Großpolen und Schlesien - mit dem Fahrrad

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Wolke7

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30.08.2010
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Eine kurze Einführung:
Wer den Roman Jules Vernes 'In 80 Tagen um die Welt' liest, bekommt unwillkürlich Fernweh. Der Wunsch nach abenteuerlichen Erlebnissen, dem Entdecken persönlich noch unbekannter Gegenden und die Teilhabe am Alltagsleben anderer Kulturen und ihrer Menschen werden zu einem unbändigen Wunsch, dem Nachzugeben eigentlich das Eingebundensein in berufliche und private Zwänge verbietet. Wer sich dennoch den Freiraum für eine größere Reise verschaffen kann, wird sich unweigerlich dieser Leidenschaft hingeben und jeden Tag die Augen mit einem erweiterten Blick öffnen. So etwas den geneigten Vielflieger/innen berichten zu wollen, hieße eigentlich Eulen nach Athen zu tragen. Dennoch gestatte ich mir den Versuch, da eine Fahrradreise auch eine bewußte Abkehr vom gewohnten Denken in Standards der Flug-Premiumklassen oder der internationalen Atmosphäre in den globalen Hotelketten bedeutet.
Das Entdecken und Verstehen der kulturellen Identität, das Erleben der Geschichte und die Interaktion mit den Einheimischen stehen im Fokus meiner Fahrradreisen. Besonders in den Orten, in die sich normalerweise keine Fremden verirren, wird das Normale zu einer wichtigen Quelle. Daneben gehören natürlich auch die touristischen Hotspots zu den Höhepunkten einer Radreise. Ich plane also eine Route anhand von Orten, die als sehenswert beschrieben werden, und komme unterwegs noch an einer Vielzahl weiterer Entdeckungen vorbei. Dabei sind die zurückgelegten Distanzen und die erklommenen Höhenmeter nachrangig; die geneigte Leserschaft möge daher bitte in mir keinen verkappten Tour de France-Sportler sehen, sondern den genußvollen Langsamfahrer, der jedem 'falschen' Abbiegen etwas Positives abgewinnen kann. Je länger ich unterwegs bin und je mehr ich sehe, desto deutlicher wird mir die sokratische Erkenntnis: οιδα ουκ οιδα. Ich weiß, daß ich nichts weiß.
Die Umstellung auf das Unterwegssein für mehrere Monate ist allein schon eine nachhaltige Erfahrung. Ich habe gelernt, daß alles Lebensnotwendige bequem auf einem normalen Fahrrad-Gepäckträger Platz findet, darin sind schon eine Camping-Ausrüstung und ein kleines Notebook mit Zubehör enthalten. Selbst manche liebgewordene Annehmlichkeiten, sei es eine tägliche warme Dusche oder die Fußball-WM auf dem brandneuen HDTV-Megabildschirm – ja selbst die Statuskarte des VFP, mutieren zur Nebensache, wenn man sich auf das Wesentliche fokussiert. Das Wichtigste: Die populäre Erkenntnis 'Weniger ist Mehr!' erfährt beim Radfahren eine valide Bestätigung. Wer sich mit geschärften Sinnen und offenem Geist dem Erleben hingibt, wird reich mit Eindrücken belohnt und von den Einheimischen als gleichberechtigter Gast akzeptiert.

Hier nun der Bericht über die Sommertour 2010: Mit dem Fahrrad durch Großpolen und Schlesien. Nach 3 Monaten und drei Wochen, nach über 4300 km und etwa 1500 Bildern ist dieser Reisebericht entstanden.
Es ist das erste Mal, daß meine Wenigkeit die Erlebnisse veröffentlicht. Für Rückmeldungen über Umfang, Stil oder Qualität bin ich sehr dankbar.
 

Wolke7

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30.08.2010
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1. Etappe

Endlich geht es wieder los! Von Berlin aus fahre ich zur Oder; im Zug nach Schwedt war es gerammelt voll. Es ist schon erstaunlich, wie viele Radfahrer das gute Wochenendwetter zu einer Spritztour nutzen, und wie eng sich die Räder, z.T. mit Anhänger in dem kleinen Abteil stellen lassen. Unter Gleichgesinnten findet man sofort Gesprächsthemen, so ist die Fahrt bis Angermünde ein kurzweiliges Erlebnis. Ein Paar fährt ab Bernau eine Tagestour nach Eberswalde; eine 6köpfige Gruppe nutzt das gesamte Wochenende für eine Fahrt durch das Oderbruch. Bin gespannt wie weit sie kommen; die Fahrräder waren noch ganz neu, und die Damen berichteten, sie hätten noch nie eine längere Tour unternommen.
Ab Schwedt geht es dann auch bei mir los. Bei der Fahrt über die Oderbrücke offenbart sich das Hochwasser noch einmal. Die gesamten Oderauen vor dem Deich stehen unter Wasser, hin und wieder ragt ein Baum bzw. eine Buschgruppe aus dem Wasser. Das Leben in Schwedt und auf der polnischen Seite bleibt jedoch unberührt. Direkt hinter dem Deich werden die Vorbereitungen für ein ausgelassenes Volksfest abgeschlossen. Außerdem offenbart mein Hintern, daß der alte Sattel stark durchgesessen ist. Wenn sich der Sitzkomfort nicht schnell bessert, werde ich bei nächster Gelegenheit einen neuen Sattel einsetzen.

Den ersten Stop gibt es in Chojna, einem Städtchen mit mittelalterlicher Geschichte, wovon noch heute die Kirche und das spätgotische Rathaus sowie einige Stadtmauerreste erzählen. Leider sind die Bauwerke an diesem Samstag Nachmittag geschlossen, der äußere Eindruck bleibt jedoch.
Danach geht es weiter durch die leicht gewellte Endmuränenlandschaft. Rechts und links wächst überwiegend Weizen, jedoch überhaupt nicht zu sehen ist Raps, der doch eigentlich gerade in voller Blüte stehen müßte.
In Chwarszczany hat eine Templerkirche die Zeit überstanden. Im Inneren sind noch ein paar Malereien erkennbar, jedoch darf der neugierige Besucher nur den Vorraum betreten, so daß die Details in unerreichbarer Ferne bleiben.
Eigentlich hatte ich Kostrzyn als Höhepunkt des östlichen Lebuser Landes eingestuft. Immerhin war die Stadt einmal das wichtigste Zentrum der Neumark und besaß am Zusammenfluß von Warthe und Oder eine gigantische Festung, in der sich das gesamte Leben abspielte. Sogar der Deutsche Orden war kurzzeitig Besitzer von Festung und Stadt. Zwei schwere Brände, 1861 und 1945, haben jedoch nur einige kümmerliche Fundamentreste stehen lassen. Man muß schon sehr viel Phantasie mitbringen, um sich das Leben in dieser Festung vorzustellen. Das historisch einprägsamste Erlebnis war wohl die Enthauptung des jungen Leutnants Katte – nicht nur für den Kronprinzen Friedrich.
Positiv überrascht bin ich vom vorzüglichen Radweg entlang der Hauptstraße von Kostrzyn nach Gorzow Wielkopolski: durchgängig und gut ausgebaut.
Gorzow Wielkopolski selbst ist eine reine Industriestadt mit den typischen Wohnblocks der Nachkriegszeit und einigen historisierten Giebelhäusern im Zentrum. Einzige Ausnahme ist die Kathedrale an der zentralen Stadtkreuzung. Ähnlich wie in Kolobrzeg zeigt sie sich mit einem mächtigen Querriegel aus Backstein. Das Innere ist weitgehend verloren gegangen. Das Auge klebt einzig an der Kanzel, an der vier anthropoide Torsi mit Gesichtern, halb Mensch, halb Evengelistensymbol zu sehen sind.
Für die Weiterfahrt nutze ich jetzt den Waldweg ab Deszczno. Einerseits herrscht hier kein Verkehr, andererseits leben hier unzählige Mücken; eine beißt sich an der Achillessehne fest und hinterläßt eine schmerzende Wunde. Unterwegs merke ich wie das im letzten Jahr gelernte polnische Grundvokabular gepaart mit einfachen Grammatikregeln wiederkommt. So konnte ich immerhin schon wieder einen Ladenbesitzer fragen, ob er bestimmte Wassersorten führt. Ja, ich glaube mich auf dem richtigen Wege.
 

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Wolke7

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30.08.2010
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3. Etappe

Die wenigen Kilometer nach Leszno sind schnell geschafft. Auch hier darf man den polnischen Straßenplanern ein Kompliment für die Berücksichtigung der Radfahrer machen. Das größte Problem ist jetzt nur noch der neue Sattel. Der nette Verkäufer faselte was von einem bequemen Fahren. Ob der Sattel das auch weiß...?
Leszno hat einen bunten Marktplatz mit einem orangenen Rathaus mitten drauf. Nach der Zerstörung 1655 mußte die Stadt fast vollständig wieder aufgebaut werden; die meisten Arbeiten erfolgten erst nach 1700, eben auch der Wiederaufbau des Rathauses und der drei großen Kirchen. Innen sind sie alle barock ausgestattet, aber lediglich die Pfarrkirche sieht auch von außen so aus. Die anderen zeigen ihren ursprünglichen gotischen Charakter mit einem barocken Innenraum. Da stockt einem fast der Atem. Die ehemals evangelische Kirche ist von einem Friedhof umgeben, auf dem die in der Stadt verstreuten Grabsteine der Protestanten neu bestattet wurden; darunter ist z.B. der Erzieher der Königsfamilie Leszynski.
Es geht dann weiter nach Rydzyna, wo sich der eben erwähnte polnische König Stanislaw Leszynski vor seiner Entthronung und Abwanderung nach Lothringen ein Schloß hat bauen lassen. Die Anlage wirkt wie eine Stadt für sich mit einer geschlossenen Vierflügelanlage und einigen Nebengebäuden, allesamt säuberlich vom Dorf getrennt, das durch eine Allee auf das Schloß bezogen ist.
Etwas spektakulärer geht es in Pawlowice zu:
Anhang anzeigen VFTPolM94PawlowiceSchlo
ein zentraler Bau ist durch zwei halbrunde Galerien mit den Seitenflügeln verbunden. Der Zeit entsprechend (um 1780) ist die Fassade reich geschmückt mit florealen Fensterlaibungen, Reliefs und Simsfiguren. Vor Ort waren nur ein paar Arbeiter und eine Reinigungskraft. Ihnen etwas zu entlocken, war ein unmögliches Unterfangen. Immerhin haben sie mich mal einen Blick in die unteren Räume werfen lassen: alles leer, die Decken einschließlich des Stuckes durchfeuchtet und die Dielung marode. Hier muß offenbar noch so mancher Handschlag geleistet werden, bevor aus dem Schloß wieder ein Schmuckstück wird. Immerhin sieht die Anlage von außen schon sehr ansprechend aus.
Es geht dann weiter durch den Wald bei Drobnin; die Wege sind von den schweren Waldfahrzeugen richtig zerfurcht. An ein angenehmes Fahren war überhaupt nicht zu denken. So war ich froh, als ich endlich wieder die Hauptstraße nach Gostyn nutzen konnte.
Hoch oben auf einem Hügel am Stadtrand wurde 1675 ein Philipper-Kloster gegründet. Als heiliger Berg galt der Hügel schon lange, nun wurde aus der kleinen Wallfahrtskapelle also ein kultivierter Ort.
VFTPolM97GostynKloster.jpg
Die Kuppel ist schon von weitem zu erkennen; sie überragt förmlich alles, was irgend etwas mit Gostyn zu tun hat. Wirkt das Äußere noch monumental, ist das Innere fein und detailliert ausgeführt. Hier zeigt sich jetzt der sächsische Einfluß, nachdem August der Starke auch König von Polen geworden war. Es wurden besonders für den Kuppelbau italienische, tschechische und deutsche Architekten, Maler und Facharbeiter angeworben. Das Ergebnis ist eben die große Kuppel, die nach dem Vorbild venezianischer Barockkirchen gestaltet wurde.
Weiter ging es über die Dörfer bis in das kleine Örtchen Smielow. Hier steht ein Kleinod spätbarocker Repräsentationsarchitektur, das zwar noch barocke Elemente enthält, aber gleichzeitig auf der Suche nach etwas Neuem ist.
Anhang anzeigen VFTPolN02SmielowSchlo
Es ähnelt dem Schloß in Pawlowice als Zentralbau mit halbrunden Galerien und Seitenflügeln. Jedoch sind die Fassade und die Außenanlage schon der neuen Zeit verhaftet. Der Schmuck ist sparsam, lediglich ein paar Girlanden hängen an den Fenstersimsen. Und die Zufahrt steht im rechten Winkel ab, wo sie auf einen gerade ausreichenden Kreisel trifft. Womöglich war das Schloß von der Straße aus hinter den Bäumen verborgen, also für den Passanten unsichtbar. Ein absolutistischer Provinz-Patriarch hätte dem Architekten nur den Vogel gezeigt. Auch im Inneren hält sich die Raumausstattung in moderaten Grenzen: die Wandmalereien erinnern von der Ornamentik und dem Stil her an norditalienische Renaissance-Paläste. Das Schloß in Smielow ist rund 15-20 Jahre jünger (ab 1795) als das in Pawlowice. Selbst die hilfsbereite Kustodin, die etwas englisch sprach, wußte keine rechte Antwort auf die Frage nach dem Regierungsstil des Bauherrn. Sie war dafür sehr beflissen, wenn der Flyer mit den Erläuterungen zu den Räumen an einzelnen Stellen ungenau bzw. überholt war.
Die Ausstellung zeigt das Leben und die kulturelle Bedeutung Adam Mickiewicz's. Er hat sogar eine kurze Zeit im Schloß gewohnt. Als Exilant in Paris wollte er doch noch eine heldenhafte Rolle im polnischen Aufstand 1831 gegen die neuen Besitzer Russland, Österreich und Preußen spielen. Er verliebte sich jedoch in die Schwester des hiesigen Hausherren und blieb länger als erwartet. Als er sich endlich aus den Armen seiner Geliebten losreißen konnte, war der Aufstand bereits niedergeschlagen. Es wurde also nichts mit dem Märtyrertod für Polen; die Rolle als Nationaldichter wurde ihm jedoch von den Nachfahren zugedacht.
Später fahre ich noch nach Dobrzyca. Unterwegs mache ich einen kurzen Stop in Tarce; hier wird ein Schloß restauriert, mit demselben Familienwappen wie in Smielow. Mit den hohen, spitzen Turmhauben wirkt es jedoch etwa 100 Jahre jünger. Vermutlich hat also ein Nachfahre in einem Nachbardorf einen weiteren Sitz errichtet. Leider komme ich in Dobrzyca etwas zu spät; das Schloßmuseum schließt gerade seine Pforten. So kann ich mich nur noch mit einem liebevoll gebrauten Kaffee der jungen Schloß-Cafe-Managerin für den schwül-heißen Tag belohnen und werde morgen früh noch einmal vorfahren. Was eine Bestellung 'kawa – slodka jak twoj cudowny usmiech' alles so bewirkt...!
 
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Wolke7

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30.08.2010
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5. Etappe

5. Etappe
Wenige Kilometer nordwestlich von Kalisz, in Goluchow liegt mitten im Wald das Schlößchen der Familie Dzialynski. An diesem Sonntag Morgen ist auf den Straßen nicht viel los, der Park und das Schloß sind jedoch gut besucht. Das Gebäude stammt aus dem 16. Jahrhundert, wurde dann in den 1870ern als Museum umgebaut. Von der erlesenen Familien-Sammlung ist nicht mehr viel erhalten, doch sind die Räume sehr qualitätvoll gearbeitet: Hohe Holzdecken, üppig verzierte Kamine und figürlich gestaltete Treppenaufgänge. In diesem Museum ist das Gebäude allein schon museal. Die heutige Sammlung stammt wesentlich aus dem Nationalmuseum in Poznan.
Danach geht es weiter durch die flache Flußlandschaft, in der immer noch das Wasser auf den Feldern steht. Dazu kamen die Regenfälle der vergangenen Nacht, die so manchen Feld- und Waldweg mit Pfützen übersät haben. Von Chocz führt der Waldweg dann fast 20 km bis nach Zagorow. Nur 2 Autos sind mir hier begegnet, und die mußten noch mehr als ich mit dem Slalom um die Pfützen herum kämpfen. Bei Zagorow war wieder die Warta erreicht, der Fluß, der bei Kostrzyn in die Oder mündet. Zum Glück führt die Straße auf dem Deich entlang, rechts oder links daneben wäre eine Fahrt gar nicht möglich gewesen; die abzweigenden Feldwege waren allesamt überflutet. Als Mücke fände ich hier gerade paradiesische Zustände vor.
Direkt am anderen Ufer liegt das Zisterzienserkloster Lad aus dem Jahre 1175. Damals sind Mönche aus Altenburg nach Osten entsandt worden zur Mission und Urbarmachung des Landes. Es war gerade Tag der Offenen Tür. Auf dem Klostergelände und im angrenzenden Weiler waren Buden unterschiedlichsten Charakters aufgebaut; zum Trinken und Essen und mit anderen Angeboten (Devotionalien, Dritt-Welt-Projekte, Biokost). Wieso das alles christlich sein soll, erschließt sich dem kritischen Besucher zwar nicht so recht; dafür ist die barockisierte Kirche ein echter Höhepunkt. Die Kuppelausmalung stammt wie in Gostyn vom tschechischen Maler Neunherz, und die Architekten beherrschen die venezianische Typik. Während des Nachmittagsgottesdienstes finden noch zwei Kindestaufen statt. Für die Mönche ist dieser Tag bestimmt ein Höhepunkt des Jahres; so viele Gäste hat das Kloster an 'normalen' Sonntagen bestimmt nicht. Nach dem Gottesdienst stimmen die Novizen einen meditativen Gesang an. Lediglich mit Stimmen (ohne Text) schaffen sie eine getragene Atmosphäre bei bester Akustik. Wer bislang noch keinen Zugang zu schweren Gedanken gefunden hat, könnte jetzt fündig werden.
Die Straße führt am nördlichen Hangufer oberhalb der Warta entlang. Der Blick schweift oft über die überflutete Auenlandschaft. Hin und wieder steht mitten im Wasser eine Baumgruppe, oder eine Straße endet im Niemandsland. Von der Terrasse des Bischofspalastes in Ciazen bietet sich dieser Anblick.
VFTPolN44CiazenBischofspalast.jpg
Die Posener Bischöfe haben in den 1760ern diesen Landsitz errichten lassen. Schon der Fassadenschmuck weist auf den klerikalen Charakter hin: eine reich umbänderte Mitra lehnt am Hirtenstab. Andererseits sind auch wehrhafte Darstellungen zu sehen: Pfeil und Bogen, oder sollen sie eher die Liebe zur Jagd symbolisieren? Von innen ist der Palast leider nicht zu besichtigen, er gehört heute der Universität als Forschungsinstitut.
In Pyzdry verabschiede ich mich wieder von der Warta und fahre über Miloslaw und Sroda Wielkopolski zum kleinen Landsitz in Koszuty. Hier lebte eine Familie des niederen polnischen Adels; ein polnischer Ehemann und seine österreichische Gattin. Auf ihre Initiative geht der Umbau in den 1870ern zurück. Die Raumanordnung und das Äußere blieben in den Barocken Formen der 1760er erhalten. Auch das Material (Holz) blieb erhalten. Der Landsitz wirkt etwas eigenartig als hölzerner Barockbau in gedeckten Farben und mit Eckrisaliten sowie mit hölzernen Dachschindeln. Während des Umbaus wurde die zentrale Küche in ein Nebengebäude verlegt, und jeder Raum mit Ofen ausgestattet. Den freien Raum nimmt ein ovaler Ballsaal ein, in dem damals wie heute musiziert, gelesen, gespielt und getanzt wird. Dieser Palast soll angeblich das eindrucksvollste Beispiel eines kleinadligen Landsitzes in Polen sein.
In den Dörfern ringsum ist keine geeignete Unterkunft aufzutreiben. Zum Glück habe ich für solche Fälle die Camping-Ausrüstung dabei, bestehend aus einer Plastikplane, einer Iso-Matratze, einem Schlafsack und einem Wassersack als Kopfkissen. Die Plane wird zwischen den Bäumen aufgespannt, die Iso-Matratze schnell aufgepumpt und der Schlafsack ausgerollt, und ich falle in einen tiefen Schlaf. Nachts raschelt es plötzlich am Baum: im fahlen Mondlicht sucht ein Igel nach seinem Mitternachtsimbiß. Er schaut interessiert zu mir herüber, ich schaue ihn verschlafen an und dann trollt er sich davon.
 
