Deutschland hat seine Kernenergie im Wesentlichen durch Kohle ersetzt. Die Datenwissenschaftlerin Hannah Ritchie zieht eine kritische Bilanz der Energiewende: Der Klimaeffekt erneuerbarer Energien verpufft – und die Gesundheit der Deutschen leidet.
www.welt.de
Zitat(e):
......Das Problem besteht darin, dass es zwar die Solar- und Windenergie ausbaut, was zu begrüßen ist, aber gleichzeitig Kernkraftwerke schließt. Weil Kernkraft eine klimafreundliche Energiequelle ist, wurde ein Großteil des Zugewinns bei der Stromerzeugung durch Sonne und Wind mit dem Ausstieg aus der Kernenergie zunichtegemacht. Deutschland hat eine kohlenstoffarme Quelle durch eine andere ersetzt. Mittlerweile ist die Kohleförderung zurückgegangen, allerdings nicht so schnell, wie es hätte sein sollen. Also nein, ich
feiere den Atomausstieg nicht. Es war eine schreckliche Entscheidung im Kampf gegen den Klimawandel. Durch die hohe Luftverschmutzung mit Kohle, die stattdessen hätte abgeschaltet werden können, wird der Atomausstieg zu einer Verschlechterung der Gesundheit der Deutschen beigetragen.
WELT: Was ist Ihr Hauptproblem beim Atomausstieg in Deutschland?
Ritchie: Kernkraft ist eine sichere und CO₂-arme Stromquelle. Durch den Ausstieg hat Deutschland seine Abkehr von der Kohle verlangsamt und trägt damit stärker zum Klimawandel und zur Luftverschmutzung bei.
Ritchie: Zwischen 2010 und 2022 hat Deutschland mehr Atomkraft vom Netz genommen als Kohle. Es reduzierte den Kernkraftstrom um 104 Terawattstunden (TWh) und den Kohlestrom um lediglich 82 TWh. Stellen Sie sich stattdessen ein gegenteiliges Szenario vor, bei dem die Atomenergie im Netz gehalten und stattdessen die Kohle durch erneuerbare Energien ersetzt worden wäre. Der Kohleausstoß könnte um 186 TWh zurückgegangen sein – mehr als doppelt so viel wie in der Realität. Deutschland bezieht immer noch 31 Prozent seines Stroms aus Kohle. Dieser Wert hätte bei nur 13 Prozent gelegen, wenn allein die Kernkraftwerke seit 2010 nicht abgeschaltet worden wären.
Ritchie: Deutschland stößt im Vergleich zu seinen Nachbarn viel CO₂ pro Stromeinheit aus, weil es immer noch stark auf Kohle angewiesen ist. Es hat nach Polen und Tschechien den drittgrößten Treibhausgasanteil in Europa. Es stößt pro Stromeinheit 4,5-mal mehr CO₂ aus als Frankreich und 8,5-mal so viel wie Schweden.
WELT: Deutschland wird eines der letzten Länder in Europa sein, das sich von der Kohle verabschiedet. Was ist schiefgelaufen?
Ritchie: Die meisten Länder in Europa planen, in den 2020er-Jahren aus der Kohle auszusteigen. Einige davon Anfang der 2030er-Jahre. Deutschland hat sich derzeit zu einem Ausstieg bis 2038 verpflichtet. Die deutsche Energiewende basiert auf der Prämisse „Wachstum und Wohlstand ohne Erdöl und Uran“. Für ein Land, das erneuerbare Energien unterstützt, ist das ein gutes Ziel. Das Problem besteht darin, dass Deutschland mehr Wert auf die Abschaffung von Uran, also von Atomkraft, legt, als auf die Abschaffung fossiler Brennstoffe. Für Klima und Gesundheit ist das eine schreckliche Entscheidung. Die Reihenfolge hätte andersherum sein sollen. Es hätte so viel Kohle wie möglich abschaffen sollen, bevor eines seiner Kernkraftwerke geschlossen wurde.
WELT: Der Ausstieg aus der Atomenergie hatte für die deutsche Grüne Bewegung immer eine höhere Priorität als die Befreiung des Landes von fossilen Brennstoffen. Wie passt das mit der Aussage derselben Bewegung zusammen, dass der Klimawandel das drängendste Problem unserer Zeit sei?
