Der Beitrag vermischt korrekte physiologische Konzepte mit weit verbreiteten medizinischen Mythen und logischen Fehlschlüssen (insbesondere der „Anekdotischen Evidenz“).
Wir können die Analyse in vier zentrale Themenbereiche unterteilen:
1. Das „Training“ des Immunsystems (Das Muskel-Missverständnis)
Das zentrale Argument im blauen Zitat und in der Antwort ist, dass das Immunsystem wie ein Muskel verkümmert, wenn es nicht ständig Erregern ausgesetzt ist ("verlernt, mit Erregern umzugehen").
Wissenschaftlicher Fakt: Das Immunsystem von Erwachsenen „vergisst“ bekannte Erreger nicht durch das Tragen von Masken oder Händewaschen. Gedächtniszellen (B- und T-Zellen) zirkulieren jahre- oder jahrzehntelang im Blut.
Der Denkfehler: Das Immunsystem ist immer beschäftigt (z. B. mit der Darmflora, harmlosen Umweltbakterien oder der Reparatur von körpereigenen Zellen). Es braucht keine pathogenen Viren (wie Grippe oder COVID-19), um „wach“ zu bleiben.
Die "Hygiene-Hypothese": Es gibt die Theorie, dass Kinder, die zu steril aufwachsen, eher Allergien entwickeln, weil das Immunsystem unterfordert ist. Dies lässt sich jedoch nicht auf Erwachsene übertragen, um das Weglassen von Hygiene bei gefährlichen Infektionskrankheiten zu rechtfertigen.
2. Hygiene und Händewaschen
Der Verfasser gibt an, sich selten die Hände zu waschen (und ohne „Chemikalien“), selbst in exotischen Ländern nicht, und schreibt dies seiner Resilienz zu.
Fäkal-orale Übertragung: Viele Krankheiten (Hepatitis A, Norovirus, Salmonellen, Parasiten) werden übertragen, weil mikroskopische Stuhlreste an den Händen haften.
Eigen- vs. Fremdschutz: Händewaschen schützt nicht nur den Einzelnen, sondern unterbricht Infektionsketten. Dass der Verfasser nicht krank wird, bedeutet nicht, dass er nicht als Überträger (Vektor) fungiert hat und andere (Schwächere) infiziert hat.
Seife als „Chemikalie“: Seife ist chemisch gesehen ein Tensid. Sie ist notwendig, um die Fetthülle vieler Viren (auch Coronaviren) aufzubrechen und sie inaktiv zu machen. Wasser allein schafft das oft nicht.
3. Anekdotische Evidenz vs. Survivorship Bias
Der Verfasser argumentiert: „Ich mache das so, und mir ist nichts passiert, also ist es richtig.“
Survivorship Bias (Überlebensverzerrung): Dies ist ein klassischer logischer Fehler. Nur weil eine Person risikoreiches Verhalten (mangelnde Hygiene in exotischen Ländern) unbeschadet übersteht, widerlegt das nicht die statistische Wahrscheinlichkeit einer Infektion. Es ist vergleichbar mit jemandem, der sagt: „Ich fahre nie angeschnallt und hatte noch nie einen tödlichen Unfall.“
Genetik und Glück: Der Verfasser erwähnt selbst „Veranlagung“. Ein robustes Immunsystem ist oft genetisches Glück und keine direkte Folge von mangelnder Hygiene.
4. Impfung und Krankheitsverlauf (COVID-19)
Der Verfasser ist „deutlich Ü60“, 3x geimpft und hatte zwei milde Verläufe. Er nutzt dies als Argument für seine Lebensweise.
Interpretation der Daten: Wissenschaftlich betrachtet ist der milde Verlauf bei einem Menschen über 60 höchstwahrscheinlich das Resultat der Impfung, nicht des Händewaschens.
Funktion der Impfung: Die Impfung soll primär schwere Verläufe und Tod verhindern, nicht zwingend jede Infektion (sterile Immunität). Dass er trotz Exposition nur „milde Verläufe“ hatte, bestätigt die Wirksamkeit der Impfung, anstatt die Hygienemaßnahmen zu widerlegen.
Zusammenfassende Bewertung
Der Beitrag ist ein Paradebeispiel für den Bestätigungsfehler (Confirmation Bias). Der Verfasser interpretiert seine persönliche Gesundheit als Beweis dafür, dass Hygiene überbewertet sei.
Wissenschaftlich korrekt wäre:
Ein gesunder Lebensstil (Fitness, Ernährung) stärkt das Immunsystem allgemein. Jedoch ersetzt dies keine spezifische Abwehr gegen neue Erreger (wie SARS-CoV-2). Hygienemaßnahmen dienen dazu, die Dosis der Erreger zu minimieren (Infektionsdruck), was dem Immunsystem die Arbeit erleichtert. Dass der Verfasser gesund blieb, ist eine Kombination aus Impfschutz, Genetik und statistischem Glück, aber keine widerlegbare Handlungsanweisung für die Allgemeinheit.