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6. Etappe

6. Etappe
In Kornik mache ich eine kleine Rast in der Nähe des Marktplatzes. Aus dem nahen Pub dringen die Geräusche eines Fußballspiels herüber, und in der Sonne sitzen die älteren Menschen ins Gespräch vertieft. Plötzlich spricht mich ein freundlicher Fußball-Fan an und fragt, was ich denn in Kornik gerade mache. Wir kommen ins Gespräch, und später kommt auch noch seine Freundin dazu. Kasia und Michal sind von meinen Erzählungen und den Bildern sehr beeindruckt. Besonders Michal gehört zu den eher provinziellen Menschen, deren Horizont ganz buchstäblich am Horizont endet. Er sagt, er wußte gar nicht, wie viele schöne Ecken und wie viele Schlösser es in der Umgebung gebe. Wir sitzen also im Pub, er hat schon das eine oder andere Bier gehabt; schließlich lädt er mich zu sich nach Hause ein, wo ich seine Mutter und seinen Onkel kennenlerne. Michal arbeitet als Kraftfahrer und beliefert die Supermärkte der Gegend mit frischem Obst vom Großmarkt. Sein Arbeitstag beginnt um zwei Uhr morgens. Es wird also kein langer Abend für uns.
Am nächsten Morgen frühstücke ich mit der Mutter. Sie spricht etwas deutsch und erzählt so manche Geschichte ihrer Familie; von ihrem ältesten Sohn, der vor 16 Jahren eine Holländerin geheiratet hat und jetzt in den Niederlanden lebt. Der zweite Sohn ist während der Kriegsrechtswirren in den 1980ern als junger Mann ums Leben gekommen, und Michal der jüngste interessiert sich fast ausschließlich für Sport. Er wäre aber ein guter Sohn, sagt die stolze Mutter. Dazu breitet sie ihr Fotoalbum aus mit einer reichen Sammlung aus den letzten 80 Jahren. Irgendwann wird es mir dann zu viel, und ich entschuldige mich mit dem Hinweis auf das besonders gute Wetter und den Besuch des Palastes in Kornik, der für mich anstünde und den ich auf keinen Fall verpassen möchte.
Tatsächlich wartet bereits eine lange Schlange von Schulklassen am Eingang dieses eindrucksvollen Palastes. Äußerlich wirkt er wie eine mittelalterliche Burg mit neogotischen, zinnenbewehrten Mauern, einem Burgfried und einer Zugbrücke über den Wassergraben. Innen wird jedoch klar, daß er im 19. Jahrhundert umgebaut wurde auf der Grundlage eines Schinkel-Planes. Der Palast befand sich über viele Generationen hinweg im Besitz der Familie Dzialinski, die zu den politisch bedeutenden Geschlechtern Polens gehört. Besonders die Freundschaft zur Türkei wird durch einen Raum gewürdigt, der im Stil der Alhambra mit einem stuckierten Koranspruch an der Decke verziert ist. Die Türkei hatte die Teilung Polens 1793 als einziger wichtiger Staat nicht anerkannt. Herausragend ist die Bibliothek mit Originaldokumenten Mickiewicz', Napoleons und Chopins. Einer der patriotischsten Orte Polens.
Nicht weit entfernt liegt der Palast einer der angesehensten Familien: die Raczynskis haben sich in Rogalin niedergelassen.
Anhang anzeigen VFTPolN57RogalinSchlo
Auch diese Familie hatte über Jahrhunderte wichtige politische Ämter inne, zuletzt war der letzte männliche Raczynski Führer der polnischen Exil-Regierung während der Militär-Administration in den 1980ern. Nach seinem Tod 1993 hat die Familie das gesamte Anwesen einschließlich der umfangreichen Kunstsammlung dem Staat überlassen. Heute ist das Barockschloß restauriert und als Museum zugänglich. Die Gemäldesammlung umfaßt überwiegend polnische und französische Volks- und Salonkunst. Manchmal geradezu derbe Szenen aus dem Krieg wechseln mit freizügigen Akten ab, dazu kommen Alltagsszenen aus der polnischen Landwirtschaft und stimmungsvolle Landschaften.
Im Park stehen drei angeblich 1000jährige Eichen, die an die Urväter der polnischen, tschechischen und russischen Nation erinnern.
Die Fahrt nach Poznan verläuft doch anders als geplant. Das Warta-Hochwasser hat die nähere Umgebung immer noch überflutet. Davon ist auch der ufernahe Radweg betroffen. Also muß ich doch die Hauptstraße nehmen und erreiche schließlich das attraktive Zentrum Poznans.
 

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Poznan

VFTPolN90PoznanKatedra.jpg Poznan
Was für ein großartiger Altstadtring! So wie in anderen polnischen Städten auch steht auf dem Marktplatz das Rathaus, und in Poznan noch zusätzlich die Waage, die Hauptwache und einige Krämerbuden. Besonders das Rathaus hat es in sich: ein würfelartiger Baukomplex mit einem hohen Turm. Die Schaufassade ist mit einer kleinen Ahnengalerie der polnischen Könige bemalt und durch 3 Loggien gegliedert.
VFTPolN85PoznanRynek.jpg
In Mitteleuropa habe ich so etwas noch nicht gesehen, kein Wunder, der Architekt war ein Italiener, und die Handelsbeziehungen reichten bis nach Italien. Die übrige Bebauung rund um den Markt wurde im Krieg schwer zerstört und in einer Art sozialistischem Historismus wieder aufgebaut.
Zwei Kirchen ragen aus der Vielzahl der Gotteshäuser heraus: die Pfarrkirche im Zentrum und die Kathedrale auf der Dominsel. Die Pfarrkirche strahlt in einem üppigen Barock aus zarten Rottönen und vergoldeten Formen, dazu kommen mächtige Marmorsäulen im Inneren. Die Kathedrale wurde weitgehend zerstört. Es konnten jedoch der Hauptaltar aus dem 16. Jh. und die barocke Kanzel gerettet werden. Besonders ist die goldene Kapelle hinter dem Altar und –umgang: in neobyzantinischen Formen und Farben haben hier die ersten polnischen Könige symbolisch ein Monument erhalten.

Das Nationalmuseum zeigt überwiegend Malerei aus der Raczynski-Sammlung. Eine reiche Auswahl polnischer Meister des 17. bis 20. Jahrhunderts. Darunter ist natürlich auch der große Historienmaler Jan Mateiko. Die Moderne ist ebenfalls vertreten und läßt den Betrachter ratlos zurück: ohne einige Grundinformationen zur modernen Kunst bleiben die Werke einfache Kunst ohne echte Aussage.
Die Geschichte Poznans verdeutlicht noch eines: in den 125 Jahren der preußischen Zeit stand die Zeit still. War Poznan zuvor ein progressives Wirtschaftszentrum, erlahmte jede Initiative unter dem polnischen Nationalgefühl, das für die preußischen Machthaber keinen Finger rühren wollte. Hinzu kommen die vielfältigen Germanisierungsbemühungen, die bei vielen Polen die Segregation förderten und aus der deutschen Perspektive zu einer wachsenden Polenfeindlichkeit führten.
Obwohl Poznan eine der besten Universitäten des Landes besitzt, habe ich kaum englischsprachige Einwohner getroffen. Einige radebrechen wenigstens ein paar Brocken, für ein modernes Wirtschaftszentrum erscheint es jedoch viel zu wenig. Andererseits klappt es mit meinem polnisch immer besser: inzwischen kann ich einfache touristische Anliegen in zusammenhängenden Sätzen ausdrücken. Und die Adressaten verstehen sogar meine Wünsche.
Insgesamt ist Poznan ein attraktives Ziel. Besonders der Stary Rynek und die Raczynski-Sammlung im Nationalmuseum sind allein den Besuch wert. Die Stadt steht etwas im Schatten Warszawas, Krakows und Gdansks, bietet aber den polyglottesten Stil im Stadtbild. Poznan wurde von internationalen Touristen noch nicht recht entdeckt, es wirkt also originaler als vergleichbare Orte.
 
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Wolke7

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30.08.2010
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8. Etappe

8. Etappe
Über Mogielno fahre ich durch einige Dörfer an den Hängen der Endmoränenlandschaft. Ich spüre deutlich in den Beinen, wie sich das Relief beim Näherkommen der Weichsel verändert: es wird welliger, und einige Täler erzeugen kurze, steile Anstiege und Abfahrten. Was die Gletscher und das Schmelzwasser vor 10.000 Jahren nicht so alles angerichtet haben.
Außerdem ist heute ein Tag fast zum im Bett bleiben. Einige Mücken haben mir den Schlaf geraubt, und die Beine sind richtig schwer geworden. Heute werde ich also bestimmt nicht so weit fahren und einige längere Pausen einlegen.
Die erste mache ich in Biskupin. Es könnte ein verschlafenes Dorf irgendwo zwischen Poznan und Bydgoszcz sein, wenn nicht ein Dorfschullehrer vor 80 Jahren zufällig Holzreste aus dem Wasser des Sees ragen sah. Zunächst informierte er die örtlichen Behörden über seine Beobachtung; er vermutete ein kürzlich im Sumpf versunkenes Haus entdeckt zu haben. Die Behörden hatten jedoch kein Interesse. Dann erzählte er davon einem Universitätsprofessor, der sofort den historischen Wert erkannte und unverzüglich archäologische Ausgrabungen in die Wege leitete. Heraus kam die am besten erhaltene Siedlung der Lausitzer Kultur aus dem 8. vorchristlichen Jahrhundert.
VFTPolO44BiskupinSiedlung.jpg
Tatsächlich ist auch heute noch kein Ort so gut untersucht und so großflächig freigelegt worden wie hier. Hinzu kommt, daß die antike Siedlung niemals überbaut wurde. Vermutlich war ein Klimawechsel die Ursache für den Wegzug der Bewohner im 4. Jahrhundert v.Chr. Rekonstruiert wurden über 100 Häuser desselben Typs für etwa 1000 Bewohner und der Verteidigungsring. Die Ausstellung veranschaulicht viele Details des politischen und sozialen Lebens: offenbar handelte es sich um eine gleichberechtigte Bauern- und Handwerkersiedlung, die mit ihren Nachbarn in regem Austausch stand, ohne jemals überfallen worden zu sein bzw. andere überfallen zu haben. Da stellt sich sofort die Frage, wofür eigentlich so eine robuste Palisade zum Schutz der Siedlung notwendig war?
Nach der Besichtigung gönne ich mir in einer der vielen Imbißbuden einen starken Kaffee, der mich hoffentlich ins nur wenige Kilometer entfernte Wenecja trägt. – Ja, er schafft es.
Dort treffen sich gerade zwei Züge der Schmalspurbahn von Znin nach Gasawa. Die Fahrgäste steigen aus, schauen sich kurz das historische Schmalspurbahn-Museum an und fahren weiter. So eine Hektik muß ich mir natürlich nicht machen. In aller Ruhe streife ich durch den Bahnhof und über die Depotgleise und stelle mir dabei das Leben als Fahrgast dritter Klasse während so einer Zugfahrt vor 150 Jahren vor. Es hat bestimmt gerattert und gerumpelt, wenn der Zug mit sagenhaften 20 km/h durch die Felder brauste und der Wind durch die offenen Fenster stürmte. Wer in diesem Waggon einmal Platz nimmt, lernt plötzlich sogar das Ambiente in der MS C der alten Boeing 777 ganz neu zu schätzen. Übrigens stammen die meisten Loks aus Fabriken in Kassel oder Berlin. Anschließend gönne ich mir in einem ausrangierten Güterwaggon einen weiteren Kaffee.
VFTPolO50WenecjaBahnhof.jpg
Nach kurzer Fahrt komme ich in Znin an. Der Ort wird im Reiseführer zwar als Durchgangsstation genannt, aber nicht beschrieben. Ja, man muß tatsächlich lange suchen, bevor man überhaupt etwas einigermaßen Ansehnliches findet. Im Park am Markt steht noch ein einzelner Turm der ehemaligen Stadtbefestigung, sonst macht das Städtchen einen trüben Eindruck. Die Häuser um den Markt sehen aus, als würden sie demnächst zusammenfallen, von repräsentativem Fassadenschmuck ist kaum etwas zu sehen. Znin fehlt zurecht in den einschlägigen Reiseführern.
Dafür ist das Dörfchen Lubostron aufgelistet. Hier steht ein quadratisches Schloß mit vier Portalen aus dem Jahr 1800.
Anhang anzeigen VFTPolO51LubostronSchlo
Wie in Smielow gehört es eigentlich schon nicht mehr zum Barock, statt dessen sind die ersten klassizistischen Anklänge deutlich zu sehen, eben an den Portalen und den glatten Fassaden. Leider ist das Schloß nur am Wochenende geöffnet. So muß ich mit dem Anblick von außen und einem kleinen Spaziergang durch den englischen Park vorlieb nehmen.
Endlich komme ich in Bydgoszcz an. Zu der modernen Industriestadt sind sich die Reiseratgeber nicht einig: die einen empfehlen die Stadt nur zu durchfahren, die anderen nennen explizit die sehenswerten Orte der Stadt. Unbestreitbar gehört die 'Museumsinsel' zu den Attraktionen.
VFTPolO64BydgoszczKatedra.jpg
Das Wojwodschaftsmuseum war bis vor kurzem im ehemaligen Kloster untergebracht. Jetzt ist die Sammlung thematisch gesplittet und in mehreren alten Speichern auf einer kleinen Insel der Notec in moderner Museumspädagogik dargestellt. Insbesondere das Museum der klassischen Moderne Polens gibt einen guten Vorgeschmack auf das Museum in Lodz. Zudem ist die Werkauswahl zumeist hinreichend selbsterklärend, so daß selbst ein unbedarfter Museumsbesucher wie meine Wenigkeit mit vielen Werken etwas anfangen kann.
Gleich nebenan steht die Kathedrale aus den 1460ern. Die Ost- und Westgiebel sind als markante Schaufassaden der Backsteingotik gestaltet und entsprechend weithin sichtbar. Der Turm wurde allerdings barockisiert. Diese Mischung wirkt etwas eigenartig mit der strengen Gotik und dem verspielten Barock. Im Inneren trifft mich fast der Schlag. Nein, ich bin nicht das Opfer eines Gottesgerichts geworden, es ist die Farbgebung der Decken, Wände und Säulen. Die Decke ist in einem tiefen Blau gehalten mit einigen goldenen Tupfern die wohl das Himmelsgewölbe repräsentieren sollen. Die Wände sind mit einem kräftigen Rot bemalt. Mit etwas Phantasie kann man darin vielleicht noch den Marienmantel erkennen: blaues Obermaterial und rotes Futter. Die Säulen sind in einem schreienden Violett gestrichen mit etwas dunkleren Lilien. Hier reicht nun die Phantasie meines beschränkten Geistes nicht mehr aus, um einen harmonischen Klang erkennen zu können.
Rund um den Markt haben etliche Cafes ihre Tische und Sonnenschirme aufgespannt. Es ist ein gemütlicher Ort zum Beobachten der Passanten, zum Lesen und zum Zuschauen der archäologischen Sicherung des Marktplatzes. Über eine Brücke geht es zur Ul. Gdanska, der niveauvollen Einkaufsstraße Bydgoszcz's. Die Straße muß um die Jahrhundertwende angelegt worden sein, zumindest deuten die erhaltenen Häuser darauf hin. Hier sind bestimmt auch die betuchten Gäste abgestiegen und haben die teuren Geschäfte und besten Restaurants besucht. Nebenbei treffe ich einen schon etwas älteren Deutschpolen aus Berlin, dessen Eltern vor einigen Jahren in Bydgoszcz verstorben sind, und der nun um das Erbe kämpft. Es ist trotz aller Integration durch die EU offenbar gar nicht so leicht, über die Grenze hinweg eine Erbschaft anzutreten, wenn sich die Erben nicht einig sind. Es geht um eine Immobilie, die die Eltern noch vor ihrem Tod ihrer Tochter überschrieben haben, während die übrigen Geschwister, die nicht in Polen leben, übergangen wurden.
 

Wolke7

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30.08.2010
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10. Etappe

10. Etappe
Es regnet nach wie vor. Als sich der Himmel doch aufklart und die Straße hinreichend abgetrocknet ist, starte ich zur Fahrt über die Dörfer zum ersten Stop in Oporow. Unterwegs mache ich eine kurze Pause in Gostynin, wo ein dünner Nieselregen fällt. Zum Glück ist auf dem Marktplatz wenigstens ein Zelt zur Gästebewirtung aufgestellt. Es sieht fast so aus, als wäre hier gerade eine Berufsschulklasse nach dem letzten Schultag eingekehrt. Die Luft riecht nach Zigaretten, und die Becher sind allesamt mit Bier gefüllt; dabei haben wir noch nicht ganz Mittag.
In Oporow angekommen kann man sofort an der Backsteinmauer das Anwesen des Palastes mit dem Park erkennen. Fraglich ist nur, wann die Mauer errichtet wurde. Der Palast stammt aus dem 15. Jahrhundert und ist über die Generationen im Besitz mehrerer Familien geblieben. Vermutlich erst nach dem Zweiten Weltkrieg ist er in Staatsbesitz gelangt und zum Heimatmuseum geworden. Der Palast selbst ist quadratisch und von einem Wassergraben umgeben, über den eine wacklige Brücke führt. Das Museum zeigt ausgewählte Exponate im Zusammenhang mit dem Palast, also eine Porträtgalerie der Besitzer, Porzellan und Geschirr, Rüstungen, Mobiliar usw. aus den letzten 500 Jahren. Für einen so kleinen Ort wie Oporow ist das Museum schon ein außergewöhnlicher Schatz.
Bei der Weiterfahrt nach Kutno treffe ich zwei ältere Herren. Sie suchen das Gespräch mit mir, und reden lange auf polnisch auf mich ein. Immerhin ist mein bescheidenes polnisch ausreichend um zu verstehen, daß sie heftig auf die Beziehung zu Russland schimpfen und mit der Integration in die EU einverstanden sind. Dennoch breche ich die 'Konversation' bald ab und merke, welche Schwierigkeiten mir das Unterscheiden der polnischen Zischlaute noch immer macht. Kutno selbst ist übrigens eine geradezu langweilige Stadt ohne besonderen erkennbaren Charakter. Für eine kleine Runde über den Markt und eine Rast am Supermarkt reicht es jedoch trotzdem.
Das nächste Ziel ist schon wesentlich interesanter: Tum pod Leczyca. In einem breiten Flußtal gelegen übersieht der aufmerksame Besucher die ganze Breite der Umgebung. So ist auch die romanische Kirche aus den 1160ern schon von weitem zu sehen. Die vier Türme geben der Kirche ein mächtiges Aussehen. Tatsächlich haben Mönche hier einen Feldsteinbau errichtet, der zwar später teilweise gotisch neu errichtet wurde, dennoch sind die ursprünglichen Bauteile von außen dominierend. Geradezu atemberaubend, weil so gut erhalten, ist das romanische Portal mit einer Madonna. Das Kind ist dabei so groß und offensichtlich leidend, daß es die spätere Kategorie einer Pieta vorwegnimmt.
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Interessant sind zwei Chöre, einer im Osten, der andere im Westen. Wozu das wohl gut sein soll? Eventuell hat es etwas mit dem Zutritt ungetaufter Erwachsener zu tun, sicher bin ich mir jedoch nicht. Innen sind zwei Emporen zu sehen, vermutlich zur Geschlechtertrennung, und noch einige mittelalterliche Malereien. Besonders eine Christus-Darstellung im Westchor gilt als herausragend.
In Tum treffe ich Maciej, einen Germanistik-Doktoranden, mit dem ich mich sehr intensiv über den Ort und den histo-kulturellen Zusammenhang unterhalten. Er weiß eine Menge über die Gegend und die frühe polnische Geschichte. Von ihm erfahre ich einige Ergebnisse archäologischer Grabungen dieser Gegend, die wie in Biskupin bis in das 7. Jh. v.Chr. zurückreichen. Eine Siedlung in der Nähe sieht fast aus wie die Slawenburg in Raddusch, obwohl Raddusch wesentlich jünger ist.
Nur wenige Kilometer entfernt liegt Leczyca. Nachdem Tum aufgegeben wurde, warum? ist mir nicht klar, wurde ein neues Zentrum errichtet. Im Zentrum ruht die Backsteinburg Kazimierz des Großen aus den 1370ern, besser gesagt die Ruine. Die Reste unterscheiden sich nur marginal etwa von der polnischen Burg in Cichanow oder von den Burgen des Deutschen Ordens. Im restaurierten Westflügel ist ein kleines Bezirksmuseum untergebracht. Allerdings sind die Exponate eher zufällig ausgewählt und etwas zusammenhanglos durch die Epochen präsentiert. Lediglich der archäologische Raum gibt eine gute Erklärung der Funde aus Tum.
Leczyca hat einen für viele polnische Städte typischen Marktplatz. Zentral erhebt sich das Rathaus mit einem markanten Uhrturm. Rundherum führt eine Straße (Rynek), an deren Außenseite eine Vielzahl Bürgerhäuser stehen. Die Kirche hat im säkularen Zentrum nichts zu suchen; sie steht in zweiter Reihe am Rande eines Parks in der Nähe. Dort kann man angenehm spazieren und im Schatten der Bäume eine Ruhepause einlegen.
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Poddebice ist ein kleines, fast verschlafenes Nest in der Nähe Lodz'. Etwas abseits steht ein Palais aus den 1610ern mit hohen Fialgiebeln zur Ost- und Südseite. Der Renaissance entsprechend imponiert eine doppelgeschossige Loggia zur Südseite, allerdings zur dem Dorf abgewandten Seite. Der Besitzer hat sich hier ein Stück toscanische Leichtigkeit in seine Heimat geholt. Das Palais wird heute als Kulturhaus genutzt, befindet sich jedoch in einem, na ja, renovierungsbedürftigen Zustand. Ebenso der Park, der den Vergleich mit einem Wildpark nicht zu scheuen braucht. Schade, hier steht ein echtes Juwel, das so gar nicht in den lokalen Kontext passen mag. Die Palais der Umgebung sind gotisch, barock oder jünger, eines im Stile der Renaissance habe ich bislang noch nicht entdeckt. Hoffentlich finden die Kuratoren bald eine adäquate Nutzung.
 