Ritchie: Es passt nicht zur Aussage. Man kann nicht behaupten, der Klimawandel sei das drängendste Problem unserer Zeit, während gute Kernkraftwerke geschlossen werden. Sie nehmen wertvollen CO₂-armen Strom vom Netz und verlangsamen gleichzeitig den Niedergang fossiler Brennstoffe.
„Wir überschätzen die Gefahren der Atomkraft“
WELT: Deutschland hat stark in erneuerbare Energien investiert. Mittlerweile liefern Solar- und Windenergie etwa ein Drittel des Stroms – etwa viermal mehr als im Jahr 2010. Als einer der ersten Anwender hat Deutschland diese Technologien auch für andere Länder billiger gemacht. Wie viel der hinzugefügten Energie aus erneuerbaren Energien wurde durch den Rückgang der Kernenergie in Deutschland ausgeglichen?
Ritchie: Der Atomausstieg kompensierte mehr als 70 Prozent des Zuwachses an erneuerbaren Energien in Deutschland. Deutschland hat zwar eine entscheidende Rolle bei der Steigerung der Solar- und Windenergie gespielt, was große Anerkennung verdient. Seit 2010 ist die Erzeugung erneuerbarer Energien in Deutschland um 145 Terawattstunden gestiegen – eine Terawattstunde entspricht dem jährlichen Stromverbrauch von rund 140.000 Deutschen. Gleichzeitig aber ging die Kernenergie um 104 TWh zurück. Das bedeutet, dass der Nettozuwachs an kohlenstoffarmem Strom nur 41 TWh statt 145 TWh betrug.
WELT: Das Hauptargument der Aktivisten gegen Atomkraft ist, dass sie gefährlich sei. Sie haben einen Vergleich zur Kohle berechnet. Was ist das Ergebnis?
Ritchie: Eines der Hauptanliegen bei der Kernenergie ist die Sicherheit, oft weil einem die großen, aber seltenen Atomkatastrophen wie Tschernobyl und
Fukushima in den Sinn kommen. Aber insgesamt ist die Kernenergie heute unglaublich sicher. Vor allem im Vergleich zu Kohle. Wenn wir die Sterberaten – also die Zahl der Todesfälle, die man pro Stromerzeugungseinheit erwarten würde – verschiedener Stromquellen vergleichen, sind Atomkraft und erneuerbare Energien um Größenordnungen niedriger als Kohle. Kohle ist etwa 1000-mal tödlicher als Atomkraft. Und das ist wahrscheinlich eine Unterschätzung. Dabei sind die künftigen Auswirkungen des Klimawandels noch nicht berücksichtigt. Wir überschätzen die Gefahren der Atomkraft und unterschätzen jene der Kohle, weil die Luftverschmutzung durch fossile Brennstoffe oft verborgen bleibt. Dennoch sterben weltweit jedes Jahr Millionen Menschen daran.
Ritchie: Studien haben sich mit den Auswirkungen des deutschen Atomausstiegs auf die lokale Schadstoffbelastung befasst. Eine Studie schätzt, dass der Atomausstieg zwischen 2012 und 2019 in Deutschland zu rund 800 zusätzlichen Todesfällen pro Jahr geführt hat. Das bedeutet mehr als 6000 zusätzliche Todesfälle in mehr als einem Jahrzehnt. Vergleichen Sie das mit Tschernobyl und Fukushima. Auch diese Schätzungen sind unsicher. Es ist aber wahrscheinlich, dass bei diesen Katastrophen insgesamt weniger als 1000 Menschen gestorben sind. Nur eine Person starb in Fukushima an Strahlung. Selbst wenn wir einige der höchsten Schätzungen für diese Katastrophen annehmen, sind diese mit den Tausenden von zusätzlichen Todesfällen in Deutschland durch Kohleverschmutzung vergleichbar.
Zitate Ende.
Die britische Datenwissenschaftlerin Dr. Hannah Ritchie ist leitende Forscherin an der Universität Oxford in der Oxford Martin School und Forschungsleiterin bei Our World in Data. Sie befasst sich mit der langfristigen Entwicklung der Lebensmittelversorgung, Landwirtschaft, Energie und Umwelt und deren Vereinbarkeit mit der globalen Entwicklung.
Die Ritchie ist absolut unverdächtig, ein Fan der KKW zu sein. Wollten wir nicht alle auf DIE Wissenschaft hören? Nun bitte.