Teil 5: Von Superlativen und Glühwürmchen
Die infernalische Maschine reißt uns aus dem Schlaf. Draußen ist es noch dunkel. Okay, vielleicht sollte ich mal die Augen öffnen. Korrigiere, draußen ist es schon hell. Zwei weiße Elefanten aus gefalteten Handtüchern starren mich an. Fehlt nur noch Grace Slick, die mir von einem weißen Hasen ins Ohr säuselt. Erst einmal unter die Dusche - heiß, nicht kalt. Nach dem Frühstück (der Vollständigkeit halber: es gab keine Croissants; dafür aber einen Entsafter, mittels dessen sich jeder Gast aus Ananas, Ingwer, Karotte und Sellerie einen morgendlichen Muntermacher zaubern konnte) satteln wir unseren roten Hengst, der auf den Namen Holden hört, und reiten gen Invercargill. Google Maps sagt 180 Kilometer, ich sage schon lange nichts mehr. Plötzlich findet unsere Fahrt ein jähes Ende. Schafe. Sehr - viele - Schafe. Mitten auf der Straße. Langsam passieren wir die Herde, winken den Viehzüchtern auf ihren Quads und ich fühle mich erneut bestätigt, hier gibt es mehr von Shreks Gefährten als Einwohner.
Wir erreichen unsere erste Etappe. Invercargill ist die westlichste und zugleich südlichste Stadt Neuseelands. An der Stelle, an der State Highway 6 und State Highway 1 aufeinandertreffen, steht das South African War Memorial, welches an die Gefallenen des Burenkriegs erinnert. Wir schlendern ein wenig durch die Stadt, bis uns schon von weitem die grünen Markisen auffallen und uns die allseits bekannte Nixe entgegenstrahlt. Sofort verfallen wir ihrem betörenden Ruf wie seinerzeit Seeleute den Sirenen:
Kaffee,
Kaffee. Warum auch nicht. Allerdings sollte, nein, muss man diesen Augenblick entsprechend zelebrieren, denn schließlich sitzen wir ja nicht in irgendeinem Ableger der Kaffeekette aus Seattle. Tassensammler hätten ihre wahre Freude. Paging John_Rebus.
Es geht weiter auf dem State Highway 1 Richtung Süden. Das Örtchen Bluff mit seinen gut 2000 Einwohnern ist die südlichste Ortschaft der Insel und bekannt für seine Austern. Wir aber wollen zum Stirling Point, dem Endpunkt der mit 2047 Kilometern längsten Straße Neuseelands sowie dem östlichsten Punkt der kleinen Ortschaft. Dort, wo sich Possum und Kaninchen gute Nacht sagen, bewacht ein Leuchtfeuer die Einfahrt zum Naturhafen zwischen Bluff und der gegenüberliegenden Landzunge. Auf dieser befindet sich Neuseelands einzige Aluminiumschmelze, die mit 99,98 Prozent das reinste Aluminium der Welt produziert.
Anschließend geht es hoch zum Bluff Hill Lookout. Von dort gewinnt man einen schönen Überblick über die kleine Halbinsel mit Bluff Island Harbour und der Landzunge samt Tiwai Point Aluminiumschmelze.
Auf dem Rückweg fahren wir an etlichen alten Gemäuern an der Gore Street sowie dem Island Harbour vorbei. Ziel des Unterfangens: Fowler Oysters, ein kleiner Laden am Ortseingang. Hier soll es die besten Austern Neuseelands geben. Sagt die Dame vom Hotel. Von außen macht der Laden nicht viel her; und drinnen ist nicht viel zu sehen. Um das Ganze etwas zu präzisieren, wir blicken auf eine leere Theke und einen leeren Kühlschrank. Alles ausverkauft. Wie war das doch gleich mit dem frühen Vogel und dem Wurm? Ach ja, der muss dem Angler schmecken, nicht dem Fisch. Oder so ähnlich.
Letzte Station für heute: Estuary Trail. Den Bluff Highway (State Highway 1) nach Norden fahrend, machen wir auf Höhe der Kew Road einen Stopp. Von hier geht's zu Fuß weiter. Über die Straße liegt die Pleasure Bay Lagune, wo ein 4,7 Kilometer langer Fußweg (der Informatiker würde sogar von Zyklus sprechen) eine schöne Aussicht auf Lagune und Flussmündung bietet. Es gibt ein paar Verzweigungen und Brücken, allerdings fehlt mir gerade die Muse über Euler- und Hamiltonkreise nachzudenken. Das macht sonst der Monty, also der Teddy, aber der ist im Augenblick indisponiert.
Es ist bereits spät und in Invercargill entdecken wir ein Restaurant, das dem Namen (und der Karte nach) einem Bruder unseres gestrigen Inders gehören muss. Nichts spricht dagegen. Die Currys waren geschmacklich sehr gut und auf der Karte stehen noch etliche Lammgerichte, die entdeckt werden wollen. Wir ordern Samosas, Garnelen und zwei unterschiedliche Lammcurrys. Auch heute werden wir nicht enttäuscht und treten gesättigt die lange Heimreise nach Queenstown an. Google Maps sagt..., ach, was interessieren mich um diese Uhrzeit Graphentheorie und Dijkstra. Bei 180 Kilometern Strecke und Höchstgeschwindigkeiten von 100 km/h, multipliziert mit einem Straßenqualitätsfaktor (>> 1 für Neuseeland; wobei 1 perfekt bedeutet), kann die versierte Leserin das leicht selbst eruieren.