Wolke7

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Lodz

Lodz
Es ist unglaublich! In wenigen Jahrzehnten hat sich Lodz von einem Dorf mit einigen Hundert Bewohnern zum größten Textilzentrum Ostmitteleuropas gemausert. Verantwortlich dafür waren einige weitblickende Stadtplaner, die ein schachbrettartiges Straßennetz eingerichtet haben mit reservierten Flächen für Industrie, Handel und Wohnen. Sofort, in den 1820ern und 30ern haben sich Fabrikanten gefunden, die Baumwolle aus Übersee importierten und fertige Waren nach Rußland lieferten. Als dann sogar noch die Zollbeschränkungen entfallen sind, war das Wachstums Lodz' nicht mehr zu bremsen. Dutzende Fabriken buhlten um die Kundschaft und sogar um ausreichend Mitarbeiter. Trotz aller Krisen, die erste während des amerikanischen Bürgerkrieges, als die Baumwollimporte einbrachen, hatte Lodz um 1900 über 300.000 Einwohner. Heute ist keine einzige Fabrik aus dieser Zeit mehr in Betrieb. Die noch bestehenden wurden nach dem Krieg verstaatlicht und sind in sozialistischer Zeit Konkurs gegangen. Lodz muß vor vielleicht 20 Jahren ausgesehen haben wie der PrenzlBerg zur Wendezeit: grau, marode, schlechter Ruf, morbide oder einfach nur häßlich. Auch heute noch genießt Lodz den zweifelhaften Ruf, die unansehnlichste Stadt Polens zu sein.
Zwischenzeitlich ist eine Menge passiert. Viele der prachtvollen Stadtpalais wurden saniert und neuen Nutzern anvertraut. Die Piotrkowska ist heute eine bunte Fußgängerzone mit Cafes, Banken und Läden. Hier trifft man sich zum Flanieren, zum Plausch oder zum Public Viewing.
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Eine ehemalige Fabrik, die Manufaktura war vor zehn Jahren noch in Betrieb, heute ist das Gelände eine große Einkaufs- und Kulturlandschaft, ähnlich der Kulturbrauerei in Berlin – bloß wesentlich größer. Es ist fast wie ein zweites Zentrum außerhalb des eigentlichen Zentrums. Dort steht jetzt auch das große Kunstmuseum Lodz'. Es ist das älteste Museum Polens, das sich der Avantgarde gewidmet hat. Entsprechend modern, ja postmodern sind die Exponate meist polnischer Künstler.
VFTPolP29LodzManufaktura.jpg
Gleich nebenan steht das Poznanski Palais. Der reichste Fabrikant hat sich einen großzügigen Palast bauen lassen, in dem heute das Stadthistorische Museum untergebracht ist. Es ist schon ein merkwürdiges Verständnis von Stadtgeschichte: Es werden die berühmtesten Söhne der Musik und Literatur aus Lodz vorgestellt, darunter einige mit weltweiter Bekanntheit, z.B. Artur Rubinstein. Die Zeit vor 1800 und nach 1945 wird vollständig ausgeblendet, obwohl Lodz im Mittelalter eine wichtige Hansestadt gewesen ist.
Etwas außerhalb des Zentrums stehen heute noch die Gebäude der alten Fabriken. Ein Gebiet fällt auf, in dem auf dem Fabrikgelände zusätzlich einfache Wohnungen stehen. Hier hat ein Fabrikant Sozialwohnungen für die Arbeiter und ihre Familien gebaut. Es ist wohl ein ähnliches Modell wie in Augsburg oder Kopenhagen. Heute sehen die Reihenhäuser doch ganz schön heruntergekommen aus, und die Bewohner sehen aus, als hätten sie überhaupt keine Arbeit.
Noch etwas erregt die Aufmerksamkeit: Im 19. Jahrhundert gab es kein Stadtzentrum, wie es heute erkennbar ist. Es haben sich einzelne Viertel um die Fabriken herum gebildet, in denen sich das Leben der Arbeiter und ihrer Chefs abspielte. Ja, auch die Fabrikanten haben sich in unmittelbarer Nähe ihrer Fabriken ihre Villen gebaut. Das Poznanski Palais haben wir schon erwähnt, die Villa Herbst mit Park ist ein anderes Beispiel. Sie ist zu besichtigen im Stil der Jahrhundertwende, auch wenn das letzte Familienmitglied nach der Fabrikschließung mit Sack und Pack nach Wien übersiedelt ist. Der Lebensstandard war schon edel und muß den Vergleich mit der Hauptstadt in Warschau nicht scheuen, obwohl Lodz zu der Zeit russisch verwaltet war.
 

Wolke7

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11. Etappe
Es verspricht warm zu werden: schon morgens liegen die Temperaturen bei fast 20 Grad. Und tatsächlich wird es jetzt tropisch warm. Der Schweiß läuft in Strömen, ich trinke mehr als sechs Liter pro Tag und muß doch nicht auf die Toilette.
Von Lodz aus geht es nach Südwesten zum ersten Stop in Pabianice. Als die Gegend einmal unter Krakauer Herrschaft stand, haben die Bischöfe gleich ein Kapitel eingerichtet – und das hat sich bis in die Gegenwart erhalten. Direkt an der Hauptstraße steht ein graues, unscheinbares Haus zwischen dem Stadtpark und der Pfarrkirche eingeklemmt. Das soll das Krakauer Domkapitel sein? Zunächst fahre ich achtlos dran vorbei. Erst bei der näheren Orientierung bemerke ich meine Unachtsamkeit und halte an. Schmucklose Fassaden gekrönt von einer eigenartigen Attika in den Formen einer gotischen Burg. Tja, wem's gefällt! Die zugehörige Pfarrkirche wurde neuzeitlich ausgestattet. Es wirkt ebenfalls eigenartig in einem mittelalterlichen Bau eine moderne Ausstattung zu sehen.
Es geht nun auf einen langen Törn nach Wielun: etwa 65 km ohne herausragenden Ort. Unterwegs treffe ich Witek, einen Radfahrer, der von der ukrainischen Grenze nach Wroclaw unterwegs ist. Bei der 'Konversation' treten meine Schwächen beim Studium der polnischen Sprache offen zu Tage. Besonders das Hörverstehen bereitet mir immer noch große Schwierigkeiten.
Wielun genießt einen zweifelhaften, dafür fast unbekannten Ruf. Offiziell hat der Zweite Weltkrieg auf der Westerplatte bei Gdansk begonnen. Tatsächlich war die deutsche Luftwaffe etwas schneller. Es waren wohl nur wenige Minuten, die der Luftangriff auf Wielun vor den Schüssen in der Ostsee lag. Wielun lag damals nur wenige Kilometer nördlich der deutschen Grenze. Bei dem Luftangriff starben nicht nur etwa 1200 Menschen, auch lag die halbe Stadt in Trümmern, einschließlich der alten Pfarrkirche, die seitdem als Ruinenmahnmal an den 1. September 1939 erinnert. Die ehemalige Klosterkirche ist heute die Pfarrkirche. Beim Herausgehen war ein Besucher unachtsam und hat den Schwamm, der im Weihwasser lag, ausgedrückt. Es spritzte in alle Richtungen. Die umstehenden Gläubigen und der neugierige Radler mußten sich erstmal die Brille putzen. Wenn das kein gutes Omen ist...
Südlich Wieluns liegen in drei kleinen Ortschaften drei herrliche Holzarchitekturen: zwei Kirchen und ein Landadelhaus. In Laszew steht die erste, vor kurzem restaurierte Kirche, die durch eine Pieta aus den 1430ern auffällt. Noch auffälliger ist die Plazierung als zentrale Altarskulptur. Wo man ein mächtiges Bild erwartet, ruht die Pieta, durch die Farbgebung und imponierende Körperhaltung auch in den hinteren Bänken deutlich zu erkennen. Sie wurde also vermutlich ausdrücklich als Altarskulptur konzipiert.
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Die zweite Kirche steht in Grebien. Hier waren unmittelbar zuvor die Maler zugange. Es roch nach Farbe, und das Holz war noch feucht. Leider war die Kirche verschlossen und wird nur zum Sonntagsgottesdienst geöffnet.
Bevor ich den Landadelssitz in Ozarow besuche, treffe ich zwei Männer, die mir freundliche Gesellschaft zum Frühstück auf den Tischen eines Mini-Marktes leisten. Sie holen eine kleine Flasche Wodka hervor, dazu etwas gelber Sprudel – fertig ist der Longdrink (sogar an Gläser haben die beiden gedacht). Es ist übrigens halb neun morgens. Neugierig fragen sie nach mir, und im gebrochenen polnisch erkläre ich mein Vorhaben. Die beiden sind ehrlich beeindruckt; sie meinen noch nie so einen ambitionierten Reisenden getroffen zu haben und wünschen mir eine gute Reise.
Anschließend besuche ich also den hölzernen Landsitz.
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Im edlen dunkelbraunen Lärchenholz gehalten umfaßt das Haus vier große Räume, von denen jeweils ein kleiner als Eckrisalit abgeht. Es sieht also aus wie ein quadratischer Hauptbau mit vier Stummeltürmchen an den Ecken, ohne daß der Bau deshalb wehrhaft wirkte. Man denkt fast an eine Ritterburg en miniature.
Die Innenausstattung ist natürlich den begrenzten Verhältnissen entsprechend eher schlicht: ein paar einfache Gemälde, einige Raumaccessoires und vor allem tolle Marketerie-Schränke mit Motiven aus der antiken Mythologie und der Fruchtbarkeit allgemein. Der Stolz des Hausherren war bestimmt eine Karte, auf der die Ländereien eingezeichnet sind; der geographische Horizont hörte also gleich hinter den Nachbardörfern auf.
Über Praszka fahre ich nach Byczyna. Heute gehört der Ort zur Wojwodschaft Opolskie, d.h. es war einmal bis 1945 deutsch. Davon ist hier allerdings nichts mehr zu sehen – ganz im Gegensatz zu Hinterpommern. In Byczyna hat sich die mittelalterliche Stadtmauer noch fast vollständig erhalten. Allerdings wurden große Teile abgetragen und als Baumaterial verwendet, besonders fast alle Türme. An anderer Stelle dient die Mauer als eine Häuserwand. Trotzdem ist der Verlauf deutlich erkennbar. Offensichtlich war die Verteidigung nicht übermäßig effektiv. Byczyna wurde in den letzten 400 Jahren mehrfach zerstört und immer wieder mehr oder weniger originalgetreu aufgebaut. Markant sind die Giebelhäuser rund um das Rathaus. Vom Rathaus sieht man fast nur den hohen Turm, und erreicht es durch eine Aussparung der Bebauung ringsum. Sah es so auch schon im Mittelalter aus, und waren die Giebelhäuser bzw. deren Vorgänger vielleicht der beste Schutz des Rathauses?
Ein ähnliches Schicksal hat Namyslow erlitten: die Stadtmauer existiert nur noch in Resten, das Franziskanerkloster wurde zerstört, die zugehörige Kirche wirkt marode. Nur der Rynek mit dem Rathaus mittendrauf und die Pfarrkirche Peter&Paul geben der Stadt ihren Charme. Ja, hier sitze ich also und höre gerade den Glockenschlag des Rathauses von einem hohen, im oberen Bereich achteckigen Turm. Die Stadtanlage belegt, daß in Namyslow die weltlichen Angelegenheiten prominenter vertreten waren als die kirchlichen. Die Pfarrkirche steht in respektvollem Abstand zum Markt, ist aber in gotischen Formen ohne wesentliche Überbauungen erhalten geblieben. Lediglich die Innenausstattung ist neu, jedoch neogotisch. Ob die Innenbemalung mit florealen Motiven wirklich originalgetreu ist, laß ich mal dahingestellt.
Hier läßt es sich übrigens ganz gut verweilen. Auf dem Rynek sind Cafes aufgebaut und die Tische sind gut besucht.
 

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12. Etappe

12. Etappe
Von Namyslow ist es nur ein Katzensprung in das dörfliche Minkowskie. Eigentlich erwartete ich hier ein glänzendes Schloß in Anlehnung an Sanssouci in Potsdam. Zumindest stammt es aus der gleichen Zeit und gehörte dem Kavalleristen v. Seydlitz. Tatsächlich besteht das Schloß nur noch aus Resten; die Fassade bröckelt ab, die Fenster sind zerbrochen und aus den Backsteinwänden wachsen Grasbüschel heraus. Dazu treffen mich die kritisch-wachsamen Blicke der Anwohner. Ob sich hier ein Investor verspekuliert hat? Vielleicht wird dieses Schloß das gleiche Schicksal erleiden wie so manches Schloß in Brandenburg.
Anhang anzeigen VFTPolP67MinkowskieSchlo
Enttäuscht fahre ich weiter nach Kluczbork. Hier sieht es auf dem Rynek ähnlich aus wie in Byczina: an das Rathaus angelehnt stehen eine Reihe von Giebelhäusern. Allerdings sind es nur noch zwei, ursprünglich sollen es 12 gewesen sein mit dem passenden Namen 'Die zwölf Apostel'. Hier bemerke ich auch, wie die Menschen dem Deutschtum verbunden sind. Traditionell fühlen und denken die Schlesier deutsch, und viele sprechen es auch. Die Pfarrkirche nahe des Rynek hat eine typische Geschichte für Pfarrkirchen in Schlesien. Gebaut spätestens im 15. Jahrhundert war sie auch nach der Reformation katholisch, mußte jedoch nach der preußischen Übernahme zum Protestantismus konvertieren. Nach 1945 stellte sich die Frage des Glaubens: Existierten in einem Ort mehrere Kirchen, behielt sie ihren Protestantismus, ansonsten wurde sie wieder katholisch. In Kluczbork blieb sie protestantisch. Für den neugierigen Radfahrer bedeutet dies: sie ist verschlossen.
Auf der Fahrt nach Olesnos treffe ich auf die erste der für Schlesien typischen Holzkirchen (in Stare Olesno), im Reiseführer werden sie als Schrotholzkirchen bezeichnet; was auch immer damit charakterisiert werden soll. Sie verstecken sich mit ihrem schwarzbraunen Anstrich geradezu zwischen den Bäumen, sind aber für die Region typisch. Besonders die Dachkonstruktion ist den Steinkirchen nachempfunden: unterschiedlich hohe Dachstühle markieren die Apsis, das Schiff und den Turmbereich, sie sind allerdings deutlich steiler. Besonders die Kirche etwas nördlich von Olesno ist interessant. An einen Hauptbau wurde vermutlich ein Baptisterium angebaut, das durch einen kurzen Gang mit der Kirche verbunden ist. Von dem Baptisterium gehen sternförmig vier Seitenkapellen ab. Schade, daß auch diese Kirche verschlossen ist.
VFTPolP80OlesnoKirche.jpg
Über den Flecken Grodzisk fahre ich nun weit nach Süden. Unterwegs treffe ich zwei Berliner Radler auf der Strecke von Oswiecim nach Hause. Sie wollen diese 700 km in einer Woche schaffen. Na ja, viel Zeit zum Entdecken haben sie nicht...
Nach über 40 km Fahrt mit Rückenwind (herrlich!) erreiche ich schließlich das ehemalige Kloster Jemielnica. Hier findet gerade einer der mehrmals täglichen Gottesdienste statt. So finde ich genügend Muße das Kloster mit den Nebengebäuden zu erkunden. Die Klostermühle ist ganz typisch: Sie wurde wegen Unwirtschaftlichkeit in den 1930ern vom Abt geschlossen und zu einem Mehrfamilienhaus umgebaut. Inzwischen hat sich das Kloster auf die Kirche und einen der drei verbleibenden Flügel um einen Kreuzgang verkleinert. Offenbar haben selbst die Klöster in Polen gewisse Nachwuchssorgen. In der Kirche begegnet mir schon wieder Georg Wilhelm Neunhertz, der auch andere Kirchen ausgemalt hat bzw. das Altargemälde geschaffen hat. Seine Bilder wirken ziemlich düster, was durch die vergoldeten Rahmen noch unterstrichen wird. Aus der letzten Reihe kann man eigentlich gar nichts mehr erkennen. Eigentlich sollen Altarbilder noch aus der letzten Kirchenbank deutlich sichtbar sein; hier muß sich der Besucher mit dem Anblick der Deckengemälde zufrieden geben.
Über Szczepanek mit einer Holzkirche fahre ich dann nach Strzelsce Opolskie. Dieser Ort muß wohl im Krieg schwer gelitten haben. Kaum ein Haus am Rynek stammt von vor 1945, und das Schloß liegt immer noch in Trümmern. So bleibe ich nicht lange und begebe mich auf den Aufstieg zum Gora Swiety Anny, den Annenberg oder den Heiligen Berg Schlesiens. Es geht wirklich lange bergauf, im letzten Stück hat sich vor den Parkplätzen eine lange Autoschlange gebildet. Keuchend fahre ich an ihr vorbei und freue mich über das moderne und zeitsparende Verkehrsmittel Fahrrad. Allerdings ergötze ich mich auch an den halb mitleidigen, halb anerkennenden Blicken der Autofahrer. Die cleveren Automobilisten haben ihr Auto unten abgestellt und spazieren die Via sacra zum Kloster. Normalerweise wird entlang der Strecke der Passionsweg Christi in den üblichen 12 bzw. 14 Stationen dargestellt. Hier sind es jedoch 40 Kapellen am Wegesrand, von denen einige allerdings nicht der Passion gewidmet sind. Wie expressiv muß wohl die Empathie wahrgenommen werden, wenn geradezu jedes schmerzende Zucken durch eine eigene Kapelle gewürdigt wird. Angefangen hat alles mit einer wundertätigen, kleinen Statue der Anna Selbdritt in den 1510ern. Seitdem pilgern Scharen von Gläubigen bei jeder Gelegenheit auf den Berg. Es dauerte auch gar nicht lange da wurde die erste Kapelle errichtet, es folgte die Vergrößerung zur Kirche und schließlich ein richtiges Kloster aus der Barockzeit. Gottesdienste finden den ganzen Tag bei gutem Wetter in der Freilichtkirche, eher einem Theater für mehrere Tausend Menschen statt. Nach dorthin, und deshalb für mich unsichtbar, wurde auch die Annenstatue gebracht. Tja, was wäre auch ein Pilgergottesdienst ohne die wundertätige Anna Selbdritt. Im klösterlichen Paradieshof finden noch die Beichten statt. Die Polen müssen wohl ein sündhaftes Volk sein: acht Beichtstühle waren mit Patres besetzt und trotzdem standen die Leute Schlange.
Der Gora Sw Anny hat noch eine politische Bedeutung: Nach der Volksabstimmung 1921, die sich weit mehrheitlich für Schlesien als Teil Deutschlands aussprach, haben polnische Nationalisten toleriert von Frankreich den Berg besetzt und zum (dritten) Aufstand gegen die deutsche 'Fremdherrschaft' aufgerufen. Es hat dann immerhin 2 Monate gedauert bis zur Niederschlagung des Aufstandes, speziell Oberschlesien blieb jedoch eine aufmüpfige Region im Deutschen Reich.
Zum Etappenabschluß wollte ich mir noch zwei Schlösser an der Odra (Oder) ansehen, ja, ich bin wieder an der Odra angekommen, allerdings etwa 25 km südlich Opoles. In Krapkowice stammt es aus dem Übergang von der Renaissance zum Barock. Allerdings ist davon überhaupt nichts mehr zu sehen. Das Schloß diente zwischenzeitlich als Magazin, als Sanatorium und als Behörde. Heute befindet sich darin eine Berufsschule. Die Fassaden sind mit einfachem Rauhputz gedeckt, die Arkadengänge wurden zu geschlossenen Fluren, die repräsentativen Räume zu Lehrwerkstätten und Unterrichtsräumen. Außer den äußeren Formen ist also nichts mehr erhalten. Die Informationstafeln weisen zudem darauf hin, daß zu den Ursprüngen des Schlosses, einschließlich der Namen des Architekten und Eigentümers, nichts mehr bekannt ist.
Das andere Schloß in Rogow Opolski aus der Zeit um 1600 wäre gewiß interessanter gewesen, allerdings war es heute wegen einer Hochzeit geschlossen. Das Parterre wird als Außenstelle des Archivs der Wojwodschaft Opolskie genutzt und enthält einige alte Drucke aus der Zeit Gutenbergs. Einige Dokumente bzw. deren Kopien sollen auch ausgestellt sein. So muß ich mich also mit dem Anblick von außen zufrieden geben. Auf einem künstlichen Plateau hoch über der Odra hatte man bestimmt einen weiten Blick; heute ist das Panorama durch die inzwischen verwilderten Bäume begrenzt. Merkwürdig ist nur, daß das L-förmige Schloß nur zu den Landseiten leuchtend gelbe Schaugiebel besitzt.
Bei der Einfahrt durch das Zentrum Opoles zeigt sich schon die Attraktivität der Stadt. Ganze Straßenzüge am Rynek sind mit restaurierten Giebelhäusern bestückt, die Kathedrale leuchtet in der Nachmittagssonne und eine Reihe von Cafes haben ihre Schirme in der Fußgängerzone aufgespannt. Ja, hier empfängt mich eine angenehm entspannte Atmosphäre. Morgen möchte ich durch die Stadt bummeln und mir die herrlichen Schönheiten ansehen.
 

