Hallo zusammen,
ich hätte ja nicht gedacht, dass ich hier so viel Resonanz ernte. Da ich aber ganz entgegen manchem Verdachts keineswegs Berufsdemonstrant bin, fasse ich mal ein paar Argumente zusammen. Ich hoffe, das ist ok. Leider wird es dadurch etwas länger.
1) Unter Bahn- und Straßenlärm leiden viel mehr Menschen, auch hier müsste es dann doch Beschränkungen geben
Zunächst mal hatte ich ja schon ausgeführt, dass das inhaltlich stimmt. Und im engen Rheintal gibt es auch Initiativen, die sich hier für eine Minderung des Lärms einsetzen, die meine volle Unterstützung haben. Aber „der darf das doch aber auch“ funktioniert eigentlich schon bei kleinen Kindern nicht.
Ich ganz persönlich komme mit Straßenverkehrslärm sehr viel besser klar, als mit Bahn- und Fluglärm, weil die beiden letzteren eben extreme Pegelschwankungen haben. Ich würde daher auch nie an eine Bahnlinie ziehen. Aber ich persönlich bin natürlich kein Maßstab.
Dennoch möchte ich erneut auf die Unterschiede der verschiedenen Lärmtypen hinweisen.
Da ist zunächst die Ausbreitung. Bahn- und Verkehrslärm nimmt mit der Entfernung zur Bahn bzw. Straße schnell ab. Schon eine Entfernung von wenigen Kilometern reicht, um sich dem Lärm zu entziehen. Fluglärm breitet sich dagegen flächig aus. Und Kilometer zählen dabei fast gar nicht.
Dann unterliegen Straßen- und Bahn-Bauten einem langwierigen Genehmigungsverfahren mit entsprechenden Beteiligungsrechten. Dies ist bei Flugrouten nicht der Fall, sie kommen Deus ex machina über einen. Das sieht man z.B. auch gut am neuen Flughafen Berlin. Dort haben Betroffene gerade im Hinblick auf angekündigte Routen ihre Immobilienentscheidung getroffen. Nur wurden die angekündigten Routen in den letzten Jahren geändert. Ätsch!
Und auch hier nochmal der Vergleich mit der Bahn: nehmen wir an, hier wird wirklich direkt an meinem Grundstück eine neue Bahnlinie gebaut. Dann habe ich natürlich dennoch das Problem, dass ein Umzug mit erheblichen wirtschaftlichen Nachteilen verbunden ist. Aber immerhin könnte ich z.B. 5 km wegziehen, hätte mein persönliches Umfeld weitgehend erhalten und wäre trotzdem dem Lärm entflohen. Und die Wahrscheinlichkeit, dass fünf Kilometer weiter die nächste Eisenbahnstrecke gebaut wird, ist doch sehr, sehr gering.
In Frankfurt gibt es Menschen, die vor zwanzig Jahren schon einmal durch Umzug dem Fluglärm entfliehen wollten und dafür entsprechend weiter weg vom Flughafen gezogen sind. Und die jetzt vom Fluglärm wieder eingeholt werden. Doppel-Ätsch sozusagen.
Und Last but not least: Zumindest im Straßenverkehr kenne ich zeitliche Betriebsbeschränkungen. Da dürfen bestimmte Fahrzeuggattungen – z.B. LKW, Motorräder – bestimmte Straßen oder Gebiete nachts oder an Feiertagen nicht befahren. Was besonders lustig wird, wenn gleichzeitig die Flugzeuge drüber donnern.
2) Der Fluglärm wird als laut und störend empfunden, weil man für das Thema sensibilisiert ist
Auch da kann ich nur für mich persönlich sprechen: da ist was dran.
Wie beschrieben war das ganze Thema bis zum Februar 2011 keines, was mich berührt. Inzwischen höre ich z.B. auf Reisen sehr genau, wo es überall Flugbetrieb gibt.
Gleichzeitig versuche ich dabei, selbstkritisch zu bleiben. Dabei finde ich es hilfreich, dass es inzwischen ja ein relativ dichtes Netz von Messstationen gibt, teilweise von Privatleuten finanziert und betrieben. So kann man feststellen, dass nicht zwingend jeder Überflug ein unzumutbares Ereignis ist. Wenn ich aber den Lärm des überfliegenden Flugzeuges bei offenem Fenster als Vibrationen im Boden und im Tisch spüre, ist es wohl nicht nur Einbildung. Und wie gesagt, wir sind hier vierzig Kilometer von der Landebahn weg.
Was man so auch feststellen kann: ich habe keine Ahnung, warum, ob „irgendwas“ geändert worden ist oder ob es einfach an der Wetterlage liegt: es ist etwas leiser geworden verglichen mit dem Sommer letzten Jahres. Nicht so, dass jetzt alles Friede Freude Eierkuchen ist, aber immerhin. Auch da ist es hilfreich, die eigene Wahrnehmung mit Messwerten abgleichen zu können.
Dennoch gehe ich davon aus, dass der Protest im Sommer noch Zulauf bekommen wird, wenn die Menschen eben auch Garten und Terrasse nutzen wollen.
3) Man hätte wissen müssen, wie Laut es wird
Auch an diesem Punkt ist etwas dran.
Allerdings wurde von Seiten der Politik und der Wirtschaft wohl systematisch versucht, die Auswirkungen gering erscheinen zu lassen. Dazu gehörte auch das Mediationsverfahren. Auf den Karten mit den Auswirkungen des Ausbaus ist unser Wohnort wie gesagt nicht enthalten. Der an Frankfurt sehr weiträumige Gegenanflug wurde gar nicht thematisiert. Stattdessen ging es in erster Linie um Abflugrouten.
