagen in seinem Nachlass ist er im Juni 1961 zurück in seine Vergangenheit gefahren. Obwohl ich erst zehn Jahre alt war, erinnere ich diese Reise. Anlass war ein Fußballspiel in der belgischen Hauptstadt, HSV gegen Barcelona, ein legendäres Ereignis im Europacup. Jetzt verstehe ich, warum ich nicht mitfahren durfte. Als Kind war ich darüber enttäuscht, konnte ich meinen Vater doch sonst zu allen wichtigen Fußballspielen begleiten. Eltern glauben immer, Kinder würden nichts merken.
Karls Verlustgefühle müssen groß gewesen sein, um ihn zu veranlassen, fünfzehn Jahre nach Kriegsende nach Yvonne und Louis zu suchen. Welche Gedanken sind auf der Fahrt durch seinen Kopf gegangen? Einem Brief von Louis an Monsieur Karl entnehme ich, dass er Yvonne gefunden und getroffen hat. Sie hat sich über ihn gefreut. Also werden sie sich 1945 nicht im Streit getrennt haben. Wie verlief ihr zweiter Abschied?
Manchmal frage ich mich, warum er nicht schon vorher zu Yvonne gefahren ist? Schon in der unmittelbaren Nachkriegszeit wäre es ihm möglich gewesen. In den fünfziger Jahren musste er häufiger beruflich über Holland und Belgien nach England reisen. Trotz unserer Armut hatte er also Möglichkeiten, nach Brüssel zu gelangen. Ist er aus Resignation nicht gefahren, weil es für seine Lebenssituation keine glückliche Auflösung gab, oder war er vielleicht vorher schon in Brüssel? Wollte er seine Nachkriegsfamilie nicht verletzen?
Oder fürchtete mein Vater Belastendes aus seiner Vergangenheit? Gibt es doch noch etwas Verborgenes? War er wirklich nur ein kleiner Bürokrat oder an besonderen Kommandos und Schmutz beteiligt. Hatte er Angst? Hat er deswegen nie meine Mutter und uns Kinder in die DDR begleitet? Ich fühle mich zerrissen. Einerseits begleitet mich ein gewisses Misstrauen über die Kriegszeit meines Vaters, besonders die Jahre, in denen ich nichts über ihn finden kann, andererseits halte ich ihn nicht für einen „Mörder oder eine Nazibestie“. Wie Monster haben sich auch nur wenige Nazis aufgeführt. Die meisten verhielten sich rational, waren so deutsch und normal wie mein Vater.
Mehr denn je verstehe ich, dass Karl bis zu seinem Tod an seiner Zeit in Brüssel gehangen hat. Erfolg, Glück, Identität und Yvonne. Der Krieg, der ihm alles gab, entriss ihm alles und stellte seine Lebensuhr auf Null zurück. So gut wie in Brüssel ist es ihm nie wieder gegangen. Immer tiefer begreife ich, wie meinen Vater psychisch funktionierte. Liebte er Louis mehr als mich?
Im Herbst 2010 fliege ich erneut in die belgische Hauptstadt. Ich will herum stöbern und weitere Informationen suchen. Doch es gelingt mir nicht mehr, neue Hinweise zu finden. Deutsche, die nach dem Krieg fragen, sind nicht besonders willkommen. Doch meine Gedanken verkleben und entgleiten mir. Mein Vater interessiert mich zunehmend weniger. Die Nacht verbringe ich in einem uralten Hotel, das aussieht und riecht, als wäre es 1940 Gestapo-Hauptquartier gewesen. Charmant. Langsam verliere ich meine Befangenheit. Die Stadt der Gegenwart ist nicht das Brüssel der deutschen Herrschaft. Zwar gibt es schmutzige Ecken, in denen es unangenehm nach Pisse stinkt und ich besser nicht stehen bleibe, aber ich fühle mich in Brüssel wohl. Meine Gedanken verlassen Karl und den Krieg. Es ist vorbei, die Tür zu Karls Vergangenheit schließt sich. Ich gucke einigen Frauen in die Augen und denke an die vielen Tausend Leben, die ich hätte führen können, mit anderen Menschen, in anderen Zeiten, an anderen Orten, in anderen Ländern. Was ich wissen wollte, habe ich erfahren. Mehr kann ich nicht herausbekommen. Nach Brüssel werde ich nie wieder reisen, nicht wegen meines Vaters.