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Opole

Opole
Opole ist eine Stadt ohne schweren wirtschaftlichen Niedergang. Sie war ständig besiedelt und konnte ihren Standard wahren. So sind auch im Zentrum die Spuren der mittelalterlichen Geschichte erkennbar. Drei große mittelalterliche Kirchen, das Rathaus und ein Straßennetz am rechten Oderufer bzw. am Stadtkanal. Das macht auch die Besichtigung einfach. Die Wege sind kurz und dennoch charakteristisch.
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In den Kirchen ist das Mittelalter noch am besten ablesbar. Dicke Mauern mit Außenstreben, innen gotische Rippengewölbe und zweimal Grabkapellen der Piastendynastie mit Särgen und Grabplatten aus dem 15. Jahrhundert. Das Rathaus auf dem Rynek wurde später im Stil des Palazzo Vecchio (Firenze) umgebaut.
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Es bietet einen eigenartigen Kontrast zu den Kirchen in Sichtweite. Zudem ist die historische Bebauung am Rynek barock gestaltet. Es deutet wohl auf einen langen Konflikt zwischen der Geistlichkeit und der Bürgerschaft um die Macht in der Stadt hin. Eine Hauptstraße zwischen Rynek und Bahnhof wurde zur Fußgängerzone gemacht mit dem Plac Wolnosci (Freiheitsplatz) in der Mitte. Hier spielt sich das Leben ab, hier spazieren die Passanten oder legen eine Rast in einem Parkcafe ein. Kurz: das Zentrum versprüht eine angenehme Lebensqualität.
Bemerkenswert ist das kleine Diözesanmuseum, weil einige Exponate ihren heiligen Wert behalten haben. Sie werden zu besonderen Anlässen in ihre Heimatgemeinden gebracht und dort immer noch z.B. als Reliquie verehrt.
Opole gilt als Zentrum der Deutschen in Polen. Hier soll die größte deutsche Volksgruppe ansässig sein und deutsche Kultur soll intensiv gepflegt werden. Im Alltagsleben ist davon nichts zu spüren. Außer den beiden Cafe-Angestellten auf dem Gora Swiety Anny habe ich niemanden mit deutschen Sprachkenntnissen getroffen. Im Straßenbild finden sich nur polnische Werbungen, eine deutsche Zeitung habe ich vergeblich gesucht usw. Ob sich das Deutschtum vielleicht in den Köpfen spiegelt?
 

Wolke7

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30.08.2010
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13. Etappe

13. Etappe
Noch in Opole überquere ich die Odra. Die nächsten Etappen werden auf dem linken Odra-Ufer stattfinden und eine Reihe von interessanten und attraktiven Flecken Europas enthalten. Schon nach wenigen Kilometern ist Proszkow mit einem Renaissanceschloß erreicht. Es befindet sich gerade in Renovierung, die Fassade ist mit einem Gerüst und einer Plastikfolie abgedeckt, und im Innenhof stapelt sich das Baumaterial. Der Park ist ohnehin nicht zugänglich. Man muß wohl in einigen Jahren wiederkommen, um wenigstens den Eindruck von außen zu erhalten.
In Moszna bietet sich ein völlig anderes Bild. Das Schloß wird als Rehastätte für Menschen mit Nervenleiden genutzt, es ist jedoch für Besucher offen, die im Cafe einkehren und sogar mit Hotelservice übernachten können. Auch äußerlich ist das Schloß völlig anders: ursprünglich war es ein Barockschloß des Generals v. Knobelsdorff. Nach einem Brand ließ der Industrielle Tiele-Winckler das Schloß im eklektizistischen Stil 1896 neu errichten. Es zeigt zudem, daß der alte Militäradel mehr und mehr von einem industriellen Geldadel abgelöst wurde. Tatsächlich hat der Architekt alle Baustile von der Antike bis zum 19. Jahrhundert durchdekliniert, und der Humor kommt auch noch zu seinem Recht. Besonders die Parkseite beeindruckt den neugierigen Betrachter durch die verschiedenen Stile, die doch zu einem ganzen verschmolzen sind: ein romanisches Portal steht neben einer gotischen Kapelle gekrönt von Renaissance-Giebeln und barocken Fassadengirlanden. Im inneren dann mächtige Säulen, Marmorreliefs mit antiken Szenen, einem Rokoko-Tanzsaal und hochmittelalterlichen Fensterformen in der Bibliothek. Bei der polnischen Führung verstehe ich zwar fast gar nichts, die Räume sprechen jedoch auch für sich.
Anhang anzeigen VFTPolQ56MosznaSchlo
Ach ja, der Humor: Aus einem runden Eckturm schaut ein wilder Bär aus dem Mauerwerk, gleich daneben ruht eine Eule auf einem Mauervorsprung. Diese Symbole sollen den Bauherrn und seinen Architekten spiegeln. Soll ja häufiger vorkommen...
Das Schloß in Moszna erinnert mich an das Schloß in Boitzenburg. Beide Schlösser wirken als wären sie über Jahrhunderte entstanden. Für Boitzenburg stimmt das auch, in Moszna wird der Eindruck durch die verschiedenen Stile und Seitenflügel erweckt.
Wieder nur ein paar Kilometer weiter überquere ich zunächst ein Bächlein, das sich südlich von Opole in die Odra ergießt. Heute heißt es Osobloga, der deutsche Name lautet Hotzenplotz. Hat hier der Räuber möglicherweise sein Unwesen getrieben? Haben die Bewohner vielleicht so lange Finger, daß sie allgemein als Banditen gelten? Sagen wir mal so: der Räuber Hotzenplotz steht in ständigem Konflikt mit dem Kasper und bekommt meistens ein paar Schläge mit dem Holzhammer ab. Das Gute siegt also über das Böse.
Fast an der Osobloga liegt der Ort Glogowek. Auf den ersten Blick unterscheidet sich der Ort nicht wesentlich von anderen schlesischen Orten: der Rynek mit dem zentralen Rathaus und teils barocken, teils modernen Bürgerhäusern, in Sichtweite die Pfarrkirche und hier noch zusätzlich ein Franziskaner-Kloster. Die beiden Kirchen haben es in sich. Sie wirken von außen unscheinbar durch den grauen Rauhputz bzw. einfaches Backsteinmauerwerk. Aber von innen sind sie atemberaubend. Die Pfarrkirche wurde gleichzeitig von einem Maler und Stukkateur aus Tschechien gestaltet. Die beiden waren offensichtlich so aufeinander eingespielt, daß eine harmonische Szenerie zustande kam. Malerei und Stuckierung gehen ineinander über, laden so den Besucher zur Teilhabe ein. Zudem ist das Mittelschiff recht hoch, die Seitenschiffe offenbar später angebaut worden. Man fühlt sich wie in einer schmalen Altstadtgasse, aus den echten und illusionistischen Fenstern schauen die Heiligen herunter. Auch auf den Beichtstühlen sitzen sie wie auf Balkonen. Man möchte fast die Hand zum Gruße erheben. Das Taufbecken ist mit einem Baldachin ausgestattet. Er sieht aus wie ein Ziehbrunnen, über dem ein Schutzdach aufgestellt ist. Das innere verschwimmt optisch mit dem äußeren; ein Effekt, den die Bauhaus-Architekten ebenfalls verwendeten. Obwohl es gar nicht viele Fenster gibt, erhellt das Sonnenlicht doch den Innenraum, man fühlt sich sofort in die Kirchengemeinde integriert.
Die Klosterkirche ist klassisch barock ausgestattet. Sie besitzt zusätzlich allerdings eine Loreto-Kapelle. Das ist eine frei stehende Kapelle innerhalb der Kirche mit Eingangsportal, Altar, bemalter Decke und kleinem Chor. Hintergrund ist die Rekatholisierung Schlesiens. In der Übergangszeit sind nach dem Vorbild in Loreto einiger solcher Kapellen errichtet worden. Gesehen habe ich das zwar noch nie, kulturgeschichtlich nachvollziehbar ist es allemal. Es waren gerade ein paar Gläubige zum stillen Gebet in der Kirche. Sie haben die Wahl zwischen der großen Kirche mit dem Hauptaltar und dem intimen Raum in der Loreto-Kapelle.
Schließlich ist noch das Schloß erwähnenswert. Der erste Eindruck ist haarsträubend: der neugierige Besucher muß eine verwilderte Wiese überqueren und kommt zu einem zwar beschädigten, aber qualitätvoll gearbeiteten Sandsteinportal. Solche Portale stellen in Brandenburg oft den Höhepunkt eines Schlosses dar. Neben dem Eigentümerwappen, manchmal (hier auch) dem Wappen der Ehefrau bzw. ihrer Familie, darf ein Marienrelief nicht fehlen. Das ganze eingerahmt von antikisierenden Säulen weiß der Besucher gleich, mit welch edlem Hausherren er es hier zu tun hat. In den noch nicht eingefallenen Flügeln sitzt der Schwamm. Die Fenster sind verbarrikadiert, der Putz blättert ab, das Dach ist an einigen Stellen eingefallen und die Wiese ist noch wilder als vor dem Schloß. In den Arkaden sitzen offenbar zwei Obdachlose, die sich für ein bescheidenes Trinkgeld zum Öffnen der Türen anbieten. Vor kurzem muß wohl noch das Museum im Schloß gewesen sein, jetzt ist das Schloß vorerst dem Verfall preisgegeben.
Nach wieder einigen Kilometern ist Glubczyce erreicht. Ein Ort, der im Kriege arg mitgenommen wurde. Das Rathaus lag Jahrzehnte in Trümmern. Inzwischen ist es historisierend wieder aufgebaut und wird als Einkaufspassage genutzt. Das eigentliche Glanzstück ist die Pfarrkirche aus dem 14. Jahrhundert. Sie ist noch in ihren gotischen Formen erkennbar, hat beim Anbau des Querschiffs zwei prächtige Schaugiebel erhalten, die an die hanseatischen Rathausgiebel erinnern.
Jetzt wird es kurios: der kürzeste Weg nach Prudnik führt ein Stückchen weit durch Tschechien. Der Karte nach war der Weg wohl kein offizieller Grenzübergang, muß aber wohl als schwarze Grenze genutzt worden sein. Tatsächlich hört der Weg bei Pomorzowiczki in einer Wiese auf. Zum Glück pflückt gerade ein Landwirt Kirschen. Ihn frage ich (auf polnisch), ob dies der rechte Weg nach Osoblaha und Krzyzkowice sei. Er bejaht und weist mich nach links. Über eine Wiese, die man noch nicht einmal als Trampelpfad bezeichnen mag, komme ich tatsächlich an den nun nicht mehr vorhandenen Schlagbaum. Auf der tschechischen Seite beginnt dann kurz danach wieder ein Weg, und ich fahre zum ersten Mal im Leben durch Tschechien mit dem Fahrrad. Der Übergang auf der anderen Seite ist mittlerweile durch eine richtige Straße ausgebaut. Schilder weisen auf die Finanzierung durch die EU hin. Vor kurzem war das wohl auch noch ein informeller Weg.
In Prudnik angekommen finde ich das bekannte Bild vor: Rynek, Rathaus, Wohnhäuser (von Bürgerhäusern mag man hier nicht sprechen) und Pfarrkirche. Fast alles stammt aus der Nachkriegszeit. Die Barocke Mariensäule zieht die Blicke auf sich. Mit prallen Oberschenkeln, gut gekämmten Haar und dem im Wind flatternden Umhang wirkt die Madonna so lebensnah als wäre sie die junge Mutter von nebenan.
Anhang anzeigen VFTPolR00PrudnikMariens
Nach kurzer Zeit fahre ich weiter nach Glucholazy. Auch hier das gewohnte Bild. Einzige Ausnahme ist das Rathaus, das sich in die Reihe der Wohnhäuser eingliedert. Fast frage ich mich, warum dieser Ort etwas Besonderes darstellen soll bis ich auf dem Rynek auf eine Linde stoße, die angeblich zur Feier des Westfälischen Friedens gepflanzt wurde. Nachdem ein Sturm den letzten lebenden Ast abgerissen hat, wurde in der Mitte des hohlen Stammes eine neue Linde gepflanzt, die heute etwa 50 Jahre alt ist und schon zu ansehnlicher Größe herangewachsen ist.
Jetzt habe ich die Wahl: entweder fahre ich kleine Landstraßen über die Dörfer oder über die Höhenstraße auf tschechischer Seite nach Paczkow. Selbstverständlich nehme ich die Höhenstraße. Wirklich ist der Blick eindrucksvoll: rechts übersieht man weithin das flache Land Oberschlesiens, links türmen sich die bewaldeten Höhenzüge der Sudeten auf. Ein wirklich tolles Panorama, das die manchmal langen Anstiege lohnt. Hier merke ich zum ersten Mal auf der Tour den Wert der neuen Übersetzung. Noch kurz vor der Abfahrt habe ich neue Ritzel eingebaut, die mir die Anstiege erleichtern sollen. Eine ausgeschilderte 8 %ige Steigung über einen Kilometer hat mir keinerlei Schwierigkeiten bereitet.
In Paczkow angekommen staune ich nicht schlecht. Rund um die Altstadt ist die mittelalterliche Mauer noch vollständig erhalten. Sogar die halbrunden Wehrtürme imponieren durch ihre Massivität. Wegen der Mauer wurde Paczkow auch als schlesisches Rothenburg bezeichnet. Aus heutiger Sicht ist das übertrieben, zumal rund um den Rynek einige Bürgerhäuser einzustürzen drohen und andere durch Neubauten aus dem sozialistischen Polen ersetzt wurden.
Auf dem Rynek staut sich die Hitze. Die beiden Cafes sind gut gefüllt mit Eis schleckenden Gästen. Nur der Parkplatzwächter muß ständig die ankommenden Autos einweisen und die Parkzettel verkaufen.
Das Rathaus besitzt noch den alten Uhrenturm, alle anderen Teile wurden erneuert. Höhepunkt ist die Pfarrkirche am Hang. Sie ist als Wehrkirche lombardischer und mitteleuropäischer Charakteristik gebaut. Die extrem breite Westfassade aus dem 15. Jahrhundert erinnert an die pommerschen Backsteinkirchen. Das Schiff ist mit Schwalbenschwanzzinnen umgeben, wie sie für lombardische Burgen typisch sind. Wenn die Bäume nicht wären, sieht es aus der Ferne tatsächlich aus wie eine trutzige Burg, zumal der Kirchturm erst später hinzugefügt wurde.
In Otmuchow ist das mittelalterliche Straßennetz erhalten. Heute sind fast alle Straßen Einbahnstraßen und mit Kopfsteinpflaster bedeckt. Außerdem sind sie so verwinkelt, daß man sich schnell verirrt. Ich muß also lange umherkurven, bevor ich im Zentrum bin. Hier bietet sich alles, was eine Stadt attraktiv macht. Otmuchow wurde nie ernsthaft zerstört. Rathaus und Kirche stammen aus den 1690ern, die Burg ist einhundert Jahre älter. Das Rathaus steht zentral am Rynek, eine Sonnenuhr an der Südostecke hat zwei Zifferblätter und das Stifterwappen; ein bunter Blickfang.
VFTPolR17OtmuchowRynek.jpg
Etwas abseits auf dem Hügel steht die Pfarrkirche. Eigentlich ist sie falsch herum gebaut, d.h. mit dem Chor im Westen. Dafür zeigt die monumentale Barockfassade zur Stadtseite. Wer hier nicht gottesfürchtig ist, wird quasi von der überbordenden Größe erschlagen. Die Ausmalung ist klassisch gehalten: in symmetrischer Anordnung sind Decken- und Wandgemälde mit biblischen Szenen zu sehen. Daneben, noch etwas höher steht die Burg. Von ihr ist nur noch der Ostflügel erhalten, der heute als Hotel genutzt wird. Man möchte den Gästen wünschen, daß die Zimmer besser sind als der äußere Eindruck mit beschädigten Fensterlaibungen und bröckelndem Putz.
 

