V. Exkurs: Die Flugvorverlegung („Verfrühung“)20aDie höchstrichterliche Rspr. hatte noch keine Gelegenheit, die für der Praxis wichtige Frage zu entscheiden, ob auch eine dem Fluggast mitgeteilte (große) Vorverlegung des Fluges („Verfrühung“) mit der Folge, dass die Fluggäste den Flug nicht wahrnehmen können, als eine „umgekehrte Verspätung“ zu behandeln und somit von der Verordnung erfasst ist (dazu → Art. 2 Rn. 38). Das Ziel der Verordnung, den Schaden auszugleichen, der durch einen Zeitverlust entsteht, könnte nämlich auch dann berührt sein, wenn der Fluggast früher ankommen würde und so seine zeitliche Disposition vor dem Flug eingeschränkt ist. Das LG Hannover hat diese Frage dem EuGH mit Beschl. v. 28.1.2014, eingereicht am 14.2.2014 (ABl. C 142 12.5.2014), zur Vorabentscheidung vorgelegt (→ Rn. 20a.1). Die als Rs. C-79/14 – Walther/TUIfly eingetragene Rs. wurde aber am 19.6.2014 wieder aus dem Register gestrichen (ECLI:EU:C:2014:2074).
20a.1Die Vorlagefragen lauteten:
- 1.Ist Art. 7 dahingehend auszulegen, dass auch eine nicht mitgeteilte „Verfrühung“ des Fluges mit der Folge, dass die Fluggäste den Flug nicht wahrnehmen können, von der Verordnung erfasst ist?
- 2.Ist die Verordnung so auszulegen, dass es hinsichtlich der Ursache – mit Ausnahme von Art. 5 – nicht entscheidend ist, worauf die Verspätung beruht?
- 3.Ist das Ziel der Verordnung, nämlich Schaden auszugleichen, der durch einen Zeitverlust entsteht, auch dann berührt, wenn der Fluggast früher ankommen würde und so eine Zeitdisposition vor dem Flugbetroffen ist?
- 4.Führt die fehlende Mitteilung der Vorverlegung des Fluges, zu dessen Folge der Urlaubsort später als geplant erreicht wurde, zur Anwendung der Verordnung?
- 5.Soll Ziel der Verordnung ein hohes Schutzniveau sein mit der Folge, dass die Einschränkung der zeitlichen Disposition des Fluggastes geschützt ist? Auch bezüglich einer Verfrühung?
20bDas AG Bremen (24.7.2015 – 25 C 41/15, ECLI
E:AGHB1:2015:0724.25C41.15.0A, BeckRS 2015, 13528) beurteilt die mehrstündige Vorverlegung eines Fluges durch das Luftverkehrsunternehmen als eine – mit dem Angebot einer anderweitigen Beförderung verbundene – Annullierung des Fluges, die einen Ausgleichsanspruch nach Art. 7 Abs. 1 begründen kann. Dagegen hat das AG Hannover (3.12.2015 – 561 C 3773/13) entschieden, dass ein Ausgleichsanspruch des Fluggastes nach einer Vorverlegung der Abflugzeit ausscheidet, wenn das Endziel nicht nach, sondern vor der vom Luftfahrtunternehmen ursprünglich geplanten Ankunftszeit erreicht wird. Nach Auffassung des Gerichts liegt keine Annullierung vor, da diese nach der Sturgeon-Entscheidung des EuGH (ECLI:EU:C:2009:716, NJW 2010, 43 Rn. 33 f. = RRa 2009, 282) die Nichtdurchführung des geplanten Fluges, für den zumindest ein Platz reserviert war, voraussetze. Nur wenn der Flug entgegen der ursprünglichen Flugplanung aufgegeben werde, komme eine Annullierung in Betracht. Der von dem AG Hannover (3.12.2015 – 561 C 3773/13) zu beurteilende Flug war jedoch durchgeführt worden.
20cWenn aber ein Luftfahrtunternehmen einen geplanten Flug aufgibt (er also nicht stattfindet) und der Fluggast auf einem anderen, ebenfalls geplanten Flug befördert wird, der früher als der ursprünglich gebuchte abfliegt, ist eine Annullierung gegeben (AG Düsseldorf 14.8.2014 – 231 C 1544/14, BeckRS 2015, 05124 = RRa 2015, 29).
20dDenkbar wäre aber, die mehrstündige Flugvorverlegung als umgekehrte Verspätung eines Fluges zu werten und Art. 6 analog anzuwenden (so zB BG HS Wien (22.8.2018 – 21 C 444/17y nrk). Das AG Hannover (3.12.2015 – 561 C 3773/13) hat entschieden, dass kein Raum für eine Analogie besteht. Die Verlegung auf einen früheren Zeitpunkt sei der Situation einer Verspätung oder Annullierung nicht vergleichbar, da bei einer Vorverlegung die Passagiere typischerweise nicht vor dem Problem stünden, einerseits für die Zeit bis zu einem möglichen späteren Flugeine Unterkunft zu finden oder andererseits Folgetermine zu verpassen. Ebenso bestehe keine Ungewissheit über die tatsächliche Beförderung. Dieses Urteil wurde vom LG Hannover (4.6.2014 – 6 S 4/14, BeckRS 2015, 03100) bestätigt: Eine Annullierung liegt danach nicht vor und eine Ausdehnung des Anwendungsbereichs der Verordnung (Analogie zu Art. 6) kommt nicht in Betracht (→ Rn. 20d.1).
