5. Tag
Den Abend zuvor hatte ich bei Unmengen an getrockneten und geräucherten Fisch, Bier sowie Gurken, Tomaten und Dill/Estragon von der Datscha noch sehr interessante Gespräche mit meinen Gastgebern. Lena und Maxim erzählten mir viel über die Besonderheiten des Lebens auf Kamtschatka, Vulkanbesteigungen im Sommer, Schneemobiltouren im Winter, hohe Lebenshaltungskosten und die Spezifika für Kleinunternehmertum im russischen Fernen Osten. Maxim, der hier aufgewachsen ist, berichtete über den Wandel, der sich in Petropavlovsk über die Jahre vollzogen hat. Viele junge Menschen verlassen zwar die abgelegene Halbinsel nach der Schule auf der Suche nach Bildung und Arbeit, viele bleiben jedoch auch, beginnen ein Studium an der nach dem dänischen (im Auftrag des Zaren tätigen) Forscher Vitus Bering benannten Universität, die seit den 1990er Jahren nicht mehr nur ‚marine‘ Studiengänge anbietet, sondern auch z.B. Jura und Wirtschaftswissenschaften und damit für weibliche Studierende zugänglich wurde. Maxim schätzt, dass rund 30% der erwerbstätigen männlichen Bevölkerung der Stadt im Militär angestellt sind, was neben der Fischerei der wichtigste Wirtschaftsfaktor ist. Lena’s Lebensgeschichte ist ebenfalls bemerkenswert: Geboren in Kasachstan, war sie noch als Kind mit ihren Eltern in die Ukraine gezogen, hatte zwei Jahre in Stuttgart gelebt und war erst vor drei Jahren über ihren damaligen Mann aus Donetsk nach Kamtschatka gekommen, der als Freiwilliger für die Aufständischen in der Ostukraine gekämpft hatte. Kurzum, ich erfuhr seeeehr viel. Und war wieder einmal glücklich, kein Hotelzimmer gebucht zu haben.
Nachdem ich die Nacht in der Wohnung mit Lena’s Hund überlebt hatte -
Ein 70kg schwerer napoletanischer Mastiff - hiess es den Rucksack für die kommende Woche in der Wildnis zu packen. Maxim brachte mich zum Treffpunkt, wo bereits das Gefährt für die kommenden Tage stand, ein 6wd KAMAZ mit Busaufbau, ein nur schwer kaputtbares Gefährt wie geschaffen für die z.T. fehlenden Straßen der Halbinsel
Und günstigere Alternative zum auf Kamtschatka überwiegend eingesetzten Hubschrauber Mi-8 (ein Flugtag pro Nase kostet diese Saison 42.000 RUB, ca. 600 Euro).
Auf dem Weg sammelten wir noch alle Mitglieder meiner Reisegruppe samt Unmengen von Gepäck ein: Eine 10köpfige Gruppe von Outdoorfreunden aus Moskau und Umgebung, die sich in einem Heim für Schlittenhunde am Stadtrand einquartiert hatten:
sowie sechs Einheimische. Das Team war damit bunt gemischt: Ein Lehrerehepaar, eine Zahnärztin, eine Top-Anwältin aus Moskau mit 9jährigem Sohn, ein Veteran des zweiten Tschetschenienkriegs, eine Kleinunternehmerin mit Sportwarengeschäft, zwei Tänzerinnen am Petropavlovsker Theater usw. Interessante Tage voller Geschichten, russischen Humors und Wodka standen ins Haus! Unser Guide Nadeschda, eine zackige Endfünfzigerin und Direktorin des Petropavlovsker Puppentheaters, hat fast ihr ganzes Leben auf der Halbinsel verbracht und kennt die Wanderpfade und vulkanischen Besonderheiten wie ihre Westentasche.
Von Petropavlovsk ging es nach Jelisowo und auf der einzigen Asphaltüberlandstraße landeinwärts Richtung Milkovo. Im Dorf Sokotschi wurde an der Raststätte der obligatorische Zwischenstopp eingelegt. Bekannt ist Sokotschi nämlich für den Verkauf frittierter mit Kartoffeln, Fleisch, Pilzen, Quark oder Kamtschatka-Beeren gefüllter Hefeteigteile von der Größe einer Bärenpranke.
Köstlich! Mit einem Bier gibt es nichts besseres für einen noch immer nebligen und bei 18 Grad eher frischem Kamtschatka-Sommertag. Wir setzten unsere Fahrt fort und erreichten am Frühnachmittag das Thermalgebiet von Malki, wo wir auf einem überraschend gut frequentierten Zeltplatz unser Lager aufschlugen.
Nadeschda wies in einer Belehrung darauf hin, gerade bei einbrechender Dunkelheit sich wegen der zahlreichen Bären nicht allein vom Lager zu entfernen (auch nicht für den Toilettengang ins Gebüsch) und keinesfalls Lebensmittel im Zelt zu lagern, Nahrungsreste zudem in den nahegelegenen Fluss zu entsorgen.
Den Nachmittag verbrachte ich in einem der großen flachen durch heiße Quellen gespeisten Becken, die den Fluss säumen. Bei fast 50 Grad Wassertemperatur musste man allerdings häufiger zum Abkühlen nach draußen. Ein sehr gemütliches Plätzchen, um mit Leuten ins Gespräch zu kommen.
Nach drei h hatte ich dann genug Wasserkontakt. Im Lager unserer Gruppe köchelte inzwischen die Fischsuppe auf dem Feuer, die ersten Öken mit Hochprozentigem machten die Runde. Immer ein guter Eisbrecher! Es stellte sich heraus, dass die Moskauer Gruppe jedes Jahr zusammen Kajaktouren unternimmt, vor allem in Karelien und im Ural. Dieses Jahr waren alle zum ersten Mal in Kamtschatka.
Noch schwer gejetlaggt und nach einigen Runden Wodka zog ich mich bereits vor Einbruch der Nacht in mein Zelt zurück. Gegen drei Uhr morgens weckten mich detonierende Lärmgranaten und abgeschossene Leichtraketen ca. 100m entfernt am Rand des Zeltplatzes, offenbar waren mehrere Bären unterwegs. Kurz vorm Morgengrauen rannte dann ein Bär ziemlich geräuschvoll an meinem Zelt vorbei Richtung Fluss, 10m entfernt fand ich morgens diese Spur:
Die Bären von Malki gelten als besonders gefährlich, weil sie auf dem Zeltplatz immer genug zu fressen finden und sie sich an die Präsenz von Menschen gewöhnt haben. Wir brachen schon gegen 8h unser Lager ab, ein langer Reisetag in den fernen Süden der Halbinsel stand bevor.