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15. Etappe

15. Etappe
Aus Wroclaw bin ich in nordwestlicher Richtung herausgefahren. Gerade noch innerhalb der Stadtgrenzen liegt der früher selbständige Ort Lesnica mit einem Renaissanceschloß, das später barock umgestaltet und nach dem Krieg wieder aufgebaut wurde. Es beherbergt heute den Kulturverein mit der Schriftstellervereinigung. Bemerkenswert ist das viel zu große Fundament für den heutigen Bau. Vermutlich ist in der Nachkriegszeit eine verkleinerte Version des Schlosses entstanden. Umgeben ist das Schloß von einem modernen Park mit Spielplatz und reichlich Sitzgelegenheiten. Hier treffen sich die jüngeren Damen zum Schwätzchen, die älteren sprachen mit ihren Hündchen und die Männer warfen die geleerten Bierdosen durch die Gegend. Und das alles am Sonntagmorgen.
Noch etwas weiter nördlich, weit abgelegen jenseits der Bahnlinie liegt ein weiteres Wasserschloß in Wojnowice. Obwohl es in den Ausmaßen bescheiden wirkt, ist dort ein Restaurant mit Hotel eingezogen. Zur Mittagszeit ist gerade eine Privatgesellschaft angekommen; so klein kann es also doch nicht sein, wenn alle Gäste Platz in einem Raum finden sollen. Der Investor hat sich liebevoll um die Restauration bemüht: der Graben ist mit klarem Wasser gefüllt, Enten bringen ihrem Nachwuchs das Schwimmen bei und kleine Wehre im Park verteilt sorgen immer für den rechten Wasserstand. Auch die Außenfassaden wurden instand gesetzt. Die lateinischen Sprüche an den Fensterlaibungen sind ebenso gut zu erkennen wie die Familienwappen der ehemaligen Besitzer.
Wieder zurück auf der Hauptstraße biege ich nun nach Süden ab in den Ort Krobielowice. Das Finden des rechten Weges war nicht ganz einfach; die Ausschilderung im Wald und die Querung der Bystrica müssen erst einmal gefunden und dann auch noch richtig interpretiert werden.
Fragt man nach den bedeutendsten Militärschlachten der letzten 1000 Jahre, kommen wohl die Schlachten bei Leipzig und Waterloo/Belle Alliance in die engere Auswahl. In beiden war Blücher der Oberbefehlshaber der preußischen Truppen und ein entscheidender Offizier, der zum Abschied aus dem Militärdienst das Gut Krobielowice vom König erhalten hat. Ja, da ruht er nun in einem runden Mausoleum, prominent an der Straße gelegen mit der Familiengruft dahinter. Oder vielleicht doch nicht!?
VFTPolU43KrobielowiceMausoleum.jpg
Das kleine Gelände bietet einen traurigen Anblick: von Buschwerk und Unkraut überwuchert muß der neugierige Besucher über eine ausgetretene Wiese laufen, die Büste ist zur Unkenntlichkeit verunstaltet, die Bodenplatten sind zerbrochen und die Familiengruft ist zugemauert. 1945 wurde das Grab schwer beschädigt, um nicht zu sagen geschändet, und seitdem hat sich offenbar niemand ernsthaft um die Wiederherstellung und Pflege gekümmert. Nicht einmal der Blücher-Nachkomme, der das Schloß in ein Golfresort für (angeblich) gehobene Ansprüche verwandelt hat. Betrachtet man die Gäste und deren Autos ist es wohl doch eher ein Mittelklassehotel mit Golfplatz.
Anhang anzeigen VFTPolU47KrobielowiceSchlo
In der Region südlich Wroclaws fallen in fast jedem Dorf die Herrenhäuser auf. Offenbar war Schlesien von so vielen Landadels-Familien bewohnt, die ein ansehnliches Domizil ihr Eigen nennen wollten. Allerdings befinden sich viele in einem ruinösen Zustand.
Schon von weitem sieht man den Bergkegel am Horizont aufragen. Das ist also der sagenhafte Gora Sleza, mit gut 700 m der höchste Berg des Vor-Sudentenlandes. Doch zuvor noch ein kurzer Besuch in Sobotka am Fuße des Berges. Läge das Städtchen nicht im Schatten des Berges würde vermutlich kaum jemand ein Wort darüber verlieren. Jedoch war seit Urzeiten der Berg ein heiliger Ort mit Sobotka als spirituellem Zentrum im Flachland. Heute zeugt davon noch die romanische Annenkirche: Sie, genauer: ihre Apsis, ist mitten auf einem der heiligen Steinkreise errichtet. Vermutlich wollten die Erbauer die Überlegenheit des Christentums über den 'heidnischen' Glauben zum Ausdruck bringen.
Am Ortsrand beginnen die verschiedenen Rad/Wanderwege auf den Gipfel. Als ich die zurückkehrenden Radfahrer sehe, bekomme ich doch Bedenken. Sie haben richtige Mountainbikes mit rustikalen Reifen, eine dicke Schutzausrüstung und natürlich kein Gepäck. Schließlich riskiere ich es doch, die über 400 Höhenmeter zum Gipfel anzutreten. Die ersten Kilometer auf den serpentinenartigen Wegen lassen sich zwar beschwerlich, aber doch befahren. Es wird jedoch immer unwegsamer; größere Geröllbrocken des vulkanischen Gesteins bilden den Belag, zudem rieseln überall die Rinnsale bergab. Etwa zur Halbzeit geht gar nichts mehr, ab jetzt muß ich also schieben. Oh je, Schieben ist erheblich anstrengender als Fahren. Nach einer Zeit, die mir wie Stunden vorgekommen ist, komme ich schweißüberströmt oben an und erstarre fast zum Eisklotz. Es weht ein zugiger Wind, und auf dem Gipfel gibt es praktisch keine geschützten Ecken. Insgeheim hatte ich die Ausgrabungsstätte oder wenigstens eine Dokumentation dazu erwartet, doch lediglich ein Gipfelkreuz, eine verschlossene Kirche und eine Gastwirtschaft neben einem Sendemast stehen dort. Dafür die ganze Mühsal!!? Der Abstieg wird ebenso anstrengend wie der Aufstieg. Selbstredend ist an Fahren nicht zu denken, so muß ich das Fahrrad ständig wie ein wildes Pferd zurückhalten, auch das kostet viel Kraft. Sollte ich noch einmal diesen Berg besteigen wollen, werde ich bestimmt das Fahrrad unten abstellen und den Wanderweg zu Fuß nehmen.
Zum Glück fahre ich jetzt über wenig frequentierte Landstraßen über Jordanow nach Strzelin. Hier erwartet mich ein Städtchen, das fast so aussieht, als wäre der Sozialismus noch immer für die Stadtplanung verantwortlich. Nach den schweren Kriegszerstörungen ist zwar das alte Straßennetz im Zentrum erhalten geblieben, insbesondere der Rynek, jedoch hat sich der Charakter völlig verändert. Vom alten Rathaus steht nur noch ein kümmerlicher Rest, wo die Markthallen standen, trifft man sich heute auf Bänken, die Umbauung fehlt entweder ganz oder ist durch Plattenbauten ersetzt. Die Geschäfte am Rynek sehen aus wie typische sozialistische Kaufhäuser oder roh gezimmerte Verkaufsbuden. Auch die übrigen Repräsentationsbauten erscheinen in einem farblosen grau – und das bei Sonnenschein. Na ja, es ist eine ganz brauchbare Erfahrung, auch so eine Stadtentwicklung einmal gesehen zu haben.
Das ursprünglich von Zisterziensern bewirtschaftete Kloster in Henrykow war einmal der geistige Mittelpunkt der Region. Noch im 18. Jahrhundert haben die Mönche umfangreiche Investitionen in den Bestand und den Umbau ihres Klosters geleistet. Nach der Säkularisierung stand es leer bzw. wurde als Fachschule genutzt. Erst 1990 sind wieder Franziskaner eingezogen und haben die Anlage restauriert und mit neuem Leben erfüllt. Das Kloster präsentiert sich als Barockbau mit leuchtender Fassade in zartgelb und rot; ein Blickfang für den guten Geschmack. In den Nebengebäuden sind Werkstätten für Menschen mit Behinderung, ein Altersheim und eine Gärtnerei untergebracht; sogar ein kleiner Bauernhof mit Tieren mehr zum Streicheln denn als Nutztiere gehört zum Kloster. Leider komme ich etwas zu spät für die letzte Führung des Tages, so muß ich mich mit dem Anblick von außen begnügen, der wie gesagt den Besuch allemal lohnt.
Den Etappenabschluß bildet das Städtchen Ziebice. Es könnte ein herausragender Magnet für Gäste, Touristen oder Geschäftsleute sein, wenn sich die Bewohner etwas mehr herausputzten. Das Zentrum hat alle Zeitläufte weitgehend unbeschadet überstanden. Auf dem Rynek steht das im Abendlicht glänzende (schon restaurierte) Rathaus mit Sonnenuhr und Stadtwappen. An den Häusern rundherum kann man noch den Glanz vergangener Zeiten erkennen: barocke Girlanden, klassizistische Fassaden, kaiserzeitliche Wehrdächer usw. Allerdings bröckelt fast überall der Putz, manche Wände sind mit Rissen übersät und die Farbe blättert ab. Nicht weit entfernt steht die mächtige Pfarrkirche: zwei gotische Schaugiebel nach Westen mit Portalen, bunte Fenster bergen ein zweischiffiges Kirchenschiff, das reich mit gotischem und barockem Inventar ausgestattet ist. Schade, hier ruht noch ein verstaubter Diamant, der die Region sicher noch attraktiver machen könnte, wenn er denn geschliffen und poliert würde.
Todmüde und mit einem schweren Muskelkater vom Auf- und Abstieg des Gora Sleza erreiche ich Starczow und werde hoffentlich gut schlafen.
 

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16. Etappe

16. Etappe
In Kamieniec erwartet mich ein hübsches Städtchen; der Ortskern liegt im Tal entlang der Hauptstraße und an einem kleinen Fluß. Hoch darüber thront auf einem Hügel ein Schinkel-Schloß. Doch der Reihe nach. Kamieniec besitzt keinen Rynek, insofern kann das Rathaus auch nicht prominent das Zentrum beherrschen; vielmehr spielt sich das gesamte Leben an der Hauptstraße ab, dort gibt es die Geschäfte für Lebensmittel, Mode usw. Entsprechend herrscht auch morgens schon viel Betrieb. Etwas abseits steht das ehemalige Zisterzienserkloster, von dem nur noch die Kirche und ein Flügel stehen.
Höhepunkt ist das Schloß, das ab 1838 für den Bruder Friedrich Wilhelm IV. erbaut wurde. Fast mutet es wie ein Strafumzug an, daß ein Mitglied der königlichen Familie hierhin 'verbannt' wurde, in die hinterste Ecke Niederschlesiens. Schinkel hat eine Mischung einer mittelalterlichen Trutzburg und eines römischen Kastells geschaffen, allerdings mehr in die Breite und mit vier dominierenden Türmen an den Ecken. Die Ornamentformen gleichen dem gotischen Maßwerk an Kirchenfenstern. Das Schloß ist zwar zu besichtigen, es besitzt allerdings den Charakter einer verwaisten Baustelle. Rundherum sind noch die Becken phantasiereicher Wasserspiele zu sehen inmitten eines verwilderten Parks, der einst von Lenne angelegt worden war. Die Sowjets haben 1944/45 das Schloß geplündert und später in Brand gesteckt. In den 1990ern hat ein Investor aus dem Schloß ein Hotel zu machen versucht, ist jedoch gescheitert.
Etwas weiter nördlich wurde Literaturgeschichte geschrieben, oder? Vielleicht diente Zabkowice tatsächlich als Vorlage für den 'Frankenstein', zumindest lautete der alte Ortsname so. Eigentlich liegt Zabkowice ganz romantisch auf einem Hügel an der Flußschleife. Der neugierige Radler kommt noch einmal außer Atem bevor er den Rynek erreicht. Gleich nebenan steht die gotische Pfarrkirche mit dem Glockenturm des Vorgängerbaus, der wie als kleiner Bruder des schiefen Turms in Pisa frei steht. Er hat sich im 16. Jahrhundert nach einem Brand zur Seite geneigt, offenbar wurde daraufhin das Obergeschoß abgetragen bzw. ist eingestürzt. Eigentlich sollte er dann in den 1850ern abgerissen werden, doch die Bürgerproteste haben ihn gerettet. Er wurde sogar wieder aufgestockt, allerdings gerade. Auch hier gab es (wie in Pisa) zwei Bauabschnitte, so daß der Turm zwei Knicke besitzt mit Fenstern und einer wehrhaften Plattform ganz oben.
Der nächste Stop wartet in Niemcza. Hier wird gerade der Rynek erneuert. Offensichtlich ist der lange Markt aus einem Dorfanger entstanden: die abschüssige Straße verbreitert sich, an den Seiten stehen Bürgerhäuser und in der Mitte war vielleicht einmal ein Löschteich, ein offener Marktplatz oder eine kleine Wandelallee. Für ein Rathaus war kein Platz, so schmiegt es sich die Reihe der Bürgerhäuser. Heute wirkt Niemcza etwas unansehnlich; die Baustelle verstreut Dreck und Staub und an den Hausfassaden blättert die Farbe ab. Niemcza könnte wie viele andere Gemeinden der Umgebung für die Bewohner ein angenehmer Platz zum Leben sein, wenn sie sich denn mehr um ihre Häuser kümmerten. Für Touristen kann Niemcza bestenfalls ein Zwischenstop an der Hauptstraße sein: Attraktionen fehlen.
Deutlich besser sieht es in Dzierzoniow aus. Hier erwartet mich wieder ein 'klassisches' Stadtensemble: Der Rynek beherbergt das Rathaus prominent in der Mitte, daneben steht die ehemalige Tuchhalle, und hinter der Häuserzeile überragt der imposante Schaugiebel der Kirche das ganze Zentrum, und die ehemals evangelische Kirche am anderen Ende ist ein Werk Langhans' mit strengen Fassaden, die nur durch eine grüne Girlande aufgelockert sind. Ein paar Cafes mit Sonnenschirmen sind gut besucht, der Rynek ist verkehrsberuhigt, ja hier kann man es gut aushalten.
Wegen der Geschichte der Textilfabrikation wurde Dzierzoniow mehrfach zum Thema sozialkritischer Werke: Heinrich Heine, Gerhart Hauptmann und Käthe Kollwitz haben den ausgebeuteten Arbeitern künstlerische Denkmäler gesetzt. Da wirkt es fast ironisch, daß Dzierzoniow nach dem Krieg nach einem Bienenzüchter umbenannt wurde.
Ebenfalls Weltgeschichte wurde ein paar Kilometer weiter in Krzyzowa geschrieben: der erfolgreiche Generalfeldmarschall v. Moltke hat sich hier einen Altersruhesitz zugelegt.
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Nachdem der deutsche Kaiser Wilhelm I. ihn denn endlich entlassen hatte, konnte er seine letzten Lebensjahre auf dem Gutshof verbringen. 50 Jahre später hat sein Großneffe Helmuth James v. Moltke dort mit seiner jungen Familie gewohnt und schon früh den bösartigen Charakter des Nationalsozialismus erkannt. Während des Krieges hat sich hier mehrmals der Kreisauer Kreis getroffen, eine Gruppe demokratisch gesinnter Patrioten, die den Entwurf eines nachhitlerschen Staates entworfen haben.
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Ihre Ideen klingen angesichts der herrschenden Situation wie naive Visionen einer entrückten Bürgerschicht, auch wenn sie grundsätzlich richtig sind. Die kleine Ausstellung dazu stellt die Mitglieder vor, und erweitert sich dann zum Wiederstand gegen die sozialistischen Machthaber in Osteuropa. Fast möchte man ein modernes Kapitel hinzufügen: die Innenminister weltweit müssen nur mit Sicherheitsbedenken argumentieren, schon lassen sich alle demokratischen Bürgerrechte ohne öffentliche Debatte und ernsthafte parlamentarische Kontrolle einschränken.
Einige Kreisauer waren auch in das Attentat vom 20. Juli 44 verwickelt. Sie wurden fast alle aufgedeckt, verurteilt und hingerichtet. Auch Moltke starb im Januar 1945 durch den Strick.
Heute ist der Gutshof eine Bildungsstätte, die sich der europäischen Integration widmet. Jetzt, Ende Juli, finden eine Sommerakademie, ein Künstlerworkshop und diverse Einzelveranstaltungen statt. In der Bibliothek treffe ich eine Bremerin, die nach ihrer Pensionierung schon mehrmals ehrenamtlich für die Stiftung gearbeitet hat. Sie hat polnische Wurzeln und möchte auf diese Weise die Heimat ihrer Vorfahren ein Stück weit ins moderne Europa begleiten.
 