Und wieso wird hier von den Bürgern verlangt „das hätte man doch wissen können“, wenn der hessische Wirtschaftsminister Dieter Posch, Chef der obersten Genehmigungsbehörde und damit an Zuständigkeit gar nicht mehr zu überbieten, vor laufenden Kameras sagt: „Dass es so laut wird, haben wir nicht erwartet“. Hätte man als kleiner, vertrauensvoller Bürger also schlauer sein müssen, als ein solcher Minister?
Aber selbst wenn: was hätte man daraus für einen Schluss ziehen sollen? Einen Umkreis von hundert Kilometern um die Landebahn meiden? Alles andere ist doch witzlos, Flugrouten sind extrem beweglich.
4) Die Forderungen nach Schließung der Landebahn und einem Nachtflugverbot von 6:00 bis 22:00 können niemals erfüllt werden, weil wirtschaftliche Notwendigkeiten dagegen sprechen. Und wenn doch, versinkt das Rhein-Main-Gebiet in Bedeutungslosigkeit
Ganz generell und vorne weg: Wie ist das eigentlich: Ist Wirtschaft ein Selbstzweck? Dienen wir da einer neuen Gottheit, oder war die ganze Chose mit der arbeitsteiligen Wirtschaft nicht ursprünglich dafür gedacht, allen ein einfacheres und sorgenfreies Leben zu bescheren? Aber da wird es ganz schnell sehr grundsätzlich.
Also etwas konkreter:
„Prognosen sind schwierig, besonders wenn sie die Zukunft betreffen.“ (das Zitat wird verschiedenen Autoren zugeschrieben)
Und da das mit der Zukunft so schwierig ist, hilft vielleicht der Blick in die Vergangenheit. Da wurde in den siebziger Jahren gegen Luftreinhaltungstechnologie argumentiert, dass das die deutsche Wirtschaft schwächt. Im Rhein konnte man lange Jahre nicht mehr schwimmen, bis hier durch Gesetze Grenzen gezogen wurden. Die Chemie-Standorte entlang des Flusses existieren immer noch. Danach führte die Einführung der Katalysatoren zum Untergang der Automobilindustrie. Zuletzt wurden durch das überstürzte Abschalten der Atomkraftwerke – übrigens sogar ohne Regierungswechsel in einer laufenden Legislaturperiode – ganze Regionen in nächtliche Dunkelheit gestürzt und beim Daimler standen die Bänder still, quelle catastophe.
Und? Der deutschen Wirtschaft geht es gut wie nie, Arbeitslosenquote auf dem Tiefststand, beste Aussichten, während die ganze Welt von Krise spricht.
Vielleicht ist unsere Wirtschaft an dieser Stelle viel flexibler und erfindungsreicher, als man denkt? Vielleicht geht es nur darum, sich nicht über die Maßen anstrengen zu müssen? Um einfach noch viel mehr Profit?
Was es dafür aber braucht: klare und langfristig planbare Randbedingungen, auf die sich die Unternehmen einstellen können.
Z.B. war ich beim Anflug des Kanzlerinnen-Airbus in Flörsheim. Und vollkommen verblüfft, wie leise dieser Anflug war, wenige Kilometer von der Landebahn entfernt. Leider war das eine Ausnahme, ein paar Stunden später ging das los, was man wohl Regelbetrieb nennt und was von Betroffenen als Terror beschrieben wird.
Und: ganz ehrlich wäre mir das Nachtflugverbot und auch die Anzahl der Flugbewegungen wurscht. Mich stören ja die Auswirkungen, nicht die Tatsache an sich. Also sollte man nicht mit Betriebsbeschränkungen argumentieren, sondern mit messbaren Größen, die einzuhalten sind. Da dieses aber nicht kurzfristig umzusetzen ist, führt an den Betriebsbeschränkungen zunächst kein Weg vorbei.
Inzwischen plädieren übrigens sogar Wirtschaftsverbände und Unternehmen für eine Balance zwischen Flugverkehr und Lebensqualität, so z.B. die IHK Rheinhessen oder der Deutschland-Chef der Fa. Boehringer Ingelheim.
http://www.wiesbadener-kurier.de/nachrichten/politik/hessen/11628377.htm#
5) Der Begriff der Montagsdemos
Ich habe dafür ja schon Abbitte geleistet. Und wenn das möglich ist, kann mir vielleicht ein Moderator bei der Änderung meines Nicks behilflich sein. Da habe ich überhaupt kein Problem mit.
Und gerade angesichts der Geschehnisse in Syrien und Ägypten, aber auch in Russland, China und den USA bin ich wirklich froh, hier zu leben.
Das kann aber nicht bedeuten, zu allen lebensfeindlichen Umständen, die es auch bei uns gibt, zu schweigen. Unsere Arbeits- und Lebensbedingungen sind, wie sie sind, weil auch in der Vergangenheit dafür gekämpft wurde.
Und eine Parallele gibt es doch zu den Montagsdemos in Leipzig: Wer hätte ein Jahr vor dem Zusammenbruch der DDR darauf gewettet, dass die Mauer fällt? Und so scheint auch der Protest der Fluglärmgegner aussichtslos: „Wirtschaft“, „Arbeitsplätze“, „Wachstum“. Aber wer weiß?
Aber ganz klar: damit hört die historische Parallele auch aus meiner Sicht auf, akute Lebensgefahr besteht nicht. Gott sei Dank.
Bis hierhin wirklich gelesen? Alle Achtung & vielen Dank
Grüße
Der, der Montags auf der Demo ist