Wir erreichen die Peninsula Road. Haben wir gestern noch im Doppelbäumchen genächtigt, so verbringen wir die kommenden Tage im Hilton Queenstown Resort & Spa. Unsere Koffer wurden bereits auf das neue Zimmer umgezogen. Untergebracht sind wir (dem Front Desk sei Dank) in einer Suite, die neben dem Blick auf den Lake Wakatipu insbesondere mit einem Kaminzimmer aufwartet. An kalten Winterabenden wie diesem lässt es sich hier herrlich aushalten und Pläne für den nächsten Tag schmieden. Gerne würden wir in den Fiordland-Nationalpark zum Milford Sund fahren, aber 3,5 Stunden Fahrt (einfach) sind dann doch ein wenig zu viel.
'Schatz, lies mir bitte noch mal von den Glühwürmchen vor.' Nein, dabei handelt es sich nicht um eine Gute-Nacht-Geschichte der Gebrüder Jacob und Wilhelm.
Holden, unser roter Hengst, wirkt von den gestrigen Strapazen erholt und für den nächsten Ausritt bereit. Die Kinder wollten unbedingt zu den Glühwürmchenhöhlen, also hieß das Ziel Te Anau. Google Maps sagt 164 Kilometer, ich sage, wenn's denn sein muss. In den nächsten zweieinhalb Stunden geht's erst einmal auf dem Highway 6 wieder Richtung Invercargill, bevor wir am Five Rivers Cafe scharf rechts abbiegen und entlang der State Highways 97, 94 und 95 (in dieser Reihenfolge) bis zum Lake Te Anau fahren, dem größten See der Südinsel und nach Lake Taupo dem zweitgrößten See Neuseelands. Der Name kommt übrigens vom maorischen
Te Ana-au und bedeutet in etwa 'Höhle des wirbelnden Wassers'.
Bei Real Journeys holen wir unsere Tickets für die Glühwürmchenhöhlen, ein zirka 135-minütiger Ausflug zu Wasser und zu Land. Per Boot schippern wir zunächst nördlich über den Lake Te Anau, der heute so gar nichts 'Wirbelndes' an sich hat und stattdessen mit spektakulären Motiven aufwartet. Allein dafür hat sich der Ausflug schon gelohnt. Die filmbegeisterte Leserin dürfte bereits antizipieren, dass Regisseur Jackson die Gegend um Te Anau als bildgewaltige Kulisse für seinen Herrn der Ringe inszeniert hat.
Die Bootstour endet am Cavern House, von wo wir zu Fuß das 12.000 Jahre alte Höhlensystem im Kalkstein erkunden. Dort unten leben sie, die geheimnisvollen Glühwürmchen. Eigentlich handelt es sich dabei um biolumineszente Larven der in Neuseeland endemischen Langhornmücke. Die Larven spinnen bis zu 40 Zentimeter lange, klebrige Fangfäden, die von der Decke hängen. Durch bläuliches Leuchten versuchen sie, Beute in diese Fangfäden zu locken. Dabei leuchtet eine Larve desto heller, je mehr Hunger sie hat. Meist in gebückter Haltung dringen wir immer tiefer in das Höhlensystem vor. Vorbei an rauschenden Wasserfällen erreichen wir schließlich ein kleines Boot, das von unserem Guide per Hand über den unterirdischen See gezogen wird. Das wenige Licht erlischt und es herrscht absolute Dunkelheit. Die Gruppe legt kollektiv den Kopf in den Nacken und über uns erscheint ein Sternenhimmel ohne Sterne. Leider war es nicht gestattet, dort unten zu fotografieren, sodass ich hier (ausnahmsweise) auf externes Material verlinken muss.
Quelle: http://southlandnz.com
Quelle: http://www.queenstown.com
Wieder an der Oberfläche werden wir im Cavern House noch mit allerlei Wissenswertem über die Glühwürmchen versorgt. Dann bringt uns das Boot zurück nach Te Anau. Inspiriert von den Larven, habe ich das Gefühl, nun selbst grell zu leuchten. Was soll mir das sagen? Hunger! Da sich zurzeit nur wenige Touristen in dieses Örtchen verirren, haben die meisten Restaurants geschlossen. Es gäbe einen Inder, aber wir verspüren keine Lust auf das Triple. 'The Ranch' gegenüber sieht viel versprechend aus. Wir bestellen Chowder und gegrillte Lammsteaks bei einer Bedienung aus Berlin. Man könnte jetzt wieder argumentieren, wie klein die Welt doch ist. Und nach Stanley Milgram sind wir vermutlich über 6,6 Ecken sowieso miteinander bekannt. Ach, wie klein ist doch die Welt.
Nun, wer hinfährt, muss auch wieder zurück fahren - altes neuseeländisches Sprichwort (Anm. d. Redaktion: das hat sich der Autor wohl selbst ausgedacht). 164 Kilometer sagt Google Maps. Danke. Langsam legt auch die Sonne ihr müdes Haupt auf den Alpen danieder und beschert uns einen wunderbaren Abschluss dieses schönen Tages, den wir nur allzu gerne für die Nachwelt auf Speicherkarte festhalten.
Los, Holden! Wir geben unserem roten Hengst die Sporen. Nach einem anstrengenden Galopp erreichen wir Queenstown. Bar, Bad, Bett. Im Dunkel des Zimmers sehe ich plötzlich verschwommen ein blaues Leuchten. Träume ich? Ist das etwa ein Glühwürmchen? Alter, setz endlich deine Brille auf. Es ist nur mein Handy, das mir mitteilen möchte, der Akku wäre nun voll. Gute Nacht.