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19. Etappe

19. Etappe
Entlang des Bobr führt die Straße nach Norden. Es mutet fast schon wie ein Kulturschock an: wer aus Westen oder Osten in die Gegend kommt, trifft plötzlich eine außergewöhnlich dünn besiedelte Heide- und Waldlandschaft an. So passiere ich nur wenige Dörfer mit wenigen Gehöften, sonst gibt es reichlich Wald.
Endlich komme ich in Szprotawa an, einer Kleinstadt, die durch ihr doppeltürmiges Rathaus bekannt geworden ist. Diesen Typus sieht man fast nirgends, obendrein sind die beiden Türme äußerlich unterschiedlich gestaltet und stammen aus verschiedenen Epochen, der Renaissance und dem Barock. Vielleicht wollte das Bürgertum nicht nachstehen, nachdem die zweite Kirche im Ort errichtet worden war. Ein zweiter Superlativ überrascht an der katholischen Kirche: ein Grabstein an der Außenwand soll der älteste Schlesiens sein. Tatsächlich ist er gotisch und deutet die verstorbene Person nur durch grobe Skizzen an mit einer gotischen Inschrift ringsum versehen.
Hier in Szprotawa ist ganz markant die Nachkriegsgeschichte der Region an der Nordwestgrenze Niederschlesiens zu sehen: die Innenstädte wurden in sozialistischer Zeit nicht wieder aufgebaut. Zwar wurden die Trümmer beseitigt und wohl so manche Ruine ganz abgetragen, es blieb jedoch eine tote Gegend. Erst seit den achtziger Jahren fingen die neuen Bewohner mit der historischen Restaurierung an und begannen den Wert eines Zentrums zu entdecken.
Am deutlichsten sieht man es in Glogow. Das Rathaus wurde so originalgetreu wie möglich wieder aufgebaut. Der ganze Ring aus Bürgerhäusern besteht jedoch aus Neubauten, die entfernt an die ehemaligen Giebelhäuser erinnern. Das Stadttheater neben dem Rathaus, innen im Rynek wird noch errichtet, und die halbe Südfassade außen ist eine eingezäunte, verwilderte Wiese. Genau wie in Szprotawa wurde nur eine Kirche wieder aufgebaut, die den Katholiken als Gotteshaus dient, die anderen Kirchen bleiben als Ruine bestehen bzw. werden irgendwann einmal restauriert. Sogar die Kathedrale in Glogow wurde nur verkleinert wieder hergestellt unter Einbezug der übriggebliebenen Reste. Es sieht eigenartig aus, wie die mächtigen gotischen Außenstreben den Chor stützen, und das Mittelschiff strebt hoch und schlank ohne Stützen nach oben.
Unterwegs komme ich in Wielki Kurow vorbei. Die Oder hat sich hier ein breites Tal gegraben, obwohl sie heute nur einen kleinen Teil davon einnimmt. Man kann sehr schön sehen, an welchen Hügeln der Fluß keine Nahrung gefunden hat; sie erheben sich im Odertal weithin sichtbar. Auf einem dieser Hügel steht nun die Kirche in Wielki Kurow. Daneben gibt sie allerdings nicht viel her: ein Feldsteinbau mit abgestuftem Chor. Innen soll sie zwar sehenswert sein, überzeugen kann ich mich davon nicht; sie ist verschlossen. Der ältere Herr auf dem Friedhof weiß auch keinen Rat und versteht mich nicht.
Etwas später wartet ein unerwarteter Höhepunkt: Bytom Odrzanski auf einer Anhöhe an der Oder.
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Ich komme ganz schön ins Schwitzen beim Aufstieg, doch dann entschädigt der Anblick für alle Mühsal. Der Rynek ist komplett restauriert, die Ornamente an den Fassaden wirken, als wären sie erst kürzlich angebracht (vielleicht stimmt das sogar), und die Farben leuchten grandios. Besonders das Haus 'Zum goldenen Löwen' zeugt vom ästhetischen Empfinden der Baumeiser. Den Eindruck verstärkt der freie Platz; das Rathaus steht in Bytom Odrzanski nicht in der Mitte, sondern reiht sich in den Kranz der Bürgerhäuser ein. So streift der Blick ungehindert an den Fassaden entlang und kann sich doch nicht vor der Vielfalt beruhigen. Hier ruhe ich mich länger aus und genieße die Platzatmosphäre.
Nach einer Stunde Fahrt komme ich in Kozuchow an. Der Ort wurde im Krieg zwar beschädigt, doch blitzen immer wieder bauliche Relikte der Vergangenheit auf. Etwas abseits, fast noch am alten Stadtrand stehen einige gründerzeitliche Wohnhäuser mit auffälligem Fassadenschmuck. Sie zeugen vom wirtschaftlichen Wachstum der Kaiserzeit, denn die Häuser stehen außerhalb der mittelalterlichen Stadtmauer in der Nähe einiger ehemaliger Industrieanlagen. Hier hat offensichtlich die gehobene Arbeiterschaft gewohnt.
Ein paar Straßen weiter erreiche ich den Rynek, der mich als eine Baustelle begrüßt. Das alte Straßenpflaster wird ersetzt durch den historischen Belag aus kleinteiligem Granitstein. Etwas, was sich übrigens mehr und mehr in Mitteleuropa durchsetzt. Die Versiegelung der Straßen durch Asphalt hat sich also doch nicht als so vorteilhaft erwiesen. Kozuchow wird sich demnächst in einem neuen Glanz präsentieren. Das ist auch nötig, denn rund um den Rynek stehen viele einfache Grauputzbauten, ja sogar das Rathaus besteht heute vorwiegend aus Platten, lediglich der Turm und wenige Bürgerhäuser am Rynek haben die Zeiten unbeschadet überstanden. Allesamt präsentieren sich in einem eher monotonen Grau, vielerorts blättert die Farbe ab. Kozuchows Rynek könnte wirklich attraktiv sein, wenn sich die Bewohner mehr um ihre Häuser kümmerten.
Wunderbar zum Entspannen ist dagegen der Grünstreifen entlang der mittelalterlichen Stadtmauer. Kozuchow hatte eine Art doppelter Mauer mit einem Graben dazwischen. Die Stadt lag dann leicht erhöht darüber. Noch heute ist der Grüngürtel an einigen Stellen terrassiert. Diese Befestigung muß früher eine geradezu uneinnehmbare Festung gewesen sein, was die strategische und ökonomische Bedeutung Kozuchows erklären könnte, obwohl oder gerade weil die Oder etwa 10 km entfernt fließt.
Dort hat sich erst Ende des 16. Jahrhunderts die Stadt Nowa Sol entwickelt. Sie legitimiert sich aus den Salzvorkommen, die aus dem losen Gestein herausgesiedet wurden. Salz war zu der Zeit so kostbar, daß Kaiser, Könige und Herzöge Nowa Sol großzügig mit Privilegien ausgestattet haben. So ist schließlich der größte Binnenhafen an der Oder entstanden. Diese späte Entwicklung erklärt auch, warum Nowa Sol keinen typischen Stadtgrundriß und keine gotischen Bauwerke bzw. Vorgängerbauten besitzt. Der funktionalen Stadtentwicklung mußten sich selbstverständlich auch die Repräsentativbauten fügen. So besitzt die Stadt keinen Stadtkern, keinen zentralen Ort und keine prominente Allee zum Flanieren. Schade eigentlich, ich fahre kreuz und quer durch die Stadt und finde doch keinen Ort, wo ich mich niederlassen könnte. Ein paar Cafes laden mit geöffneten Schirmen ein, doch zerstört der starke Autoverkehr jeden Genuß.
Kurz vor Zielona Gora besuche ich das Freilichtmuseum bei Ochla. Hier werden die für Schlesien typischen Gehöfte gezeigt. Im Vergleich zu den Gebäuden in anderen Freilichtmuseen in Pommern oder Wielkapolska sind die schlesischen größer und komfortabler ausgestattet: fast jeder Raum besitzt eine Feuerstelle, Schlaf- und Wohnzimmer sind getrennt, die Decken sind höher usw. Nicht umsonst sprach man in Preußen von Schlesien immer hochachtungsvoll als von der großen Kornkammer. Dieser agrarische Wohlstand hat sich auch im ländlichen Häuserbau niedergeschlagen. Und noch etwas fällt auf; genauer gesagt, die Museumsführerin erklärt es so: die Nachkriegsbevölkerung aus der Bukowina und aus der Lvov'er Gegend hat Reparaturen so vorgenommen, wie sie es aus der Ukraine her kannten. So haben manche Höfe ein Holzdach aus drei Lagen, was für Schlesien absolut untypisch ist. Selbstverständlich wurde diese Fußnote der Kulturgeschichte so belassen, als die Gehöfte im Museum zusammengestellt wurden.
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Den Katzensprung nach Zielona Gora kann ich noch bei strahlendem Sonnenschein fahren. Schon in den letzten Tagen waren auffällig viele Bauprojekte aus der Spätzeit der österreichischen Herrschaft in Schlesien zu sehen: z.b. Legnickie Pole, Legnica und Lubiaz. Die Gründe dafür sind mir allerdings nicht klar. War es ein plötzlicher Anstieg des Wohlstandes in Schlesien? Hat der habsburger König und Kaiser seine Liebe zu Schlesien entdeckt? Etwas provokanter: Wurde Schlesien für Friedrich den Großen erst anschließend zum begehrten Objekt, daß er einen illegalen Krieg vom Zaun gebrochen hat? Wie auch immer, den modernen Radler erfreut die kulturelle Blüte des frühen 18. Jahrhunderts.
Zielona Gora gehört zwar historisch zu Niederschlesien, ist bei der Grenzziehung nach dem Krieg jedoch der Wojwodschaft Lebuskie zugeschlagen worden. Hier muß wohl in sozialistischer Zeit eine druckvolle Förderung stattgefunden haben. Zwischen 1945 und 2000 hat sich die Einwohnerzahl mehr als verdreifacht, nachdem sie zwischen 1937 und 1945 nur moderat gesunken war, wenngleich die Bevölkerung ausgewechselt wurde. Zielona Gora wurde im Kriege nur wenig zerstört, die Schäden waren schnell beseitigt; die Stadt präsentiert sich also schon länger als ein attraktiver Ort. Allerdings wird just gerade der Straßenbelag am Rynek und in den Fußgängerzonen ausgewechselt. Schade, mein Eindruck könnte sehr schön sein, jetzt ist er belastet durch Staub und Lärm.
Zielona Gora ist berühmt geworden durch den Weinanbau. Noch in der Vorkriegszeit haben Winzer mit dem Prädikat 'Größter Schaumweinproduzent Deutschlands' geworben, und es wurde jährlich ein großes Weinfest abgehalten. In sozialistischer Zeit wurde der Weinbau eingestellt, erst jetzt wieder, durch EU-Förderung knüpfen einige Begeisterte an die alte Tradition an. Sie haben den städtischen Hügel teilweise mit Wein bepflanzt. Natürlich ist es noch zu früh für ernsthafte Erträge, doch beim Spazieren quer über den Hang spürt man den Willen, der Stadt auch dieses Stückchen Vergangenheit zurückzugeben.
 

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30.08.2010
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21. Etappe

21. Etappe
Jetzt geht es richtig in die Sudeten, genauer in das Isergebirge, dem westlichsten der Sudeten-Bergrücken. Die Straßen werden immer steiler, und die Landschaft wechselt häufiger zwischen Wäldern und Feldern.
Die Kwisa ist eigentlich ein harmloses dahinfließendes Bächlein, das im Frühjahr oder nach starken Regenfällen doch ungeheure Kräfte entwickeln kann. So haben die Erbauer der Burg Czocha im 13. Jahrhundert wohlgetan, als sie einen steilen Felsen als den geeigneten Ort ausgewählt haben. Heute ist die Kwisa zwar durch eine Talsperre reguliert, was der Burg einen noch reizvolleren Ort verleiht: Halb von Wasser umgeben thront sie erhaben oberhalb der Talsperre, und auf der Rückseite zieht sich die hügelige Landschaft nach Süden mit Blick auf die höchsten Bergkämme.
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Die Burg war um 1900 praktisch dem Verfall preisgegeben, als ein Dresdner Fabrikant das alte Gemäuer für sich auswählte. Sie wurde nach einem 300 Jahre alten Stich restauriert, mit neuem Inventar ausgestattet und dient heute als Herberge. Beim Rundgang offenbaren sich so manche Geheimnisse: vom Empfangssaal durch die Bibliothek bis zu den Privatgemächern führen versteckte Türen durch schwenkbare Bücherregale oder hinter Spiegeln verborgen von einem Raum in den nächsten. In den Turm muß sich der neugierige Besucher durch enge Gänge zwängen, bevor sich der Blick ins Verließ und dann treppauf bis zu den obersten Fenstern öffnet. Ohne Guide würde sich ein unbedarfter Gast zwangsläufig verirren. Die Burg wirkt vor allem durch sich selbst, die museale Ausstattung zeigt nichts Besonderes, vor allem Alltagsgegenstände vergangener Tage und die Folterkammer.
Fast den ganzen Tag folge ich dem Lauf der Kwisa stromaufwärts. Der nächste Ort ist Gryfow Slaski. Er wirkt von weitem wie von einer Moschee dominiert. Der Rathausturm ist in mehrere 'Stockwerke' gegliedert, die entfernt mit einem Minarett Ähnlichkeit haben. In der Nähe steht der Kirchturm, der diesen Eindruck noch verstärkt. Gryfow Slaski zeigt tatsächlich im Wappen einen Greifen, obwohl doch schon im Mittelalter die Piasten die Herrscherdynastie gebildet haben. Vielleicht war die Gegend einmal Teil des Greifenlandes und hat diesen Charakter bis heute im Namen behalten. Vom Fluß führt die Straße geradezu malerisch zum Rynek hinauf, wenn denn die Häuser nicht den Hauch des Sozialismus atmeten und in einem unansehnlichen Zustand wären. So besitzt Gryfow zwar Potential, weiß jedoch nicht so recht etwas damit anzufangen.
Noch krasser sieht es in Mirsk aus. Nach einem verheerenden Brand 1767 wurden nur das Rathaus und die Pfarrkirche wieder aufgebaut. Die Bürgerhäuser wurden seitdem den Bedürfnissen angepaßt und bei Bedarf neu gebaut solange die Stadt noch Zentrum der Edelsteinschleiferei war. Heute macht Mirsk einen verschlafenen Eindruck, und so sehen auch die Häuser aus.
An der Strecke liegt jetzt das westlichste der Heilbäder der Sudeten, Zwieradow Zdroj. Seit über 100 Jahren findet hier ein Kurbetrieb statt. Dem Wasser wird seit 1601 eine valide Heilwirkung nachgesagt. Tatsächlich sitzen auf den Bänken im und um das Kurhaus herum viele Menschen und trinken aus einfachen Plastikbechern das gute Wasser. Das hölzerne Kurhaus stammt ursprünglich von 1899 und bietet neben der Wasserspende eine kleine Bühne und diverse Cafes, Souvenirs und Kiosks. Als gesunder Radler fühle ich mich fast fehl am Platze, und ein Schwätzchen über die Zipperlein des Alters möchte ich niemandem abnötigen. Vielleicht hat mich auch das Schicksal Hans Castorps vom Zauberberg nachhaltig Respekt vor Kurkliniken gelehrt. Weil es sonst in Zwieradow Zdroj nicht viel zu sehen gibt, fahre ich weiter durch das immer enger und steiler werdende Tal der Kwisa. Rechts und links ragen die bewaldeten Hänge des Isergebirges auf. Der höchste Punkt auf der rechten Seite liegt bei über 1000 Metern. Zwar muß ich nicht bis auf diesen Aussichtspunkt, doch anstrengend und schweißtreibend ist der Aufstieg allemal.
Nach Überqueren des Bergrücken geht es dann wieder bergab nach Szklarska Poreba, einem kleinen Dorf, das durch den Ganzjahrestourismus zu allgemeiner Bekanntheit gekommen ist. Tatsächlich starten von hier Wanderwege in alle Richtungen, ja sogar bis hinauf auf den Gipfel des Riesengebirges. Der besondere Reiz Szklarska Porebas liegt in der chaotischen Zersiedlung. Es gibt zwar einen Ortskern mit den nötigsten Einrichtungen, doch die Hotels und Privatquartiere liegen weit verstreut in den Tälern, auf den Hängen und in der Nähe der Naturparks. Man kann stundenlang radfahren und hat ständig den Eindruck der natürlichen Mittelgebirgslandschaft ohne den Kontakt zur dörflichen Infrastruktur zu verlieren. Immer wieder erfreut sich das Auge an neuen Perspektiven, wenn ein Kamm erreicht und dann überschritten ist.
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Ich kann mir sehr gut vorstellen, wie die von Gerhart Hauptmann gegründete Literatenkolonie sich hier inspirieren ließ. Das ehemalige Wohnhaus der Brüder Hauptmann ist heute ein Museum, in dem vor allem zeitgenössisches Kunsthandwerk ausgestellt ist. Lediglich ein Raum erinnert durch Erstausgaben und Photos an den Nobelpreisträger und seinen Bruder.
Der Südwest bläst das wechselhafte Wetter über die Kämme des Riesengebirges nach Norden. Abwechselnd scheint die Sonne, werfen die Wolken originelle Schatten und tröpfelt es ein wenig. Wie viele andere Wanderer mache auch ich mich auf zum Wodospad Kamienczyka, einer extrem engen Schlucht, in die sich über mehrere Kaskaden ein Bergbach stürzt.
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Nach den Regenfällen der vergangenen Tage ist der Bach mächtig angeschwollen, so daß das Naturschauspiel besonders eindrucksvoll wirkt, allerdings auch der bachnahe Weg gesperrt ist. Der Bach hat sich einen tiefen Einschnitt in den Fels geschnitten, nur wenige Meter breit, aber 27 Meter tief. Hier hinein ergießen sich die schäumenden Fluten. Die Wanderer zücken ihre Kameras und versuchen die expressivsten Eindrücke einzufangen. Am Scheitelpunkt angekommen fängt es langsam zu nieseln an, später steigert sich das Wetter zu einem echten Dauerregen. Zum Glück bietet eine einfache Hütte Nachtlager für gestrandete Radfahrer an. Die Nacht in der Einsamkeit hatte ihren besonderen Reiz: Kein Mensch stört die Ruhe, kein Lichtreiz zerbricht die Dunkelheit und kein Motorengeheul geht mir auf die Nerven. Zurückgeworfen in die Natur lausche ich dem Regen und dem ständigen Getöse des Wasserfalls bis ich in einen tiefen Schlaf falle, aus dem mich erst die Morgensonne erweckt.
 

Wolke7

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30.08.2010
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468
Hallo Flysurfer,
vielen Dank für Dein Lob.
Der Vielfliegertreff ist der einzige Ort, an dem der Reisebericht veröffentlicht ist. Quasi exklusiv für die Forummitglieder.
Wahrscheinlich weiß Du schon: Beim Klick auf die Miniaturansichten wird das Bild etwas größer. Andere Tricks habe ich auch noch nicht ausprobiert. Vielleicht können die Mods helfen??
Gruß
Jens
 

Wolke7

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30.08.2010
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22. Etappe

22. Etappe
Szklarska Poreba ist sehr touristisch organisiert; angeblich ist es der nach Karpacz meist besuchte Ort im Riesengebirge. Die Bewohner haben sich darauf eingestellt und bieten Unterkunft, Gastronomie, Touren, Souvenirs und allerlei weitere Dienstleistungen an. An der Straße stehen sowohl Steinhäuser mit Holzgiebeln und reich verziertem Schnitzwerk am Dach als auch Plattenbauten. Doch bereits nach wenigen Metern hat man den Ort verlassen, und ich fahre auf der Waldstrecke ins Nachbardörfchen. Ein paar Bäche winden sich malerisch, bisweilen wildromantisch den Hang hinunter. Nach den Regenfällen sind sie reichlich angeschwollen und haben zudem die Wege in weiche Pisten verwandelt.
Jagniatkow ist vor allem durch Gerhart Hauptmann bekannt geworden. Nach seiner Scheidung wollte er Abstand zu Szklarska Poreba gewinnen und doch das schlesische Riesengebirge nicht verlassen. Er baute sich also nebenan ein neues Haus, etwas größer als das erste, und zog mit seiner neuen Gattin ein. Später wurde noch als Geburtstagsüberraschung die Eingangshalle mit Fresken ausgeschmückt. Hier wird Hauptmann viele Inspirationen empfangen haben; zusätzlich hat er fast täglich einen Spaziergang an den Hängen unternommen. Das Ergebnis sind zahlreiche Werke und die Verleihung des Nobelpreises. Die Ausstellung ist nicht wirklich reicher als die in Szklarska Poreba: ein paar Erstausgaben, Kopien wichtiger Dokumente und wenige Memorabilien aus dem Nachlaß. Das Areal wirkt eben durch sich selbst und vor allem durch die Lage mit Blick auf das westliche Riesengebirge.
Die Fahrt führt jetzt nur noch bergab. So eine entspannende Stunde auf dem Rad habe ich lange nicht gehabt. Bei Sobieszow möchte ich auf den Hausberg fahren. Hoch oben auf dem Gipfel thront eine gewaltige Burgruine der Familie Schaffgotsch. Die Burg wurde im 13. Jahrhundert errichtet und immer weiter verstärkt, so daß sie als trutzige Burg allen schwedischen Angriffen mit modernster Artillerie während des 30jährigen Krieges standhalten konnte. Was der Mensch nicht geschafft hat, hat dann die Natur geschafft: Ein Blitz löste 1675 einen Brand aus, dem die ganze Burg zum Opfer fiel. Zwar blieben die Mauern stehen, die Innenräume waren jedoch zerstört; die Burg wurde nie wieder aufgebaut. So steht sie also heute als unverfälschtes Zeugnis spätmittelalterlicher Verteidigungsarchitektur auf dem Berg und kann besichtigt werden. Im Hof wird der Gebrauch alter Handwaffen demonstriert. Na ja, eigentlich ist es mehr eine Clownerie für die Kinder mit historischen Kostümen. Säbelrasseln, Donnerschläge und Kampfgeschrei regen immer wieder zu Beifall und Lachsalven an. Die Dialoge habe ich zwar nicht so genau verstanden; es muß wohl um die Gunst schöner Frauen und die besten Plätze beim Rittermahl gegangen sein.
Wieder nur wenige Kilometer weiter komme ich nach Cieplice Zdroj. Wie der Name schon sagt ein Kurbad, in dem man schon vor Jahrhunderten die heilende Wirkung des hier entspringenden Wassers kannte. Im Kurpark stehen denn auch die Trinkhalle, ein Theater und verschiedene Restaurants; leider sind sie gerade geschlossen, weil der Kurpark umgestaltet wird. Die Kurstraße ist dafür geöffnet mit Läden des täglichen Bedarfs und sonnigen Cafes. Die Südseite wird dominiert vom Schaffgotsch-Palais, einem klassizistischen Repräsentationsbau. In strahlendem Weiß zeigt es die Familienwappen zur Stadtseite und öffnet sich zur Parkseite. Die Schaffgotsch waren die bedeutendste Adelsfamilie der westlichen Sudeten, was sie zu Herrschern, sozialen Fürsorgern und Mäzenen zugleich machte.
Endpunkt dieser kurzen Etappe ist Jelenia Gora. Die Stadt wurde im Krieg praktisch nicht beschädigt, erst die Vernachlässigung der neuen Bewohner führte zu ernsten Schäden an der Bausubstanz und am wohligen Charakter der Innenstadt. Inzwischen wurde rund um den Rynek das historische Stadtbild wieder hergestellt. Besonders markant sind die durch Arkaden geteilten Laubengänge, die dem Platz ein mediterranes Flair geben.
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Man darf allerdings nicht zu genau hinsehen: Meistens wurden nur die Giebelfassaden und Laubengänge an moderne Wohnbauten angesetzt. Doch hat sich der Rynek dadurch in einen angenehmen Aufenthaltsort verwandelt. In den Laubengängen kann man gelassen einen Kaffee schlürfen und den Menschen zusehen.
Auch in Jelenia Gora durften die Protestanten nach 1707 (Altranstädter Konvention) eine eigene Kirche bauen. Nach den Friedenskirchen in Swidnica und Jawor ist hier ein weiteres beeindruckendes Bauwerk entstanden: eine freie Kopie der Katharinenkirche in Stockholm auf griechischem Kreuz und Zentralturm. Seitdem wurde die Kirche zwar noch vergrößert und hat die Proportionen leicht verändert, doch sie steht immer noch dort als Zeichen religiösen Friedens und Toleranz in wilden Zeiten.
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Die Stadt wird besonders von deutschsprachigen Touristengruppen besucht, die geradezu die ganze Innenstadt bevölkern. Überall stehen örtliche Guides mit ihren Gruppen und blockieren die Fußgängerzone; in den Cafes sitzen die erschöpften Gäste und erhitzen sich die Gemüter über das Gesehene und Erlebte. Fast wird es peinlich, wenn sich diese Deutschen als Herren darstellen und schlicht von den Angestellten das Beherrschen der deutschen Sprache erwarten. Geradezu ignorant wird es, wenn sich diese Gäste dann auch noch lautstark über Polen und die EU auslassen. Vermutlich ist gerade Polen für Diskussionen über den Wert oder Unwert der EU prädestiniert. Wenn ein traditionsreiches Land die Alternative 'Sieg oder Untergang' in die eigene Hymne schreibt und diese Dichotomie auch noch zur Grundlage aktueller Politik macht, dann sind tatsächlich kontroverse Diskussionen vorprogrammiert.
 