20d.1Das Landgericht hat in der Entscheidung unter Rn. 15 folgendes ausgeführt: „Eine Vorverlegung eines Fluges ist schon dem Wortlaut nach keine Annullierung im Sinne von Art. 5 Abs. 1 lit. c VO. Zwar hat der Europäische Gerichtshof im Wege der Analogie die deutliche Verspätung eines Fluges – hierfür genügen 3 Stunden – einer Annullierung gleichgestellt (vgl. EuGH 19.11.2009 – C-402/07). Allerdings gibt es keine Veranlassung, im Wege einer doppelten Analogie eine deutliche Vorverlegung des Fluges – hier immerhin von 9 Stunden – wie eine Verspätung zu behandeln und damit einer Annullierung gleichzustellen. Zum einen fehlt es an einer planwidrigen Regelungslücke, denn der Verordnungsgeber hat eine Entschädigung ausdrücklich nur im Fall einer Annullierung vorgesehen. Zudem gilt die Verordnung ihrem Namen nach ohnehin nur „im Fall der Nichtbeförderung und der Annullierung oder großer Verspätung von Flügen“. Zum anderen wirkt eine Vorverlegung anders als eine Verspätung: während eine Verspätung wie eine Annullierung zu einer Verzögerung des Fluges führt, was eine Gleichbehandlung nach der Ansicht des europäischen Gerichtshofs rechtfertigt, führt eine Vorverlegung zu einer Verfrühung des Fluges, die nicht mit einer Annullierung gleichgesetzt werden kann. Ein Anspruch auf eine Entschädigung gemäß Art. 5 Absatz 1 lit. c iVm Art. 7 Abs. 1 lit. c besteht damit nach Auffassung der Kammer im Fall einer deutlichen Vorverlegung des Fluges nicht.“
20eDer angerufene X. Zivilsenat des BGH hat die Rechtslage in der mündlichen Verhandlung „vorläufig“ dahingehend bewertet, dass „jedenfalls in einer mehr als geringfügigen Vorverlegungeines geplanten Fluges durch ein Luftfahrtunternehmen eine – mit einem Angebot einer anderweitigen Beförderung verbundene – Annullierung liegt, die einem Ausgleichsanspruch nach Art. 7 Abs. 1 begründen kann. (…) Die ursprüngliche Flugplanung wird auch dann aufgegeben, wenn ein Flug um mehrere Stunden „vorverlegt“ wird.“ (s. Pressemitteilung des BGH Nr. 89/2015 v. 9.6.2015). Daraufhin hat die Beklagte nach Schluss der mündlichen Verhandlung den geltend gemachten Anspruch anerkannt; es erging ein Anerkenntnisurteil (BGH 9.6.2015 – X ZR 59/14, BeckRS 2015, 10770 = WM 2015, 1306). Auch das BG HS Wien (22.8.2018 – 21 C 444/17y, BeckRS 2018, 23528 nrk) ist der Ansicht, dass die Vorverlegung eines Fluges um mehrere Stunden keine Annullierung, sondern mit einer Nichtbeförderung vergleichbar ist oder als „spiegelbildlicher“ Tatbestand einer erheblichen Verspätung anzusehen ist und hat dem Fluggast in analoger Anwendung des Art 7 einen Ausgleichsanspruch zugesprochen.
20fDie Bewertung des BGH ist sachgerechter als die Analogie. Ungeklärt ist die Frage, ab welcher Zeit ein vorverlegter Flug zu einer Ausgleichsleistung berechtigt, dh wann eine „mehr als geringfügige“ Vorverlegung angenommen werden kann. Auch wenn man die „Verfrühung“ eines Fluges nicht als „umgekehrte Verspätung“ betrachtet, darf nicht übersehen werden, dass durch die Vorverlegung eines Fluges (ebenso wie bei der großen Verspätung) ein massiver Eingriff in das Recht eines Menschen, seine eigenen Angelegenheiten frei und ohne die Einmischung von anderen zu regeln, vorliegt. Dies ist sogar mehr als die bloße Unannehmlichkeit durch die Verlängerung der Reisezeit, die dem Fluggast bei einer Verspätung entsteht. Daher liegt es nahe, in Anlehnung an das Sturgeon-Urteil des EuGH (→ Rn. 20b) die Grenze ebenfalls bei drei und mehr Stunden zu ziehen.