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22. Etappe

22. Etappe
Früher war die Gegend des Hirschberger Tals berühmt für ihre Bewohner, heute liegen an der Hauptstraße allenfalls noch ein paar Dörfer. Dazu kommt der spektakuläre Blick auf das Riesengebirge mit dem höchsten Gipfel, der Sniezka.
Nachdem der preußische König Friedrich Wilhelm III. sich in Myslakowice ein Schloß gekauft und es von Schinkel hat umbauen lassen, war das Tal plötzlich von den Familien des Hochadels heiß begehrt. Nach und nach errichteten oder kauften sie sich eine Residenz und verbrachten im königlichen Umkreis einen Teil der Sommermonate. Zusätzlich gab es bereits einige Familien mit Immobilienbesitz, z.B. die bereits bekannte Familie Schaffgotsch oder die von Küster. Nach 1945 mußten sie alle das Land verlassen, die Schlösser und Güter wurden verstaatlicht bzw. waren dem Verfall preisgegeben.
Ein eindrucksvolles Beispiel ist das Schloß von Lomnica mit dem benachbarten Gut.
Anhang anzeigen PolY55LomnicaSchlo
In den 50ern war das Anwesen noch als Schule in Betrieb, dann wurde es aufgegeben und stand bis nach der Wende leer. Fast fragt man sich, warum überhaupt noch etwas vorhanden war. Die Bewohner Lomnicas haben es weder als Steinbruch genutzt noch sinnlos demoliert, allerdings auch nicht gepflegt. So wuchsen aus den Mauern die Sträucher, die Holzteile waren vermodert; kurz: es stand nur noch das nackte Skelett kurz vor dem endgültigen Einsturz. Da tauchten die von Küsters wieder auf und kauften mit Hilfe einer schleunig gegründeten Stiftung ihr altes Schloß zurück und begannen mit der Restaurierung. Heute ist das kleine Schloß ein Restaurant mit Fremdenzimmern, und im großen Schloß ist das Erdgeschoß wieder hergerichtet. In der oberen Etage informiert eine behelfsmäßige Ausstellung über Landwirtschaft und gesellschaftliches Leben in den Sudeten, einschließlich der hochadligen Gäste. Es wirkt schon etwas merkwürdig, in den halbfertigen Räumen mit historischen Tapetenresten und teilweise offenen Wände sich zu informieren.
VFTPolY61LomnicaGut.jpg
Fast noch in Sichtweite steht das Königsschloß in Myslakowice. Schinkel hat es im englischen Stil umgestaltet und gegenüber gleich noch eine dazu passende Kirche errichtet. Wie hat Schinkel das bloß alles geleistet? Er konnte unmöglich an allen Bauprojekten persönlich anwesend sein, hat also vermutlich nur die Pläne entworfen, die wichtigsten Bauplätze selbst inspiziert und sonst allenfalls die Endabnahme durchgeführt.
Von nun an geht es immer mehr bergauf. Milkow ist einer der älteren Orte in den Sudeten. Hier wurde im Spätmittelalter mit dem Bergbau begonnen. Entsprechend hat sich der lokale Graf ein Schlößchen im Renaissancestil erbaut, das heute den Grundstock zu einem Gestüt-Hotel bietet. Es wurde nie ernsthaft umgebaut und gibt die äußere Form der schlesischen Repräsentationsarchitektur des 17. Jahrhunderts wieder.
Von nun an geht es richtig bergauf; es sind zwar nur ein paar Kilometer bis zum Ortsanfang von Karpacz, doch zieht sich der Ort über die unendlich scheinende Hauptstraße entlang. Schließlich möchte ich nach Karpacz Gorny, also den höchstgelegenen Teil bis auf 855 m fahren. Hier steht eine der noch wenigen norwegischen Stabkirchen. Sie sind der wichtigste Beitrag Norwegens zur Weltarchitektur. Nachdem die Wikinger im 10. und 11. Jahrhundert christianisiert waren, brauchten sie Gotteshäuser und schufen übers ganze Land verteilt Holzkirchen, deren Hölzer in Harz getränkt waren und scheinbar für die Ewigkeit gebaut waren. Die hiesige Holzkirche aus Südnorwegen sollte in den 1850 eigentlich abgerissen werden, doch hat sich der preußische König Friedrich Wilhelm IV. für sie interessiert und nach Berlin bringen lassen, wo sie auf der Pfaueninsel aufgebaut werden sollte. Daraus ist jedoch nichts geworden, so daß die zerlegte Kirche im Magazin zu verrotten drohte. Dann hat sich die Gräfin von Rehden, eine schlesische Adelige, für den Wiederaufbau in Karpacz eingesetzt; die Schaffgotschs haben das Grundstück gestiftet. Heute darf sich die evangelische Gemeinde der höchstgelegenen Kirche Schlesiens rühmen.
VFTPolY88KarpaczStabkirche.jpg
Interessant ist der Figurenschmuck an den Portalen. Neben maritimen Darstellungen finden sich geschnitzte drachenähnliche Ungeheuer. Vermutlich sollen sie die bösen Geister abhalten und für das Seelenheil der Besucher sorgen. Es kann also eigentlich jetzt nichts mehr schiefgehen...
Bei strahlendem Sonnenschein breche ich zu einer Bergtour zu Fuß auf die Sniezka auf. Zwar völlig unzureichend ausgestattet mit einfachen Schuhen und ohne Rucksack laufe ich den Wanderweg parallel zum Sessellift aufwärts. Schon nach kurzer Strecke ist das Hemd völlig verschwitzt, ein Gemisch aus Schweiß und Sonnenmilch läuft mir in die Augen und jeder Stein drückt sich durch die fast abgewetzte Schuhsohle bis auf den Knochen. Trotzdem komme ich gut voran und überhole ein paar der wenigen Wanderer. Erst an der Bergstation des Liftes wird der Weg stärker bevölkert, zugleich steigt der Altersdurchschnitt der Wanderer rapide an. Schon unterwegs ergeben sich manche spektakulären Blicke über die erst dicht, dann spärlich bewachsenen Hänge und die Felsen.
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Gekrönt wird der Ausflug natürlich durch den fast unbeschränkten Rundumblick auf der Sniezka. Zum Glück war die Sicht erst in weiter Ferne durch den Dunst beeinträchtige. Fast habe ich das Gefühl, heute ist der beste Tag für die Besteigung des höchsten Gipfels des Riesengebirges. Den Rückweg wähle ich über das Bergplateau und dann begab an einem malerischen See entlang.
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Hier aalen sich die Gäste in der Nachmittagssonne und laben sich am mitgebrachten Picknick. Wäre es nicht ein so romantischer Ort, könnte man glauben, es wäre schon zu kitschig, um wirklich zu sein. Den weiteren Weg teile ich mit dem Überlauf: ein Rinnsal windet sich um die Felsen, auf denen auch ein wandernder Radler laufen muß. Hin und wieder gurgelt es mal oder es wird rutschig – endlich komme ich doch wieder in Karpacz an und suche mir ein Ruheplätzchen mit Blick auf den Gipfel.
Erst abends spüre ich die Blessuren und muß nun erst einmal die Wunden lecken.
 
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23. Etappe

23. Etappe
Diese Etappe steht wieder unter dem Wettereinfluß. Noch am Morgen überlege ich, ob die Abfahrt überhaupt lohnt, und verabschiede mich schließlich von der netten Gastgeberin mit der Möglichkeit meiner Rückkehr. Wie so oft kommt dann doch alles anders.
Zunächst fahre ich eine reizvolle Höhenstraße nach Kowary. Es geht fast ständig bergab, und häufig öffnet sich der Blick zu einem morgendlichen Panorama des Riesengebirges. In Kowary angekommen spaziere ich durch die Fußgängerzone. Es ist wie in vielen Orten Polens: der Ort hat Potential, jedoch investiert fast niemand in die Verschönerung bzw. wenigstens die Renovierung der Häuser. Dabei liegt Kowary im Schatten Karpacz und könnte eine Vielzahl von Gästen anlocken. Als Bergarbeitersiedlung wurde Kowary einst gegründet. Davon ist jedoch fast nichts mehr erhalten geblieben; der einzige Besucherstollen liegt so weit in den Bergen, daß sich meine Wenigkeit den Aufstieg über die Serpentinenstraße spart. Ist die Attraktivität dieses Bergbaumuseums ebenso wie der Ortskern, kann es ohnehin nichts Tolles sein. So bleibt der Eindruck des klassizistischen Rathauses und der grandiosen Lage am östlichen Fuß der Sniezka.
Nun geht es durch die hügelige Landschaft auf einer wenig befahrenen Waldstraße nach Norden. Der frische Wind weht mir immer wieder die Gerüche des Waldes um die Nase; nach den Regenfällen der Nacht machen sie einen besonderen Eindruck. Etwas später komme ich in Karpniki an, einem Ort, der durch die preußische Königsfamilie bekannt geworden ist. Nur wenige Kilometer von Lomnica und Myslakowice entfernt hat sich Prinz Wilhelm 1822 als Einwohner und stolzer Schloßbesitzer bekannt gemacht. 1844 wurde das Schloß nach neogotischen Plänen umgebaut. Heute nach mehreren Jahrzehnten Leerstand wird es restauriert; manche Spielarten des Fassadenschmucks sind dennoch erkennbar. Wesentlich schlechter erging es der evangelischen Kirche. Sie ist nach dem 2. Weltkrieg verwahrlost und später eingestürzt. Heute sind nur noch die Reste der Außenmauern und der Turm als Ruine zu erkennen. Man spürt hier in Karpniki sehr deutlich, welch radikalen Wechsel die Bewohner nach dem Ende der preußischen Zeit präferiert haben.
Über Jelenia Gora fahre ich weiter Richtung Norden. Nach ein paar Kilometern halte ich schon wieder an, in Siedlecin. Hier steht ein mittelalterlicher Wohnturm, der einmal Teil einer kleinen Wasserburg gewesen ist. Das kalte Gemäuer wurde später noch um ein Stockwerk aufgestockt und mit einem Dach versehen. Das Besondere an dem Wohnturm sind die erhaltenen Fresken im Festsaal aus dem 13. Jahrhundert. Sie zeigen Szenen aus dem Leben des Ritters Lancelot aus der Artussage. Warum hat der Eigentümer bloß die Artussage in seinem Turm so prominent darstellen lassen? Diese Frage stellt auch die arbeitenden Archäologen vor ein Rätsel. Eigentlich hätte ich Szenen religiösen Inhalts, allenfalls noch aus dem Verhältnis der Mächtigen im Römischen Reich des Mittelalters erwartet. Na ja, zumindest erfreuen sie das Auge des modernen Betrachters und regen zum Nachdenken an.
Die Straße windet sich jetzt an den Hängen des Bobr entlang. Wieder einige Kilometer weiter komme ich nach Wlen. Hier begrüßt mich ganz herzlich die Taubengustel, eine Dame, die an den viele Jahrhunderte lang stattgefundenen Taubenmarkt erinnert. Ansonsten bestimmen in Wlen Verfall und Langeweile das Leben. Rund um den Rynek stehen etliche Häuser leer, die Fassaden bröckeln und die Scheiben splittern. Die übrigen Häuser sind zwar bewohnt, werden jedoch nicht sonderlich gepflegt. Nur das Rathaus macht einen halbwegs netten Eindruck. Läge Wlen nicht am Euro-Radweg würde sich vermutlich niemand hierher verirren. Der Euro-Radweg in den Wäldern ist teilweise erodiert, verschlammt oder mit Pfützen übersät. An ein Fahren ist überhaupt nicht zu denken; so muß ich einige Kilometer schieben bis zum nächsten Dorf. Dort überrascht mich auch noch ein Gewitter. Zum Glück finde ich Unterschlupf in einer geräumigen Bushaltestelle und betrachte schaudernd den Zustand des Rades und meiner Kleidung: heute Abend ist allgemeines Putzen angesagt.
Später geht es dann doch weiter nach Lwowek Slaski. Kurz vor dem Ortseingang hat sich eine wilde Felsschlucht gebildet. Sie wird als 'kleine Schweiz am Bobr' bezeichnet. Na ja, Fontane hat schon einmal geklagt, daß die Schweizen immer kleiner werden; gleiches möchte man hier auch sagen. Eigentlich ist es nur eine ein paar hundert Meter lange ansehnliche Felsformation. Im Zentrum überrascht mich erneut ein Gewitter. So habe ich reichlich Zeit zum Betrachten des Rathauses. Ursprünglich war es im Renaissance-Stil erbaut und um 1905 harmonisch umgebaut worden. An der Fassade tauchen immer wieder originelle Fratzen oder Darstellungen der in Lwowek vertretenen Zünfte auf.
Entnervt vom schlechten Wetter suche ich mir eine Bleibe für die Nacht und finde ein gemütliches Hotel am Stadtrand. Das Frühstück sollte eigentlich Spiegelei auf Toast sein; der Toast erinnert eher an gerösteten Zwieback und die Eier enthielten nur Eiweiß. Sonst war das Frühstück in Ordnung, und das Wetter noch besser.
Bei strahlendem Sonnenschein erreiche ich Plakowice und das dortige ehemalige Schloß. Das Hauptgebäude empfängt die Besucher mit einem in der Morgensonne leuchtenden Marmorportal. Neben dem Familienwappen sind auch Medaillons der ursprünglichen Besitzer, vielleicht des Bauherrenpaares zu sehen. Der Innenhof wird gerahmt von einem dreiflügeligen Arkadengang. Unten ließ sich damals bequem parlieren, die Eingänge ins Innere waren oben. So zu bauen war modern im ausgehenden 14. Jahrhundert und ist mir schon in Brzeg begegnet. In Plakowice sind die Räume als Wohnungen eingerichtet, in den Laubengängen steht Kinderspielzeug und der Innenhof ist zugeparkt.
Direkt neben dem Schloß steht noch eine Art Zweitschloß, das etwa ebenso groß, aber nicht sonderlich geschmückt ist. Ob sich das Gebäude noch retten läßt, erscheint mir zweifelhaft: das Dach ist eingestürzt, innen wie außen wachsen Bäume aus dem Mauerwerk und vor dem Eingang grasen Ziegen und ein Pony.
Schon von weitem ist der Turm der Pfarrkirche in Zlotoryja sichtbar. Die Stadt liegt auf einem Hügel, der durch Goldvorkommen um 1200 einen wahren Goldrausch ausgelöst hat. Wer irgendwie graben konnte und das Goldwäscherhandwerk beherrschte, konnte nach Zlotoryja kommen. Als sich das Goldwaschen nicht mehr lohnte, wurde noch Kupfer aus Stollen abgebaut. Beim Rundgang durch die Altstadt fällt sofort der Rynek am Hang auf. Eigentlich benötigt man für Märkte ein halbwegs gerades Plateau, an dessen Rändern sich die Bürgerhäuser reihen und ausreichend Rücksicht auf das Rathaus in der Mitte und die Kirchen in zweiter Reihe nehmen. In Zlotoryja steht die Pfarrkirche auf dem höchsten Punkt; ihr Turm überragt buchstäblich alles rundum. Es haben sich sogar noch einzelne spätromanische Bauteile erhalten, z.B. ein schlichtes Nebenportal in einem für Schlesien typischen Stil. Rund um das Rathaus existiert gerade eine große Baustelle, so daß der Eindruck unter dem Staub und den Arbeiten leidet.
Etwas abseits informiert das Goldmuseum über Geologie und Goldsuche in Zlotoryja. Leider nur auf polnisch wird die Entstehung von Mineralien dargestellt und durch bunte Achate illustriert. Die Goldsuche wird anhand eines mittelalterlichen Lehrbuches und mit einzelnen Werkzeugen erläutert. Wer selbst einmal Gold waschen möchte, kann das bei dem jährlichen Wettbewerb tun. Reiche Nuggets darf man wohl kaum dabei erwarten.
Eine der ältesten Kirchen Schlesiens steht in Swierzawa. Hier sind wieder die typischen romanischen Portale sowie der weitgehend unverfälschte Eindruck einer Dorfkirche aus den 1240ern zu studieren. Besonderes Interesse verdient der Turm, der nicht exakt in der Flucht von Altar und Westportal steht. Er ist etwas nach rechts verschoben. Vielleicht war der Untergrund nicht geeignet oder links standen Häuser so dicht an der Kirche, daß der Turm eben etwa 50 cm zu weit rechts steht. Besondere Aufmerksamkeit verdient die Freskierung. Es wurden 4 Schichten übereinander identifiziert, die alle aus dem Mittelalter stammen, also im Verlauf von rund 250 Jahren aufgebracht wurden, mit unterschiedlichen Inhalten. An einer Wand kann man sogar noch wenigstens zwei Schichten erkennen. Schließlich fällt noch ein Epitaph direkt neben dem Altar auf. Es ist weder besonders qualifiziert gearbeitet, noch scheint der Verstorbene eine besondere Bedeutung gehabt haben. Lediglich die Übergröße und die Lage in der Rundapsis machen es so prominent. Wie bei anderen Epitaphien dergleichen Zeit ist ein Ritter dargestellt. Wieder einmal Fragen über Fragen, auf die ich so schnell keine Antwort finde.
Die Etappe endet in Bolkow. Auf einem Hügel oberhalb des Zentrums thront eine die Burg des Fürsten Bolko I. aus der Zeit um 1300.
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Erhalten sind noch der Bergfried, von dem aus die strategische Lage der Burg für die ganze Gegend deutlich wird, und ein Flügel, in dem der Stammbaum der Piastenfamilie und ein kleines Cafe untergebracht sind. An dieser Stelle eine Burg zu unterhalten, war für die Piasten besonders wertvoll. Man mußte ständig mit übergriffen aus dem direkt benachbarten Böhmen rechnen. Tatsächlich wurde die Burg nur einmal in ihrer Geschichte zerstört. Die Mongolen haben das Land verwüstet, erst danach hat der Fürst eine bessere Verteidigungsanlage errichtet, die bis 1810 ihre Aufgabe mehrfach meistern mußte.
Etwa um 1810 hat die preußische Verwaltung den Ort an markanten Punkten umgestalten lassen: aus der Burg wurde ein Sanatorium, das Rathaus erhielt eine klassizistische Fassade und die Kirche wurde allen störenden Fassadenschmucks entkleidet. Zugleich wurden die Bürgerhäuser am Rynek neu errichtet bzw. umgebaut. Ganz Bolkow hat also den barocken Charakter weitgehend abgestreift und präsentiert sich im Stil des frühen 19. Jahrhunderts, sofern nicht Neubauten den Eindruck verwischen.
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Von Bolkow aus soll es nun wieder in die Berge gehen. Der Blick nach Süden zeigt schon die bewaldeten Hänge und diverse enge Flußtäler.
 

Wolke7

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24. Etappe

24. Etappe
Zunächst muß ich ein Tal wechseln; es geht die ersten Kilometer bergauf, anschließend etwas bergab und schließlich entlang eines wilden Bergbaches langsam und stetig bergauf bis nach Kamienna Gora. Der Ortskern ist nicht weiter sehenswert; allenfalls ein paar Bürgerhäuser am Rynek verleihen dem kleinen Ort etwas Glanz. Aufsehen erregt dafür die ehemalige protestantische Kirche am Ortsrand, die nach der Altranstädter Konvention errichtet werden durfte. Man sagt, sie wäre nach dem Vorbild der Stockholmer Katharinenkirche erbaut worden. Na ja, sie besitzt gewisse Gemeinsamkeiten, sieht aber doch anders aus und wirkt auch anders auf die Gläubigen. Innen wurde sie sogar polonisiert: das zentrale Deckenfresko verherrlicht den polnischen Staat, und daneben erkennt man christliche Szenen aus der polnischen Geschichte. Heute ist die Kirche längst katholisch und wird von den Bewohnern offenbar mehr akzeptiert als die Pfarrkirche im Zentrum.
Die Landschaft öffnet sich jetzt zu einer weiten, nahezu ebenen Fläche, die von den bewaldeten Bergkuppen rundherum eingeschlossen ist. Vermutlich war es genau diese Lage mit einem etwas milderen Klima, die Benediktinermönche zu einer Klostergründung bewogen haben. Heute heißt der Ort Krzeszow und beherbergt das größte Kloster in Schlesien. Nach den Benediktinern kamen schon bald die Zisterzienser und haben das Tal für die menschliche Besiedlung fruchtbar gemacht. So ging es bis lange nach dem 30jährigen Krieg als die österreichische Zentralregierung den Ausbau und die Modernisierung der gesamten Anlage genehmigt hatte. Beste Architekten und Maler wurden nach Krzeszow verpflichtet und haben in den 1720ern und 1730ern den qualitätsvollsten Barock geschaffen. Besonders die Freskierung der beiden Kirchen aus den Händen der Werkstätten Willmann und Neunhertz verdient allergrößte Bewunderung. Die kleinere Josephskirche zeigt Szenen rund um Josef. Dabei sind die Deckenfelder, die Lünetten und die Seitenkapellen thematisch so aufeinander bezogen, als ob die Geschichte von König David bis Jesus eine Einheit sei. Die größere Kirche wird gerade restauriert; der neugierige Besucher darf lediglich die ersten Meter betreten und kann in der Ferne den Altar erkennen. Die Malereien ringsum sind abgedeckt. Frech schleiche ich mich von hinten durch einen Nebeneingang und kann wenigstens die Grabkapelle der Piasten aus dem 14. Jahrhundert besuchen. Hier liegen angeblich Bolko I. und Bolko II. mit ihren Gattinnen begraben. Die Kapelle ist Teil der Apsis, liegt jedoch hinter dem Altar und hat keinen Zugang zum Kirchenschiff. Ob hier wohl die Eigenständigkeit des Klerus gegenüber der weltlichen Obrigkeit zum Ausdruck kommt? Schließlich finde ich noch eine Tür, die mich in den Chor führt. Der Chor liegt vor dem Altar und ist mit einer Vielzahl von individuellen Stuckfiguren geschmückt: Heilige, Märtyrer, Apostel, Evangelisten usw., die zwar alle eine eigene Geschichte haben, hier jedoch wie als eine zusammengehörende Gruppe dargestellt sind. Wenn die Restaurierung abgeschlossen ist, verspricht das Kloster eine herausragende Sehenswürdigkeit Niederschlesiens zu werden. Die wenigen Benediktinerinnen, die heute noch das Kloster bewirtschaften, können sicher stolz auf ihren Schatz sein.
Am Ende des Tales kommt als letztes Dorf Chelmsko Slaskie zum Vorschein. Sollte jemand einen verschlafenen Ort irgendwo am Ende der Welt suchen, kommt das Dorf sicher in die engere Wahl. Außer ein paar durchreisenden Wanderern auf dem Weg durch das Riesengebirge kommt hier sicher kaum jemand vorbei. Über Jahrhunderte haben die Familien vom Ackerbau und der Leinenverarbeitung gelebt. Dazu haben sie sich dreieckige Hütten Seite an Seite gebaut, in denen die Frauen an den Webstühlen gearbeitet haben. 11 dieser Hütten stehen in einer Reihe noch am Straßenrand und werden überwiegend noch bewohnt.
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Ein Haus wurde zum Souvenirladen und vermittelt einen Eindruck: kleine Räume mit winzigen Fenstern, niedrige Decken und der dreieckige Dachboden als Wohnraum praktisch ungeeignet. Trotzdem werden diese Hütten als Relikte vergangener Tage gepflegt und für Touristen zugänglich gemacht.
Jetzt fließt der Schweiß wieder in Strömen: es geht steil hinauf über einen Kamm ins Nachbartal. Zwar bieten sich immer wieder malerische Blicke durch die Fichten ins Tal oder auf die gegenüberliegenden Hänge, doch mindert die Ästhetik die Anstrengung nur marginal. Zwei Täler weiter östlich komme ich nach Mieroszow; von hier aus geht es in einem Bachtal weiter bergauf (!). Vermutlich fahre ich also gerade über die mitteleuropäische Wasserscheide. Die Bäche des Vormittags fließen in die Ostsee, die des Nachmittags ins Schwarze Meer. Der höchste Punkt ist im Dorf Rybnica Lesna erreicht. Hier steht eine Schrotholzkirche, die sich einst die Protestanten der Gegend errichtet haben. Inzwischen ist sie katholisiert und leider nur zu Gottesdiensten geöffnet. Doch auch von außen kann man erkennen, daß sich die Baumeister am allgemeinen Muster für Sakralbauten orientiert haben: gestufte Dachgestaltung, Westturm mit dem Haupteingang usw. Bloß das Baumaterial ist eben dunkles Holz.
Wie hoch ich gerade noch war, wird bei der Abfahrt nach Walbrzych deutlich. Es geht kilometerlang nur steil bergab; die Straße windet sich sogar noch in der Stadt in Serpentinen die Hänge hinab. Walbrzych war einmal ein prominenter Kurort mit mehreren Heilquellen. Der zweite Wirtschaftszweig war der Kohlebergbau, der allerdings den Grundwasserspiegel so stark verändert hat, daß die meisten Heilquellen versiegt sind. Als dann erst vor wenigen Jahrzehnten auch das Aus für den Bergbau kam, stand Walbrzych am Rande des Abgrunds: horrende Scharen von arbeitslosen Bergleuten, veraltete Kureinrichtungen und eine ungewisse politische Zukunft. Der Rynek wirkt immerhin schon wieder modern und lädt zum Verweilen ein mit offenen Cafes, vielen Geschäften und zwei Brunnen. Zusätzlich werden die Seitenstraßen gerade zu Fußgängerzonen umgestaltet. Wenn irgendwann einmal auch das Museum modernisiert ist und etwas mehr zur Stadtgeschichte erzählen kann als nur Mineralien und das Schicksal zweier Porzellanfabriken, hat Walbrzych echtes Potential als touristisches Zentrum der Gegend zu gelten.
Jetzt, am Nachmittag muß ich noch einmal das Tal wechseln. Es geht wieder steil den Hang hinauf auf einer wenig befahrenen und mit Unebenheiten übersäten Straße. Diese Strecke ist wahrlich eine Herausforderung, die zu dieser Tageszeit eher an Mühsal denken läßt denn an Lust. Keuchend komme ich auf dem Grat an und sehe schon das kommende Ziel: die Zamek Grodno auf der anderen Bachseite. Sie geht auf Bolko II. zurück, wurde dann in der Renaissancezeit umgebaut, später zerstört und in den 1960ern als historisches Objekt teilweise wieder aufgebaut. Die Ausstellung präsentiert das spätmittelalterliche Leben auf so einer rauhen Burg. Im Mittelpunkt steht jedoch die Burg an sich: die in Ruinen stehenden Flügel zeigen, wie trutzig selbst die zerstörte Materie den Urgewalten standhalten kann, und die rekonstruierten Flügel glänzen in der Buntheit der fast schon überbetonten Malereien und Steinornamente aus dem 16. Jahrhundert.
 

Wolke7

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30.08.2010
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32. Etappe

32. Etappe
Das Schicksal des oberschlesischen Kohlereviers ist seit etwa 200 Jahren eng mit dem Bergbau verknüpft. Seitdem der industrielle Bedarf an Kohle rasant gestiegen war, mußten die Zechen ebenso rasant expandieren. Die Städte wuchsen, und viele Menschen arbeiteten unter Tage. Mit dem wirtschaftlichen Aufschwung erhöhte sich auch langsam der Lebensstandard; die Häuser wurden größer und ihre Fassaden zeigen modernes Schmuckwerk. Daran gemessen präsentierte sich Katowice vor dem Krieg als avantgardistische Stadt der Gründerzeit und des Jugendstils.
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Nach der Weichseloffensive der Roten Armee im Januar 1945 stand das Kohlerevier im besonderen Fokus. Entsprechend schwer waren die Kämpfe und Zerstörungen rund um Gliwice und Katowice. Die entstandenen Baulücken, oft waren es ganze Straßenzüge, wurden später mit Wohnungen und Funktionsbauten sozialistischer Architektur geschlossen. Seit der Wende sinkt der Kohlebedarf dramatisch, und mit ihm setzt ein allgemeines Zechensterben ein. Die Arbeitslosigkeit steigt, der Wohlstand sinkt und das Stadtbild verändert sich. Die Fassaden bekommen Risse, die Fensterscheiben bersten und manche Haustür hängt schief in den Angeln. Viele Wohnungen in den klassischen 11-Geschossern stehen leer, sogar im Zentrum. Daß in der Philhamonie überhaupt noch niveauvolle Musik gespielt wird, kann man dem Gebäude von außen auf keinen Fall ansehen; und der alte Bahnhof mit den Resten einer repräsentativen Jugendstilfassade zeigt vernagelte Fenster und bröckelnden Putz. Die Bilder zeigen die Notwendigkeit der urbanen Umstrukturierung. So sind in Katowice erst vor kurzem auch hypermoderne Hotels und Malls entstanden, die den Vergleich mit keiner europäischen Stadt scheuen müssen. Insgesamt ist Katowice eine Stadt, in der man sich längstens einen halben Tag treiben lassen kann, und anschließend froh ist, auch einmal wieder andere Eindrücke zu haben.
Katowice möchte 2016 Kulturhauptstadt Europas werden. Vielleicht war deshalb eine Kustodin im Kunstmuseum Slaskies sehr aufmerksam. Sie hat mich in ein sympathisches Gespräch verwickelt und mich geradezu überhäuft mit Flyern zu den Ausstellungen. Die Gemälde stammen überwiegend von polnischen Meistern des 19. und 20. Jahrhunderts, dazu kommen einige West- und Südeuropäer.
Bei der Weiterfahrt ändert sich das Bild nur wenig. Das Zentrum Sosnowiec' wird von Neubauten dominiert. Selbst in der Fußgängerzone überwiegt der Plattenbau. Einziger Lichtblick ist ein weiträumiger Park, der sich am Ufer des Flüßchens ausdehnt. Auch Sosnowiec ist keine Stadt, in der man länger verweilen müßte. Hätte mich der Regen nicht ein Stündchen festgehalten, wäre ich wohl ohne Pause durchgefahren. Man mag sich gar nicht so recht ausmalen, welche Zerstörungskraft der 2. Weltkrieg gerade hier entfaltet hat. Bei soviel Neubauten kann ja kaum ein Haus noch zu retten gewesen sein; was doch noch den Krieg überstanden hat, ist dann der modernen Stadtplanung zum Opfer gefallen. Von den Leiden der Bevölkerung einmal ganz zu schweigen.
Erst in Bedzin findet sich wieder ein gewachsener Ortskern. Zumindest das Straßennetz ist alten Ursprungs, und so manches Landhaus hat alle Wirrnisse überstanden. Daß Bedzin einer der ältesten Orte Schlesiens ist, merkt man nur an der gotischen Burg. die trutzig auf einem Hügel ruht mit weitem Blick über das Tal und die gegenüberliegenden Hügel.
Schließlich bin ich doch froh über das Verlassen des Ostteils des Kohlereviers. Die Fahrt über Land mit weniger Ballungsgebieten macht doch mehr Spaß, und das Rad rollt flüssiger. Noch am Abend, allerdings erst bei Dunkelheit komme ich in Oswiecim an. Die Stadt wimmelt nur so von jungen Menschen, die auf dem Weg zu einem Open-Air-Konzert waren. Die Lichttechnik strahlte herüber, und die Bässe dröhnten durch den ganzen Ort. Obwohl Oswiecim auch eine historische Altstadt mit Bischofssitz besitzt, treffen sich die Gäste nur im und rund um das KZ-Museum Auschwitz/Birkenau. Auch ich nehme an einer vierstündigen Führung teil, die von einem Mitarbeiter des wissenschaftlichen Dokumentationszentrums durchgeführt wird. Beim Rundgang fällt auf, daß weder die Ausstellung noch der Guide die großen historischen Zusammenhänge thematisiert. Es werden viele kleine empirische Einzelheiten dargestellt, z.B. ein Haufen Brillengestelle, Schuhcreme und leerer Reisekoffer; alles Hinterlassenschaften der zu Zwangsarbeit verurteilten oder ermordeten Häftlinge. Der Guide spricht zwar davon, daß diese Gegenstände anklagen, es bleibt jedoch unklar, wer und warum angeklagt werden soll. So bleibt es jedem Besucher überlassen, die Quintessenz aus der Geschichte zu ziehen. Mit ein paar anderen Besuchern diskutiere ich genau darüber. Meiner Meinung nach unterscheidet sich das Konzentrationslager Auschwitz hinsichtlich Haftbedingungen, Willkür oder Ermordungen nur wenig von anderen KZs und Gefängnissen weltweit. Das Besondere ist die ausgefeilte Planung und die paßgenaue Umsetzung, die Auschwitz zu einem Monument schwerer Verbrechen macht.
Etwas anders ist der Eindruck im kombinierten Lager Birkenau. In roh gezimmerten Baracken haben hier zigtausende Häftlinge gehaust, ständig bedroht von Ratten, Infektionskrankheiten und den NS-Aufsehern. Sogar mitten im Lager war die Eisenbahnrampe errichtet, an der die Züge mit den zu ermordenden Menschen ankamen, d.h. in Sichtweite aller Häftlinge. Heute ragen im Todeslager nur noch die steinernen Kamine aus dem Boden.
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Dieser Anblick läßt mich erschauern: das weiträumige Gelände muß zigtausende, todgeweihte Menschen beherbergt haben, die während ihres Wartens das Schicksal anderer Häftlinge auf dem Weg in die Gaskammern und in die Verbrennungsöfen beobachten konnten.
Über Tychy, das wie eine Retortenstadt wirkt, komme ich in einer wirklich sehenswerten Stadt an: Pszczyna. Die Stadt ist praktisch rein preußisch geworden, nachdem ein Großbrand die Stadt und ihre Bewohner fast vollständig ruiniert hat. Der Fürst von Hohenstein, dem ich schon in Ksiaz, begegnet bin, hat 1765 die Ruinenlandschaft aufgekauft und die Stadt ganz neu aufgebaut. Man möchte fast vermuten, er habe bis zum Abschluß des schlesischen Krieges gewartet und dann die Reste günstig erstanden. Im ersten Schwung wurden das spätbarocke Schloß und eine Reihe Bürgerhäuser am Rynek errichtet. Als dann mehr als 100 Jahre später die deutschen Kaiser regelmäßig zu Besuch kamen, setzte eine zweite Bauphase ein: eklektizistische Bürgerhäuser säumen die Straßen ebenso wie jene aus dem Jugendstil. Beim Spazieren durch die Altstadt bleiben die Augen immer wieder an den florealen Girlanden und den ausdrucksstarken Gesichtern der Fassaden hängen.
Die Schloßeinrichtung wurde während des und nach dem Zweiten Weltkrieg fast vollständig vor Plünderung und Zerstörung gerettet, so daß bereits 1946 das Schloß als Museum der Öffentlichkeit zugänglich wurde. Qualitätvollste Innenarchitektur kombiniert mit hochwertigen Kunstgegenständen und erlesenem Mobiliar ergänzt durch die Accessoires der Jagdleidenschaft des Fürsten. Bedenkt man, daß Pszczyna eigentlich ja nur die Nebenresidenz war, wird der Lebensstil des schlesischen Hochadels noch eindrucksvoller.
Schließlich komme ich ans Ende dieser 4tägigen Etappe und der Polen-Reise, nach Bialsko-Biala. Noch in habsburger Zeit waren die religiösen Konflikte in der Stadt so groß, daß die Protestanten an das gegenüberliegende Ufer der Biala gezogen sind und den neu entstandenen Ort Biala nannten. Fortan waren zwar die Beziehungen der beiden Städte unterbrochen, beide unterhielten dafür eigene Handels- und Kulturverbindungen. Nachdem die Städte sich später doch wieder vereinigt haben, existierten plötzlich so üppige Kontakte, daß die Doppelstadt zum zweitgrößten Textilzentrum Polens nach Lodz wurde. Heute ist die letzte verbliebene Heimarbeitsstätte als Museum eingerichtet. Es ist ein dunkles Holzhaus mit 3 Wohnräumen und einer Werkstatt. Im Vergleich zu Bauernhäusern aus der gleichen Zeit bietet dieses Weberhaus einen großzügigen Komfort: beheizte Räume, ausreichend hohe Decken und intarsiertes Mobiliar – und das trotz der industrialisierten Großproduktion gleich nebenan.
Den Nachmittag lasse ich am Rynek ausklingen. Dort ist gerade eine Gruppe Kunststudentinnen bei der Arbeit: einige fertigen Skizzen des Platzes an, andere suchen originelle Fotomotive. Dazwischen eilen Menschen mit vollen Einkaufstüten quer über den Rynek, flirten junge Paare und sitzen einige Frauen und Männer beim Bier.

Das ist zugegeben ein etwas längerer Reisebericht. Fast bewundere ich die Leserschaft, die wirklich die Etappen nachvollzogen hat, und danke für ihre Geduld.